[776] Da am nächsten Morgen die Sonne aufgegangen war, da man das Frühmahl verzehrt hatte, da in einer Zeit darauf der Oheim und Dietwin einen Spaziergang angetreten hatten, und Gerlint auf ihrem schwarzen Pferde rasch in die Felder ritt, ließ die Tante Auguste zu sich in ihr Gemach bitten. Als diese gekommen war, und man zwei Plätze an dem Tische eingenommen hatte, sagte die Tante: »Meine geliebte Auguste, meine Auguste, die mir immer teuer gewesen ist, erfülle mir heute eine Bitte, sei ganz rückhaltlos offen, du tust es zu keinem schlechten Zwecke.«
»Meine geliebte, verehrte Base,« antwortete Auguste, »ich weiß, daß du immer gütig gegen mich gewesen bist, daß du mich ohne mein Verdienst geliebt hast, ich habe es gefühlt, ich habe die Empfindungen der größten Dankbarkeit gegen dich gehegt, und ich habe dich deiner Eigenschaften willen im höchsten Maße verehrt und geliebt. Wenn du mir nun eine Gelegenheit gibst, dir dies alles durch die Tat beweisen zu können, so gewährest du mir ein Glück, für das ich dir wieder dankbar bin. Ich werde dir mit allen meinen Kräften zu Diensten sein, wenn ich es nämlich kann.«
»Vielleicht kannst du es nicht, mein Kind,« sagte die Tante, »vielleicht kannst du es nur wenig, wir wollen es versuchen, höre mich an. Gerlint ist nicht in dem Zustande, in dem sie war, als sie dieses Schloß betreten hatte. Sie ist sehr tätig, oft zu sehr, sie ergreift die fernsten Dinge, belehrt sich über Wirtschaftszweige, wie sonst Männer, kümmert sich um Angelegenheiten mancher Bewohner der Gegend, und ist wieder ernst, als schwiege sie immer, sie macht schnelle Ritte, und von allen, die ihr Aufmerksamkeiten erweisen, kann keiner sagen, daß er einen ermunternden Blick erhalten habe.[776] Du, meine Auguste, hast gewählt, du wirst ein gutes Glück finden, und hast unsern Segen dazu.«
Auguste stand bei diesen Worten auf, und küßte der Tante die Hand.
Diese aber schloß sie in die Arme.
Darauf fuhr die Tante fort: »Mein Bruder und ich haben ber Gerlint gesprochen. Wir möchten gerne helfen, und renn du etwas Genaueres weißt und mitteilen darfst, so age es, und erhöhe die Mittel, wodurch vielleicht zu helfen ist.«
»Meine teure, meine hochgeehrte Base,« sagte Auguste, »Gerlint ist so lieb und so freundlich und so offen mit mir wie eine Schwester, wir teilen unsere Bestrebungen einander mit, wir teilen, was wir in Büchern lesen, wir teilen, was wir empfinden, und es ist nie die Bedingung gestellt worden, daß etwas verschwiegen werde. Ich darf dir also alles sagen, was ich von Gerlint weiß. Aber ich weiß nichts von ihr, als was du, und was der Oheim, und was alle sehen und alle wissen. Ich denke schon einige Zeit, daß Gerlint in einem befangenen Gemütszustande ist; aber nie hat die leiseste Äußerung etwas kundgetan. Als ich einmal von ihren Anbetern sprach, und von den jungen Männern, die das Haus besuchen, und auf eine ferne Verbindung deutete, sah sie mich mit ihren großen Augen ruhig an, und schüttelte später kaum merklich das Haupt. Ich redete nie wieder von dergleichen Dingen. Mir ist, als habe sie einen Wunsch über die Möglichkeit der Erreichung hinaus. Sonst geht sie strenge ihren Geschäften nach, du weißt, wie sie ihre Zeit verwendet, in der sie schreibt, in der wir lesen, in der sie ihren Mädchen die Anweisungen gibt, in der sie nach ihren Blumen sieht, in der sie sich dir und den Angelegenheiten des Gutes hingibt. Selten kommen Nebendinge, daß sie zu einer ungewöhnlichen Zeit lustwandelt, oder, was öfter geschieht, in den Saal geht und das Bild des Oheims betrachtet.[777] Am widrigsten scheinen ihr größere Besuche, die kommen, oder wenn wir solche machen müssen. Das, meine hochverehrte Base, ist alles, was ich weiß.«
»Wir müssen nun in Geduld warten,« sagte die Tante, »was noch wird; sie geradezu fragen, wäre ein Fehler.«
»Tue es nicht, Tante, ich bitte dich, tue es nicht«, sagte Auguste.
