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[274] Wenn Jemand zum ersten Mal von London nach Edinburg reist, was ist da natürlicher, als daß er sich vor der Abreise erkundigt, wie viel Meilen er bis York zu fahren hat? (ohngefähr der Hälfte des Weges;) auch wird sich Niemand wundern, wenn ein solcher sich etwas näher über die Stadt, ihre Verfassung u.s.w. zu unterrichten wünscht.
Ebenso natürlich war es, daß Mrs. Wadman, deren erster Mann während ihrer ganzen Ehe an Hüftweh gelitten hatte, zu erfahren wünschte, wie weit es von der Hüfte bis zum Schambein sei, und ob sie in diesem Falle erwarten dürfe, weniger schmerzlich in ihren Gefühlen berührt zu werden, als es in jenem geschehen war.
Sie hatte deshalb Drake's Anatomie von Anfang bis zu Ende durchgelesen. Auch in Whartons Buch über das Gehirn hatte sie geguckt und sich Graaf »Ueber Knochen und Muskeln«1 geliehen; – aber es hatte ihr nichts geholfen –
Sie hatte die Sache dann für sich überlegt – gewisse Sätze aufgestellt, Folgerungen gezogen, war aber zu keinem Schlusse gekommen.[274]
Um ganz klar zu sehen, hatte sie Dr. Slop zweimal gefragt: Ob der arme Kapitän Shandy wohl je von seiner Wunde ganz hergestellt werden würde?
– Er ist hergestellt, hatte Dr. Slop darauf geantwortet.
– Gänzlich?
– Gänzlich, Madame.
– Aber was verstehen Sie unter hergestellt? hatte Mrs. Wadman weiter gefragt.
Da aber Definition des Doktors schwächste Seite war, so erfuhr Mrs. Wadman wieder nichts; so blieb kein anderer Weg, es zu erfahren, als von meinem Onkel Toby selbst.
Es giebt einen Ton menschlicher Theilnahme, mit welchem solche Fragen gemacht werden, der jeden Verdacht einschläfert, und ich bin fest überzeugt, die Schlange bediente sich desselben in ihrer Unterredung mit Eva; denn die Lust, betrogen zu werden, konnte unmöglich so groß in dem Weibe sein, daß sie sonst die Kühnheit gehabt haben würde, mit dem Teufel zu schwatzen. Aber dieser Ton menschlicher Theilnahme – wie soll ich ihn beschreiben, – es ist ein Ton, der die Sache wie mit einem Schleier zudeckt und dem Frager das Recht giebt, so eingehend zu sein wie ein Chirurg.
»– Ob es unaufhörlich weh thäte?« –
»– Ob es erträglicher wäre, wenn er im Bett läge?« –
»– Ob es ihn nicht daran hindere, auf beiden Seiten zu liegen?« –
»– Ob er damit reiten könne?« –
»– Was für eine Bewegung nicht gut dafür wäre?« u.s.w., alles das wurde so zärtlich gefragt, zielte so gerade auf meines Onkel Toby's Herz, daß jede Frage ihm zehnmal wohler that, als das Uebel selbst ihm wehe gethan hatte. Aber als Mrs. Wadman jetzt, um zu meines Onkel Toby's Schambein zu kommen, den Umweg über Namur machte, ihn die Spitze der vorgeschobenen Contrescarpe angreifen und die Contrescarpe von St. Roch, das Schwert in der Hand, mit Hülfe der Holländer, nehmen ließ; – als sie ihn dann, während ihre[275] Stimme süßer in sein Ohr klang, blutend an ihrer Hand aus dem Laufgraben führte, – und ihre Augen trocknete, indeß man ihn nach dem Zelte trug – Himmel! Erde! und Meer! da verging ihm Hören und Sehen, – ihm schwoll das Herz, – ein Engel der Barmherzigkeit saß neben ihm auf dem Sofa; – wie Feuer brannte es ihm in der Brust, und hätte er tausend Herzen gehabt, er hätte sie alle der Wittwe Wadman zu Füßen gelegt.
– Und an welcher Stelle, fragte Mrs. Wadman jetzt etwas bestimmter, bekamen sie den unglücklichen Stoß? – Bei dieser Frage warf sie einen leichten Blick auf meines Onkel Toby's rothplüschene Hosen und erwartete natürlich, daß er als kürzeste Antwort die Stelle mit dem Finger bezeichnen würde. – Aber es kam anders; denn da mein Onkel Toby seine Wunde vor dem St. Nicolas-Thor in einer der Traversen des Laufgrabens erhalten hatte, der dem vorspringenden Winkel der St. Rochusbastion gerade gegenüberlag, so war er allwege im Stande, die Stelle, wo der Stein ihn getroffen, mit einer Nadel zu bezeichnen. Das fiel ihm augenblicklich ein und zugleich der große Plan der Stadt und Festung Namur und ihrer Umgebungen, den er während seiner Krankheit gekauft und mit des Korporals Hülfe aufgeklebt hatte und der seitdem nebst anderem militärischen Kram in der Bodenkammer aufbewahrt worden war; so wurde denn der Korporal in die Bodenkammer abkommandirt, um ihn herbeizuholen.
Mein Onkel maß mit Mrs. Wadmans Schere dreißig Toisen von dem zurückweichenden Winkel vor dem St. Nicolas-Thor ab und legte ihren Finger mit so jungfräulicher Schamhaftigkeit auf die Stelle, daß die Göttin der Keuschheit selbst, im Fall daß sie gegenwärtig war – sonst muß es ihr Schatten gewesen sein, – den Kopf schüttelte und mit dem einen Finger die Augen bedeckend der Aufklärung des Irrthums wehrte.
Unglückliche Mrs. Wadman!
Denn nichts kann diesem Kapitel wieder auf die Beine[276] helfen, als eine Anrufung an Dich; aber mein Herz sagt mir, daß eine Anrufung in einem solchen kritischen Momente nur eine verhüllte Beleidigung ist, und ehe ich einem bekümmerten Weibe dies zufügen wollte, lieber mag das Kapitel zum Teufel gehn – wenn nicht ein verdammter Recensent, den er sich hält, die Mühe übernehmen will, es mitzunehmen.
1 Hier muß sich Mrs. Shandy irren, denn Graaf hat nur ein Buch über den Samen und die Geschlechtstheile geschrieben.
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Tristram Shandy
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