Dreiundneunzigstes Kapitel.

[259] Bruder Toby, – wenn ich den Menschen betrachte und die dunkle Seite seines Wesens ins Auge fasse, wie vielen Anlässen zu Noth und Unruhe sein Leben preisgegeben ist; – wenn ich bedenke, Bruder Toby, daß wir das Brod der Trübsal essen, welches uns durch unsere Geburt als Erbtheil bestimmt ward – Mir ward kein Erbtheil bestimmt, unterbrach mein Onkel Toby meinen Vater, als meine Offizierstelle. – Potz tausend! rief mein Vater, hinterließ Dir mein Onkel nicht eine Rente von 120 Pfund im Jahr? – Was hätte ich auch anfangen sollen, wenn ich die nicht gehabt hätte, erwiderte mein Onkel Toby. – Das ist[259] etwas Anderes, sagte mein Vater verdrießlich. – Aber ich sage, Toby, wenn man so das ganze Register der schlimmen Posten und der leidigen item's durchläuft, die des Menschen Herz belasten, so ist es unbegreiflich, was für verborgene Hülfsmittel die Seele findet, darüber hinwegzukommen und sich unter den Beschwerden, welche die Natur über sie häuft, aufrecht zu erhalten. – Das ist des allmächtigen Gottes Beistand, rief mein Onkel Toby und sah mit gefaltenen Händen empor, nicht unsere eigene Kraft, Bruder Toby; ebenso gut könnte es eine Schildwache in einem hölzernen Schilderhause mit einem Detachement von 50 Mann aufnehmen wollen. Was uns aufrecht erhält, ist die Gnade und der Beistand des allgütigen Gottes.

So haut man den Knoten durch, ohne ihn zu lösen, sagte mein Vater. Aber laß mich, Bruder Toby, Dich etwas tiefer in dies Geheimniß einführen.

Von Herzen gern, erwiederte mein Onkel Toby.

Sogleich veränderte mein Vater seine Stellung, indem er die annahm, in welcher Rafael, in seiner Schule von Athen, den Sokrates gemalt hat, – eine Stellung, die, wie Sie als Kenner wissen werden, so vortrefflich erfunden ist, daß sie selbst die dem Sokrates eigenthümliche Beweisführung ausdrückt, denn er hält den Zeigefinger seiner linken Hand zwischen dem Zeigefinger und dem Daumen seiner rechten, so daß es scheint, als ob er zu dem vor ihm stehenden Zweifler spräche: Du giebst also das zu, – und das, – nun weiter brauche ich nicht zu fragen, denn das und das folgt ganz von selbst daraus.

So stand mein Vater da, den Zeigefinger fest zwischen Zeigefinger und Daumen gepreßt, und argumentirte meinem Onkel Toby vor, der ruhig in dem alten, mit bunten wollenen Fransen beschlagenen Polsterstuhle saß. – O Garrick! was für eine herrliche Scene würde dein unvergleichliches Talent daraus gemacht haben! Wie gern möcht' ich darin deiner Unsterblichkeit nachstreben und so die meine sichern!

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 1, Leipzig, Wien [o. J.], S. 259-260.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman
Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman: (Reihe Reclam)
Tristram Shandy
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)
Leben und Meinungen von Tristram Shandy Gentleman (insel taschenbuch)