»Ich tue es nicht,« antwortete die Tante, »lassen wir die Sache, und stellen wir sie Gott anheim. Wenn ihr unser Beistand nötig sein sollte, wird er nicht fehlen, und du wirst ihr immer eine Freundin sein.«
»Du wirst ihr am besten beistehen, Tante,« sagte Auguste, »alle werden ihr beistehen, und ich bin ihre Freundin und ihre Schwester, wie ihre Seele und ihre Liebe zu mir es verdient.«
»So pflege deines Amtes, du guter Anwalt,« sprach die Tante, »und lasse dich die Zeit nicht gereuen, die du in meinem Hause lebst.«
»Sie ist die schönste meines Daseins«, antwortete Auguste.
»Ich glaube es dir, mein Kind,« sagte die Tante, »jetzt gehe zu deinen Beschäftigungen, von denen ich dich abgehalten habe.«
Beide erhoben sich. Auguste küßte die Hand der Tante, die Tante küßte sie auf die Stirne.
Einen Monat nach diesem Tage kamen der Oheim und die Tante in dem Gemache der letzteren zu einer Beratung zusammen.
»Lieber Bruder,« sagte die Tante, »es muß doch einmal von dem geredet werden, wovon geredet werden muß.«
»So rede, liebe Gerlint,« antwortete der Oheim, »wovon, wie du meinst, geredet werden muß.«
»Mein herzlieber Bruder Dietwin,« sagte die Tante, »mein lieber Bruder, es ist sehr seltsam und sonderbar; aber es ist nicht unerhört; allein es ist auch nicht gewöhnlich,[778] und ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich meine, Gerlint trage eine heimliche Liebe in dem Herzen, und zwar zu dir, mein Bruder.«
»Aber, Gerlint, Gerlint,« antwortete der Oheim, »das wären ja krause Dinge, die da zusammenträfen. Es ist ja fast unglaublich. Hast du denn auch recht bedacht, was du sagst, liebe Schwester? Gerlint, das beginnende, blühende Leben, und ich, der den Jahren zugeht, wo man nicht sich, sondern den Sohn oder die Tochter vermählt. Liebe Schwester, sage, wie wäre denn das möglich?«
»Es ist eine Verirrung der Natur,« sagte die Schwester, »und es ist nicht gewöhnlich, aber es kommt dennoch vor. Gerlint ist jetzt in den Jahren, wo das Herz das Bedürfnis fühlt, die Stütze des Mannes zu suchen, aber ihr Herz ist zu stolz, sich einem Manne gefangen zu geben, der nicht höher steht als sie selbst. Dich verehrt es, und es fällt ihm leicht, sich dir zu unterwerfen. Die eine Liebe, die dir als dem Oheim und zweiten Vater gebührt, besitzest du von jeher; so, in ihrer Hilflosigkeit, gibt sie dir auch noch die andere, halb aus Furcht, ein anderer könnte sie ihr rauben. Es ist eine Verirrung, aber sie kommt zuweilen vor, und bei Gerlint, fürchte ich, ist sie da.«
»Aber woraus erkennst du denn, liebe Schwester, daß sie da ist«, fragte der Oheim.
»So höre mich,« sagte die Tante, »denke an den Brief vor zwei Jahren. Ich bin in der Aufschrift nur die hochverehrte, geliebte Tante, du bist der herzliebe Oheim, in der Unterschrift ist sie die mich liebende und verehrende und mir dankende Gerlint, dir ist sie die in Liebe ergebene Nichte Gerlint. Im Briefe bittet sie den Himmel, daß er dein liebes Haupt segne, und daß er dir gebe, was dir lieb ist. Mir verspricht sie nur, jedes Opfer bringen zu wollen, das mir zur Freude gereichen kann. Zudem sagt sie, daß sie in die Erkenntnis deiner Güte immer mehr[779] hinein wachse, und dir mehr dankt, als sie danken konnte, da sie noch unvernünftig war. Ich habe damals ohne Ahnung schon den Unterschied hervorgehoben, und ich glaube, daß schon damals etwas in ihr war, dem ähnlich, was jetzt in ihr ist. Dann kam sie hieher. Wie sie dir anhing, weißt du, wie sie sich freute, wenn wir uns auf den Weg nach Weiden begaben, weiß ich, daß jetzt etwas in ihrem Herzen ist, können fast alle, die ihr näher sind, bemerken, und Auguste, mit welcher ich vor einiger Zeit von der Sache sprach, hat, wenn sie sich auch scheute, dich zu nennen, doch fast mit Bestimmtheit auf dich hingedeutet. Gerlint ist unstät trotz ihrer Ordnung, sie ist viel ernster, als Mädchen ihres Alters zu sein pflegen, ihre Beschäftigungen führt sie mit einer Art Übertreibung, sie reitet sehr heftig, als triebe sie eine Empfindung, die sie, wie einen unerfüllbaren Wunsch, mit Gewalt unterdrücken möchte, denke, was sie dir für ein kostbares Geschenk zu deinem letzten Geburtstage gab, sie mußte die Ersparungen einiger Jahre darauf verwendet haben, bedenke dann ihren unbegreiflichen Abscheu vor allen jungen Männern, und bedenke endlich, daß sie sehr oft in den großen Saal geht, und lange, lange dein Bild anstarrt.«
