Neunter Auftritt.

[58] Leonore, Rosalie zu ihrer Linken. Dann Claudias Stimme.

Leonore und Rosalie sitzen am Mitteltisch und bringen Kräuter in Pakete.


BEIDE.

Zwei Mädchen saßen manche Nacht

Und harrten ihrer Ritter;

Man gab auf sie sehr sorgsam acht,

Ihr Fenster wahrt' ein Gitter.

Sie saßen da und seufzten schwer:

Ach! – Ach! – Ach! – Ach!

LEONORE.

Schwester, sieh doch hin und her,

Und sprich: kommt er?

ROSALIE steht auf, sieht zur Mittelthür hinaus und setzt sich dann wieder.

Nein, Schwester, es ist alles leer!

BEIDE.

Der ungetreue Ritter!

Einst saßen sie und grämten sich

Beim schrecklichen Gewitter;

Die Winde brausten fürchterlich,

Es rasselte am Gitter.

Heut', dachten sie, kommt er wohl nicht:

Ach! – Ach! – Ach! – Ach!

LEONORE.

Schwester, komm', lösch' aus das Licht!

Heut' kommt er nicht!

ROSALIE.

So schonte er wohl sein Gesicht?

BEIDE.

Der weichlich-edle Ritter!

Bald hörten sie, trotz Sturm und Wind,

Den Klang von einer Zither,

Und eine Stimm': »Ich komme, Kind!«

Sie liefen schnell ans Gitter,

Und sahn und horchten, was geschah:

Ach! – Ach! – Ach! – Ach!

LEONORE.

Schwester, sieh doch, wer wohl da?

Es kommt ganz nah![59]

ROSALIE.

Ha, Schwester, frisch, er ist es ja!

BEIDE.

Der liebe mut'ge Ritter!

Nun brach man schnell, trotz Sturm und Graus,

Entzwei das Fenstergitter,

Drauf löschte man die Lichter aus,

Und zog herein den Ritter.

Ein heißer Kuß erfolgte dann:

Ach! – Ach! – Ach! – Ach!

LEONORE.

Schwester, was doch wohl ein Mann

Nicht wagen kann!

ROSALIE.

Ja, was fing' wohl ein Mädchen an?

BEIDE.

Gäb' es nicht mut'ge Ritter!

LEONORE spricht. Meinst du nicht auch, Salchen, daß die Mädchen vormals, da die Männer noch etwas für sie wagten, glücklicher waren als jetzt? Es bricht jetzt keiner mehr ein Gitter aus und befreit sein Mädchen.

ROSALIE. Dafür, Liebe, haben sie aber jetzt weichere Hände.

LEONORE. Weniger weichlich wäre besser! Sieh, mein Gotthold würde dann nicht so gleichgültig und gelassen zusehen, daß man mich einem andern an den Hals wirft. Ach, was bist du glücklicher gegen mich!

ROSALIE. Doch nur verhältnismäßig.

LEONORE. Was willst du denn mehr? Dein Liebhaber sucht dich doch zu sprechen, scheut weder Zeit noch Ort, aber der meine! Ach, du bist wirklich viel glücklicher!

CLAUDIA rechts innen. He! Leonore! Warum gehst du nicht schlafen?

LEONORE leise zu Rosalie. Die schläft wahrhaftig noch nicht. Laut, indem sie aufsteht, gegen die Thür rechts. Der Vater hat mir ja befohlen, erst die Kräuter in Pakete zu bringen.

CLAUDIA rechts innen. Das kann Rosalie thun. Du mußt morgen munter sein, weil du heiratest, mithin leg' dich beizeiten zu Bett.

LEONORE leise. Deshalb wollt' ich mich lieber mein Lebtage nicht mehr niederlegen.

ROSALIE leise. Du mußt doch gehen, sonst kommt sie noch heraus.[60]

CLAUDIA rechts innen. Nun? Wie wird's? Antwortest du nicht?

LEONORE laut gegen die Thür rechts. Ich gehe schon! Gute Nacht, Salchen! Leise zu Rosalie. Ach, was bist du glücklich!

ROSALIE ebenso. Laß es gut sein, Liebe. Vielleicht geht es noch besser als du denkst.

LEONORE leise. Ich sehe es nicht ab. Ja, wenn mein Liebhaber soviel Herz hätte als der deinige!

ROSALIE steht auf, leise. Geh, geh, sonst kommt deine Mutter.

LEONORE. Ach! Sie geht langsam ab durch die Mitte.


Quelle:
Karl Ditters von Dittersdorf: Doktor und Apotheker. Dichtung von Stephanie dem Jüngeren, Leipzig [o. J.], S. 58-61.
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