Zweiundsechzigstes Kapitel.

[178] »Alles in Allem sind's zwei Stunden zehn Minuten«, rief mein Vater und sah nach der Uhr, »seitdem Dr. Slop und Obadiah angekommen sind, aber ich weiß nicht, wie's zugeht, Bruder Toby, mir scheint's eine Ewigkeit!«

Hier, Sir, bitte ich, nehmen Sie meine Kappe sammt dem Glöckchen, das daran hängt, und die Pantoffeln auch. –

Es steht Alles zu Ihren Diensten, Sir; ich mache Ihnen ein Geschenk damit, aber unter der Bedingung, daß Sie jetzt recht Achtung geben.

Obgleich mein Vater sagte: »er wüßte nicht, wie es zugehe«, so wußte er es sehr gut, und in demselben Augenblicke, wo er es[178] sagte, hatte er bereits bei sich beschlossen, meinem Onkel Toby die Sache durch eine metaphysische Abhandlung über die Zeitdauer und ihre Bestandtheile klar zu machen, um ihm zu zeigen, durch welchen Mechanismus und Messungsmodus im Gehirn es gekommen sei, daß die schnelle Aufeinanderfolge ihrer Gedanken seit Dr. Slops Eintritt, und das fortwährende Springen der Unterhaltung von einem Gegenstande zum andern, eine verhältnißmäßig so kurze Zeit über alle Begriffe ausgedehnt habe.

Ich weiß nicht, wie es zugeht, rief mein Vater, aber mir scheint's eine Ewigkeit!

Das kommt einzig und allein, sagte mein Onkel Toby, von der Aufeinanderfolge der Ideen.

Mein Vater, der wie alle Philosophen den Tick hatte, über Alles, was ihm aufstieß, seine tiefsinnigen Gedanken zu äußern, und der sich gerade von diesem Thema »über die Aufeinanderfolge der Ideen« ein unendliches Vergnügen versprochen hatte, war nicht im Geringsten darauf vorbereitet, daß mein Onkel Toby (diese ehrliche Seele), der, was ihm begegnete, ruhig gehen ließ, dieses Thema ihm aus der Hand nehmen würde. Denn es gab wohl nichts in der Welt, womit mein Onkel sein Gehirn weniger zu plagen pflegte als mit abstrusem Denken; die Begriffe von Zeit und Raum, – oder woher uns diese Begriffe gekommen seien, – oder welchen Inhalt sie hätten, – oder ob sie uns angeboren wären, – oder ob wir sie später gefaßt hätten, – ob im Kinderkleide oder in der toga virilis, d.h. in der Mannshose – nebst tausend andern Fragen und Streitfragen über Unendlichkeit, Vorbestimmung, Freiheit, Nothwendigkeit u.s.w., über welche verzweifelte und unlösbare Theoreme schon so viele feine Köpfe sich verwirrt haben und zu Grunde gegangen sind, alles das machte meinem Onkel Toby nicht die geringste Sorge; mein Vater wußte das und war deshalb über meines Onkels zufällige Lösung ebenso erstaunt, als er unangenehm davon berührt war.

Verstehst Du auch, wie das zugeht? erwiederte mein Vater.[179]

Nicht im Geringsten, sagte mein Onkel Toby.

Aber Du mußt Dir doch irgend etwas dabei denken? frug mein Vater.

Nicht mehr, erwiederte mein Onkel Toby, als mein Gaul.

Allmächtiger Gott! rief mein Vater und sah dabei gen Himmel, indem er die Hände zusammenschlug, Deine offen bekannte Unwissenheit hat so etwas Würdevolles, Bruder Toby, daß es Einem fast leid thut, sie durch bessere Einsicht zu verdrängen. Aber laß Dir sagen.

Um richtig zu begreifen, was Zeit ist, da wir sonst nicht begreifen können, was Ewigkeit ist, indem die eine nur einen Theil der andern ausmacht, müssen wir ernstlich in Betracht ziehen, was für einen Begriff wir von der Dauer haben, so daß wir genügende Rechenschaft davon geben können, wie wir zu diesem Begriffe gekommen sind. – Wozu hilft das? fragte mein Onkel Toby.1 »Denn wenn Du«, fuhr mein Vater fort, »den Blick auf Deinen Geist richtest, und genau Acht giebst, so wirst Du bemerken, Bruder, daß, während wir, ich und Du, mit einander plaudern und denken und unsere Pfeife rauchen, oder nach einander Vorstellungen in unsern Geist aufnehmen, wir das Bewußtsein haben, daß wir sind; und so gilt uns die Existenz oder Fortexistenz unseres Selbst oder jedes anderen Dinges, gemessen an der Aufeinanderfolge der Ideen in unserm Geiste, als die Dauer unseres Selbst oder jedes anderen mit unserm Denken koexistirenden Dinges« – Du machst mich ganz verwirrt, rief mein Onkel Toby.

Aber wir haben uns leider so daran gewöhnt, fuhr mein Vater fort, die Zeit nach Minuten, Stunden, Wochen und Monaten und vermittels der Uhren (ich wollt', es gäbe im ganzen Lande keine) zu messen, daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Aufeinanderfolge unserer Ideen in künftiger Zeit von gar keinem Nutzen oder Betracht mehr für uns sein wird.

In dem Kopfe jedes gesunden Menschen, fuhr mein Vater fort, findet auf die eine oder andere Weise, mag nun der Betreffende[180] sich dessen bewußt werden oder nicht, eine regelmäßige Folge von Ideen statt, von denen immer die eine die andere ablöst, wie – Wie eine Schildwache? sagte mein Onkel Toby. – Wie ein Nachtwächter! rief mein Vater; – von denen immer die eine die andere ablöst und ihr folgt, wie die Bilder in einer Zauberlaterne, die von der Hitze des brennenden Lichtes in Bewegung gesetzt werden. – Mein Kopf ist wie ein Rauchfang, sagte mein Onkel Toby. – Dann, Bruder Toby, habe ich nichts mehr zu sagen, schloß mein Vater.

Fußnoten

1 Siehe Locke.


Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 1, Leipzig, Wien [o. J.], S. 178-181.
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