Darauf sprach der Oheim: »Ja, es muß von dem geredet werden, wovon geredet werden muß. Höre mich. Unser Neffe Dietwin hat auch eine Liebe im Herzen. Lasse mich zu Ende reden. Er ist ebenfalls unstät, er treibt ebenfalls seine Geschäfte nicht mehr folgerichtig, wie in der ersten Weidenbacher Zeit, er überstürzt alles. Erst ritt er noch viel heftiger als Gerlint, und jetzt fährt er mit seinen Pferden wie verrückt, er hat sich geschlagen, das ist nun wohl sicher, und kein Mensch weiß, weshalb, er haßt die schönsten Mädchen der Welt, und die andern auch, dafür kommt er sehr oft nach Biberau, er hat dir zu deinem letzten Geburtstage das Bild dieses Schlosses[780] gegeben, ein Bild um hohen Preis, das Bild deines Wohnortes, und er geht ebenfalls sehr oft in den Saal von Biberau, und schaut lange, lange dein Bild an.«
Der Oheim schwieg.
Die Tante sprach »Das wäre ja – wenn es wäre – das ist – ich weiß es nicht, sage es mir, das wäre merkwürdig.«
»Ich habe ihn beobachtet, ich bin in dem Saale gewesen, und es ist so«, antwortete der Oheim.
»Ich habe auch Gerlint beobachtet, wie es mir nur möglich war«, sagte die Tante.
»Das ist,« sagte der Oheim, »es kommt zuweilen einmal vor, aber hier zweimal, es wäre, wie du sagst, merkwürdig.«
»Das Herz des Menschen hat oft wunderbare Fügungen«, antwortete die Tante. »Und in unserm Geschlechte ist etwas Stätiges, so daß sich immer alles gleich bleibt, und fast alles sich wiederholt, was schon einmal gewesen ist; und doch ist es bei uns wieder ganz anders als bei andern. Hat nicht Dietwin, der Neffe des Kardinals, der bis in sein zweiunddreißigstes Jahr unvermählt blieb, sich, als er aus Italien zurückkehrte, mit seiner Tante vermählt, die damals gerade um zwei Jahre älter war als ich jetzt. Und es entsproßten dieser Ehe ein Sohn, der sich in den nachmaligen Kriegen so hervortat, und zwei Töchter, von denen die eine zwar als Kind starb, die andere aber ein so hohes Alter erreichte, daß an ihrem letzten Geburtstage, der so wie der unsere in den April fiel, sechsundvierzig Kinder, Enkel und Urenkel um sie versammelt waren.«
»Sie gönnte in der Tat keinem aller jungen Männer einen Blick, und gegen Dietwin war sie beinahe noch mehr zurückhaltend als gegen die andern«, sagte der Oheim.
»Und er wendete an Frauen und Mädchen fast nicht einmal die gewöhnliche Höflichkeit«, sprach die Tante.[781]
»Das muß übrigens viel genauer untersucht werden, liebe Gerlint«, sagte der Oheim.
»Setzen wir die Beobachtungen fort, daß wir zu triftigerer Einsicht gelangen«, sprach die Tante.
»Ich denke, Schwester Gerlint,« sagte der Oheim, »wenn wir etwas täten, das weniger Zeit in Anspruch nimmt«
»Ja,« sprach die Tante, »und was könnte das sein?«
»Ich meine,« sagte der Oheim, »du redest mit Dietwin von seiner einstigen Vermählung, und hörest, was er sagt, und ich tue das gleiche mit Gerlint.«
»Das ist ein schwieriges Gespräch,« antwortete die Tante, »und alles kommt auf die Verfahrungsweise an.«
»Aber wir könnten da einen tieferen Blick tun«, versetzte der Oheim. »Du, liebe Gerlint, wirst die rechte Verfahrungsweise schon finden, und ich werde bestrebt sein, nicht gar weit irre zu gehen.«
»So versuchen wir es in Gottes Namen,« sagte die Tante, »und möge der Himmel seinen Segen geben.«
»So spreche ich auch,« entgegnete der Oheim, »und möchte, daß das Ding vorüber wäre.«
Nach diesen Worten stand er auf, und sagte: »Ich spreche jetzt von andern Angelegenheiten nichts mehr. Wenn eine Entscheidung nötig wird, vereinigen wir uns wieder.«
»Möge es bald sein«, sagte die Tante, und geleitete den scheidenden Bruder bis zur Tür.
