Achtundachtzigstes Kapitel.

[132] Calais, Calatium, Calusium, Calesium.

Wenn wir den Urkunden dieser Stadt Glauben schenken wollen, die anzuzweifeln ich hier keinen Grund sehe, so war Calais ehemals ein kleines Dorf, welches einem der ersten Grafen von Guignes gehörte, und da es jetzt, außer 420 Familien in der untern oder Vor-Stadt, vierzehntausend Einwohner zählt, so muß es wahrscheinlich nach und nach zu seiner jetzigen Größe herangewachsen sein.

Obgleich die Stadt vier Klöster in ihren Mauern birgt, so hat sie doch nur eine einzige Parochialkirche. Ich hatte keine Gelegenheit, die genaue Größe derselben zu messen, doch läßt sie sich mit einiger Gewißheit vermuthen; denn wenn die Kirche sämmtliche 14,000 Einwohner fassen kann, so muß sie von nicht unbeträchtlicher Größe sein; – kann sie das dagegen nicht, so ist es sehr zu bedauern, daß nicht noch eine zweite da ist. – Sie ist in Kreuzform gebaut und der Jungfrau Maria geweiht. Der Thurm, der eine Spitze hat, befindet sich in der Mitte der Kirche und steht auf vier Pfeilern, die zwar zierlich und leicht, nichtsdestoweniger aber sehr stark sind. Sie ist mit elf Altären geschmückt, von denen einige sich durch besondere Schönheit auszeichnen. Der Hauptaltar ist ein Meisterstück in seiner Art; er ist aus weißem Marmor und soll sechzig Fuß hoch sein. Wäre er noch viel höher, so würde er so hoch wie der Calvarienberg selbst sein; deshalb nehme ich an, daß er wahrhaftig hoch genug ist.

Nichts hat mich mehr in Erstaunen gesetzt, als der große Platz, obgleich ich nicht sagen könnte, daß er gut gepflastert oder mit schönen Gebäuden besetzt wäre, aber er liegt mitten in der[132] Stadt und viele Straßen jener Gegend münden auf ihn. Da einen Platz nichts so sehr ziert als ein Springbrunnen, so würden die Einwohner ohne Zweifel einen solchen in der Mitte angebracht haben, wenn dies nicht leider hier, wie überall in Calais, unmöglich gewesen wäre.

Man hatte mir viel vom Courgain gesagt, aber daran ist nichts Sehenswerthes; es ist ein entferntes Stadtviertel, das hauptsächlich von Matrosen und Fischern bewohnt wird, und aus einer Anzahl kleiner Straßen mit saubern, größtentheils steinernen Häusern besteht. Es ist außerordentlich volkreich, aber da sich das ganz natürlich aus der Lebensweise der Leute erklären läßt, so ist auch das nichts Merkwürdiges. Ein Reisender mag es sich immer ansehen, um es gesehen zu haben; was er aber zu sehen ja nicht versäumen darf, das ist der Wartthurm (tour de guet), welcher im Kriege dazu dient, die Annäherung des Feindes zu Wasser oder zu Lande zu erspähen und zu beobachten; er ist so erstaunlich hoch, daß er einem immer im Auge ist, man mag ihn sehen wollen oder nicht.

Außerordentlich leid hat es mir gethan, daß ich nicht die Erlaubniß erhalten konnte, die Befestigungen genauer zu besichtigen, die die stärksten in der Welt sind. Alles in Allem, d.h. von der Zeit, da sie unter Philipp von Frankreich, Grafen von Boulogne, zuerst angelegt wurden, bis zu dem gegenwärtigen Kriege, wo viele Verbesserungen daran gemacht worden sind, haben sie, wie ich erst später von einem Ingenieur in der Gascogne erfuhr, hundert Millionen Livres gekostet. – Es ist sehr merkwürdig, daß man am tête de Gravelines und da, wo die Stadt am schwächsten ist, das meiste Geld verschwendet hat, so daß die Außenwerke sich sehr weit ausdehnen und demzufolge einen großen Raum einnehmen. Trotz Allem, was gesagt und gethan worden ist, muß man doch eingestehen, daß Calais nie seiner selbst wegen so wichtig war, als wegen seiner Lage; es war für unsere Vorfahren ein bequemes Eingangsthor nach Frankreich, hatte jedoch auch seine Unbequemlichkeit, denn es war für das damalige England nicht minder beunruhigend, als Dünkirchen für das England unserer Zeit, so daß es mit Recht für den[133] Schlüssel zu beiden Königreichen galt. Daraus entstanden zweifelsohne die vielfachen Kämpfe um seinen Besitz, von denen die Belagerung oder eigentlicher die Blokade von Calais (denn es wurde zu Land und zur See eingeschlossen) der denkwürdigste war, denn die Stadt widerstand den Anstrengungen Eduards III. ein ganzes Jahr und wurde zuletzt nur durch Hungersnoth und schreckliches Elend überwunden; der ritterliche Edelmuth Eustace de St. Pierre's, der sich zuerst als Opfer für seine Mitbürger anbot, hat seinen Namen dem der tapfersten Helden gleichgestellt. Da der ausführliche Bericht über diesen höchst romantischen Hergang, sowie über die Belagerung selbst nicht mehr als ohngefähr fünfzig Seiten einnehmen wird, so wäre es ungerecht gegen den Leser, wenn ich ihn nicht in Rapins eigenen Worten geben wollte.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 2, Leipzig, Wien [o. J.], S. 132-134.
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