Fünf Tage nach diesem Gespräche waren die Geschwister wieder in dem Gemache bei einander, und setzten sich zu demselben Tische.
Der Oheim sagte: »Nun, Gerlint, rede.« »Rede du zuerst, Bruder«, sagte sie.
»Also, weil du es wünschest, rede ich«, antwortete der Oheim. »Ich bin mit Gerlint an der großen Eiche gewesen. Da habe ich nun auch endlich gesagt: ›Gerlint, diese Eiche sieht weit in das Land hinein, wir können fast alle[782] Gründe und mitunter auch die Schlösser darin erblicken, deren Bewohner mit uns bekannt sind und in Gastlichkeit leben. Aber auch von dorther wird die Eiche weit und breit gesehen, und, weil sie ein so mächtiger Baum ist, leicht von andern unterschieden. Und darum wird mancher, der an dich denkt, auf diese Eiche schauen, und doppelt an dich denken. Wann wird uns denn unsere liebe Nichte einmal mit einem recht artigen, schönen, tüchtigen Gemahle erfreuen?‹ Sie aber schlang den Arm um mich, und küßte mich mit Heftigkeit und rief: ›Oheim, wünschet mich nicht fort, sondern lasset mich mit euch leben, wie ich lebe, hin und hin, und redet nicht mehr von solchen Dingen.‹ Ich antwortete darauf: ›Wenn du nicht selber sehr gern gehest, wünschen wir dich nicht fort, Gerlint, wir wünschen dich in alle Zukunft sehr in unserer Nähe und in traulichem Umgange mit uns, und ich werde von dieser Sache nicht mehr reden.‹ Darauf sagte sie nichts, wir schlugen den Heimweg ein, und da wir in die Nähe des Schlosses kamen, sprach sie von Bäumen und Gesträuchen und von solchen Dingen. Das ist nun mein Bericht, liebe Schwester, jetzt bringe du auch den deinen.«
»Nun, mein guter Bruder,« sagte die Schwester, »ich habe mit Dietwin geredet. Da er wieder in dem Saale war, ging ich hinein. Er schritt mir entgegen, und wollte mich zu einem Sitze führen; ich lehnte es aber ab, und wir betrachteten die Bilder. Du kannst wohl denken, geliebter Bruder, daß ich nicht ungehörig gesprochen habe; als wir aber deine und meine Eltern und die Großeltern und die Urgroßeltern und deren Eltern angeschaut hatten, redete ich von dem Glücke der Familie, die so geschlossen fortgeht, und das Ihrige hin und hin auf liebe Glieder forterben kann. Und da sagte ich auch, daß es uns freuen wird, wenn er sich einmal eine holde Gattin wählt. Er antwortete sehr schnell: ›Tante, Tante, Tante,[783] diese Puppen, nie, nie, nie. Ich werde zu keiner Puppe herabsteigen, nein, niemals, und ich bitte dich, Tante, rede nicht davon, ich bitte dich, rede nicht davon.‹ Ich erwiderte: ›Nun, ich rede nicht davon.‹ Und wir gingen an ein Fenster und sahen auf die Landschaft, und verließen bald darauf den Saal. Und so ist es, wie ich sage.«
»Und was sagst du nun weiter, Gerlint?« fragte der Oheim.
»Was ich weiter sage, lieber Bruder, will ich dir offenbaren«, antwortete die Tante. »Ich habe in der letzten Zeit her immer an das gedacht, was sich jetzt ereignet. Du weißt, daß ich um Erwin Trauer angelegt habe, und die trage ich lebenslang. Es ist seit seinem Lebensende kein anderes Kleid auf meinen Körper gekommen als ein schwarzes oder ein graues, und so wird es bleiben. Eine Frau aber, welche Trauer trägt, schließt keine Ehe. Es haben sich mir ja Männer genähert, darunter waren edle und gute, und du weißt, wie ich jedes Werben abgelehnt habe. Ich bin noch nicht in den Jahren, in denen eine Ehe zu den Seltenheiten gehört; aber ich denke nicht daran. Und mit Dietwin wäre es gar vom Übel. Wenn auch viele Verbindungen, bei denen das Alter der Frau größer ist als das des Mannes, glücklich ablaufen, so ist doch etwas nicht ganz Natürliches in der Sache. Dietwin, wie ich sein Wesen kenne, würde mit mir nicht glücklich. Zudem erscheint der Welt eine solche Verbindung stets lächerlich, ob mit Recht, untersuche ich nicht; aber ich mag nicht unserem Stamme eine wenn auch törichte Lächerlichkeit anhängen, wie ich keinem der Mitglieder desselben irgend eine Unbill zufügen möchte. Das sind meine Gedanken, Bruder, über diese Sache.«
»Ich erkenne an, was du sprichst,« sagte der Oheim, »und werde nun auch dir, wie du mir getan, offenbaren, was ich von meiner Seite glaube. Es kommt nicht selten vor, daß Männer in meinen Jahren sich noch verehelichen, es[784] geschieht öfter als bei Frauen, und meistens wählen sie auch junge Mädchen. Und solche Verbindungen sind auch öfter glücklich als die Verbindungen älterer Frauen mit jüngeren Männern. Bei mir kommt noch ein Gutes dazu, daß ich nie eine Gattin gehabt habe, also um keine traure, und daß kein Vergleich zwischen einer frühern und einer spätern angestellt werden könnte. Aber dessenungeachtet denke ich an keine Verbindung. Sie hat auch bei mir wie bei dir etwas nicht Passendes. Und das Schiefe der Sache mag auch ich dir und unserem Geschlechte nicht antun. Und so bleibe ich, wie ich bisher gewesen bin. Dieses ist meine Meinung über mich.«
»So sind wir in dieser Hinsicht eines Sinnes«, sagte die Tante.
»Wir sind wieder eines Sinnes, wie wir es so oft gewesen sind«, antwortete der Oheim.
»Was ist aber nun weiter zu tun?« sagte die Tante. »Es ist ein Glück, daß die Leute ihre Gefühle bisher noch nicht deutlicher dargelegt haben.«
»Sie empfinden etwas Ungeheuerliches in der Sache, das zeigt die Spannung, und sie wagen sich nicht vorwärts. Aber die Lösung muß gefunden werden«, sprach der Oheim.
»Wäre das«, sagte die Tante.
»Weil es nur ein Irrtum ihrer verwandtschaftlichen Gefühle ist,« antwortete der Oheim, »so wird durch den rechten Weg die Aufhellung gewiß kommen.«
»Werden wir den rechten Weg ergründen?« fragte die Tante. »Versuchen wir es«, antwortete der Oheim. »Sie dürfen keine Gegenneigung ahnen.«
»Aber wie werden wir die Verwandtenneigung und die andere Neigung abwägen?« fragte die Tante.
»Nun, du hast dein Ansehen und deine Würde ja immer im Stande gehalten, und ich werde bestrebt sein, das gleiche zu tun«, antwortete der Oheim.[785]
»Und dann?« fragte die Tante.
»Ich denke auch an eine zeitliche Trennung«, erwiderte der Oheim.
»Wohl,« sagte die Tante, »aber wie?«
»Der Neffe ist in der Verwaltung seines Gutes, er hat sich für diese Zeit jetzt eingelebt, wir können ihn nicht, ohne daß er auf den Kern der Sache käme, entfernen. Eben so kann kein Grund aufgefunden werden, die Nichte von dir zu geben. Also müssen wir beide von dem Platze fort. Ich meine, wir rüsten uns, und machen eine Reise«, sagte der Oheim.
»Das war mir auch schon in dem Herzen,« sprach die Tante, »obgleich ich schon lange her an keine Reise mehr dachte.«
»Ich habe auch nie an eine Reise gedacht«, sagte der Oheim. »Siehst du, Gerlint, wie du, als ich dir einmal zu dem Geburtstage Perlen gab, und du mir desselben Tages zu dem Geburtstage Perlen gabst, gesprochen hast, daß wir immer die nämlichen Gedanken haben, so haben wir sie.«
»Die Reise müßte aber bald angetreten werden, und länger dauern«, sprach die Tante.
»Sobald du mit deinen Vorbereitungen fertig bist, mag sie beginnen,« sagte der Oheim, »ich kann jeden Tag gehen.«
»Meine Vorbereitungen werden nicht viele Zeit in Anspruch nehmen«, antwortete die Tante.
»Und was die Dauer anbelangt,« sagte der Oheim, »so können wir sie nach den Umständen länger oder kürzer machen. Wir werden wohl erfahren, wie es zu Hause steht, zum Teile auch aus den Briefen der bei den selber, die wir aber durch Verzögerungen der Antworten zu seltenen machen müssen.«
»Wenn nur alles fruchtet«, sprach die Tante.
»Unsere Nichte Gerlint«, antwortete der Oheim, »hat[786] sich in die Geschäfte deines Gutes eingeübt, daß du ihr beruhigt die ganze Verwaltung übertragen kannst. Ich werde Dietwin die Oberleitung von Weiden geben. Sie können sich schicklicher Weise nur sehr selten besuchen, sind also viel allein, viel beschäftigt, und das wird wirken. Und weil ihre Empfindungen etwas Unnatürliches haben, und weil die Natur nach dem Natürlichen drängt, so ist vielleicht die Lösung leichter, als wir ahnen.«
»Nun, so machen wir in Gottes Namen die Reise«, sagte die Tante. »Du mußt sie den beiden ankündigen.«
»Ich werde es morgen tun,« antwortete der Oheim, »weil Dietwin in dem Schlosse bleibt.«
»So erfüllen wir unsere Pflicht«, sprach die Tante.
»Weil wir nur so einig sind«, entgegnete der Oheim.
»Der Himmel erhalte die Eintracht der Geschwister, sie ist ein großes Gut«, sagte die Tante.
»Sie ist eines,« sprach der Oheim, »und sie wird auch dauern. Und also, lebe wohl, Gerlint, und morgen nach dem Essen reden wir etwa davon, wohin wir denn reisen wollen.« »Denke darüber nach,« sagte die Tante, »ich werde es auch tun. Und lebe wohl.«
Nach diesen Worten erhoben sie sich von ihren Sitzen, und der Oheim verließ das Gemach.
Als des andern Tages nach dem Frühmahle noch alle bei einander saßen, sagte der Oheim: »Meine lieben Kinder, wir beide, meine Schwester und ich, haben vor, in kurzem eine Reise zu machen. Wenn sie länger dauern soll, könnte Gerlint die Verwaltung von Biberau übernehmen, und du, Dietwin, würdest mir wohl eine Zeit die Oberaufsicht über Weiden führen. Doch das Nähere wird sich erst gestalten, und wir werden schon noch davon reden.«
Alle schwiegen, da er diese Worte gesagt hatte.
Endlich sprach die Tante: »Und würdest du denn meine Stelle hier vertreten, liebe Gerlint, und was sagst du denn, wenn ich dir davon gehe?«[787]
»Geliebte Tante,« sagte Gerlint, »es wird sehr einsam sein, wenn du fort bist, es wird mir sehr schmerzlich sein, dich zu missen, und den Wagen des lieben Oheims lange nicht mehr in das Schloß hereinfahren zu sehen; aber es geziemt mir nicht, gegen deinen Willen zu sprechen, und ich habe ihn nur zu verehren. Und wenn du mir Geschäfte in deiner Abwesenheit überträgst, so wünsche ich nur, daß ich die Einsicht und Kraft habe, sie verrichten zu können.«
»Du hast die Einsicht und Kraft,« sagte die Tante, »und wirst alles recht machen. Und Auguste und Agathe bleiben bei dir, und sprechet manches Mal von uns, und schreibet uns. Es wird mich immer freuen, wenn du mir den Stand der Dinge in Biberau kund gibst und ihr Vorwärtsschreiten auseinandersetzest.«
»Und du,« sagte der Oheim zu Dietwin, »was redest du?«
»Sage, Oheim, was soll ich reden?« sprach Dietwin. »Ihr habt euern Willen, und wenn euer Wille nach einer Reise steht, so ist es meine Pflicht, ihn zu achten, wenn auch meine Gefühle sehr gegen ihn wären. Was du mir über Weiden aufträgst, werde ich nach bestem Gewissen zu erfüllen bestrebt sein.«
»Du wirst es gut erfüllen,« sagte der Oheim, »und wir werden schon noch über die Angelegenheiten sprechen.«
»Und Auguste wird wohl bei Gerlint bleiben,« sprach die Tante, »und Agathe auch, und ihr werdet euch wohl über unsere Abwesenheit hinüber helfen.«
»Ich bleibe gerne in Biberau,« antwortete Auguste, »und was dir, hochverehrte Base, und deinem hochverehrten Bruder Freude macht, das macht mir auch Freude, wenngleich das liebliche Zusammenleben hier, das unserem Herzen wohl tat, unterbrochen wird, und wir die Unterbrechung tragen müssen. Möge euch die Reise alles gewähren, was ihr erwartet.«
»Und du, Agathe?« fragte die Tante.[788]
»Ich werde Gerlint zur Hand sein, wie sie es wünscht,« sagte Agathe, »und möge der Himmel die Reise segnen.«
Man redete noch einiges Gleichgiltige, und zerstreute sich dann wie gewöhnlich nach dem Frühmahle.
Etwa zwei Stunden nach dem Mittagessen ging Gerlint in den großen Saal, stellte sich vor das Bild des Oheims und betrachtete es.
Nach kurzem kam auch Dietwin in den Saal. Er ging einige Schritte auf und nieder, und stellte sich dann vor das Bild der Tante. Sie sprachen nichts. Nach einer Weile sagte Dietwin: »Das sind herrliche Bilder.«
»Ja«, sagte Gerlint.
»Sie sind weit trefflicher gemalt als alle andern in dem Saale«, sprach Dietwin.
»Ja«, entgegnete Gerlint.
»Es hat sie ein Meister gemacht, der zu jener Zeit sehr berühmt war,« sprach Dietwin, »und man verehrt ihn jetzt noch.«
»Ich weiß es«, sagte Gerlint.
»Darum werden diese Bilder ihre Geltung haben, wenn auch viele Jahre vergangen sind, und wenn selber eine Zeit käme, in der man gar nicht mehr wüßte, wen sie vorstellen«, sprach Dietwin.
»Ich meine auch, daß es so ist«, erwiderte Gerlint.
Dietwin ging nun gegen ein Fenster, dann ging er gegen die große Tür, dann ging er wieder in dem Saale vorwärts, dann sagte er: »Der Oheim und die Tante werden eine Reise machen.«
»Sie werden eine Reise machen«, antwortete Gerlint.
»Du wirst hier auf dem Schlosse Besuche empfangen«, sagte Dietwin.
»Ich werde die empfangen, die sich für mich ziemen«, erwiderte Gerlint.[789]
»Gerlint,« rief Dietwin, »ich kann es nicht ertragen, wenn dein Auge auf irgend einen Mann blickt.«
Gerlint wendete sich um, und rief: »Dietwin, ich kann es nicht ertragen, wenn dein Auge auf ein Weib blickt.«
»Gerlint«, rief Dietwin. »Dietwin«, rief Gerlint. Und plötzlich faßten sie sich in die Arme, umschlangen sich, und küßten sich auf den Mund.
»Dein Auge blickt auf mich als Gattin, Gerlint«, sagte Dietwin.
»Und deines blickt auf mich als Gatte, Dietwin«, sprach Gerlint.
»Ich will dich auf den Händen tragen, Gerlint«, sagte Dietwin.
»Ich werde dir ein treues, gehorsames Weib sein«, antwortete Gerlint.
»Wir werden gemeinsam schalten und wirken«, sagte Dietwin.
»Und nur in der Liebe wetteifern«, erwiderte Gerlint.
»Du hast an dem ersten Tage deines Hierseins die Plätze unserer Kindheit besucht«, sagte Dietwin.
»Du bist auch an diesen Plätzen gewesen«, sprach Gerlint.
»Du bist lange auf der Stelle gestanden, wo –« sagte Dietwin.
»Wo ich nach dir gestochen habe. Es war deine Macht, Dietwin, über mich«, sprach Gerlint.
»Ich bin auf die Mauer des Gartens eurer Erziehungsanstalt geklettert«, sagte Dietwin.
»Du bist es gewesen?« rief Gerlint.
»Ich,« antwortete Dietwin, »kein Mann sollte seine Gedanken zu dir erheben.« »Als du«, sagte Gerlint. »Und nun sind unsere Gedanken ein Gedanke«, sprach Dietwin.[790]
»Sie sind ein Gedanke«, sagte Gerlint.
»Und alles muß rasch ins Werk gesetzt werden«, sprach Dietwin.
»Wie es dein Wille ist, Dietwin«, entgegnete Gerlint. »Nun den Kuß als Bräutigam«, sagte Dietwin.
»Als Braut«, antwortete Gerlint.
Und sie gaben sich den Verlobungskuß.
»Erlaube mir, dich zu geleiten«, sagte Dietwin.
Sie gab ihm den Arm, und er geleitete sie zu der Tür ihrer Wohnung.
Dann ging er zur Tante, küßte ihr die Hand, und sagte: »Meine hochverehrte, geliebte Tante, ich hätte eine Bitte an dich und den Oheim.«
»Soll ich meinen Bruder, der eben von mir ging, nachdem wir von unserer Reise gesprochen hatten, wieder holen lassen?« fragte die Tante.
»Wenn es dir genehm ist, so tue es«, antwortete Dietwin.
Die Tante schellte nach einem Diener, und ließ durch denselben ihren Bruder zu sich bitten.
Als er gekommen war, und als ihm Dietwin die Hand gereicht hatte, sagte sie: »Unser Neffe will uns um etwas ersuchen.«
Dietwin sagte: »Hochverehrte Tante und hochverehrter Oheim. Meine Bitte geht dahin, ob es euch gelegen sei, mich morgen um eilf Uhr in dem großen Saale von Biberau in einer feierlichen Angelegenheit zu empfangen. Wenn ihr ja sagt, fahre ich sogleich nach Weidenbach, und fahre morgen wieder herüber.«
»Sprich, Bruder«, sagte die Tante.
»Du bist die Herrin des Schlosses und empfängst die Besuche,« antwortete der Oheim, »und wenn ich als Gast auch mit empfangen darf, so sage ich: es ist mir jede Stunde gelegen.«
»So komme, Dietwin, du wirst uns schon in dem Saale finden«, sagte die Tante.[791]
»Ich danke, und verabschiede mich«, sprach Dietwin.
Er küßte der Tante die Hand, reichte dem Oheime seine Rechte, und verließ den Saal.
Wenige Augenblicke darnach sah man ihn durch das Tor des Schlosses hinaus fahren.
Des andern Tages um eilf Uhr saß die Tante, in schwarze Seide gekleidet, auf einem Prunkstuhle, der einen kostbaren Teppich unter sich hatte, in dem großen Saale von Biberau. Ihr Bruder saß auf einem zweiten Prunkstuhle neben ihr. Am unteren Ende der großen Treppe stand Adam mit Dienerschaft in Prunkkleidern. Als noch die Klänge der Turmuhr zur eilften Stunde tönten, fuhr der schwere Prachtwagen Weidenbachs durch das Tor herein. Der Kutscher saß im Silbergewande auf dem Bocke. Zwei Jäger standen silberschimmernd auf dem Brette. Der Wagen hielt, und Dietwin stieg aus demselben. Adam und die Diener geleiteten ihn die Treppe hinan zu dem großen Saale. Seine zwei Jäger folgten ihm bis zur Saaltür. Dort blieben sie stehen. Adam öffnete die Flügeltüren des Saales, und Dietwin trat allein in denselben.
Dann schlossen sich wieder die Türen, und Dietwin ging zu der Tante und dem Oheim vorwärts, blieb vor ihnen stehen, verneigte sich, und sprach: »Ich, Dietwin von der Weiden, bringe vorerst meiner hochverehrten Tante, Gerlint von Bergen, gebornen von der Weiden, meinen ehrfurchtsvollen Gruß, und so auch meinem hochverehrten Oheim, Dietwin von der Weiden, meinen ehrfurchtsvollen Gruß, und bitte beide um geneigtes Gehör und um Vergunst einer Bitte.«
Die Tante sagte darauf: »Ich grüße dich auch, Dietwin von der Weiden, geliebter Neffe, und weil es mein Schloß ist, in dem du die Bitte stellest, so antworte ich zuerst, und sage: wir hören dich, sprich deine Bitte aus.«
Der Oheim sagte: »Auch ich grüße dich, geliebter Neffe, und weil ich in dem Schlosse meiner Schwester auch eine[792] Antwort zu geben die Ermächtigung habe, so sage ich: wir hören dich, sprich deine Bitte aus.«
Nach diesen Worten sagte Dietwin: »Weil ihr mir beide Gehör gebt und Vergunst einer Bitte, so werbe ich in Zucht und Recht um die Hand Gerlints von der Weiden, der Nichte meiner hochverehrten Tante, der Frau von Bergen, gebornen von der Weiden, und der Nichte meines hochverehrten Oheimes, des Herren Dietwin von der Weiden, daß ich ihr ein rechtschaffener und treuer Gatte sei zeitlebens, und daß sie mir eine rechtschaffene und treue Gattin sei zeitlebens, und ich bitte, haltet meine Werbung genehm.«
Die Tante und der Oheim schwiegen einen Augenblick.
Dann sagte die Tante: »Dietwin von der Weiden, mein geliebter Neffe, weil du – weil du bei mir wirbst, ich bin gewisser Maßen die Mutter Gerlints, die keine Eltern hat, und sie ist in meinem Schlosse, und sagt zu mir Mutter, – und weil du wirbst, so spreche ich: in unserem Stamme von der Weiden ist die Sitte, daß auf eine Werbung nach einer Bedenkzeit die Antwort gegeben wird. Diese Bedenkzeit gestehe zu. Deine Werbung gereicht dem Stamme von der Weiden zur Ehre.«
Darauf sagte der Oheim: »Dietwin von der Weiden, lieber Neffe, weil du auch bei mir wirbst, und weil Gerlint auch unter meiner Obhut steht, so sage ich: du wirst auf deine Werbung nach der gewöhnlichen Bedenkzeit die Antwort erhalten. Achte diese Zeit. Deine Werbung gereicht dem Stamme von der Weiden zur Ehre.«
Auf diese Antworten sagte Dietwin: »So bedanke ich mich in untertäniger Gebühr des Gehöres, bedanke mich der Anerkennung meiner Werbung, verabschiede mich in Ehrbezeigung, und harre in meinem Schlosse Weidenbach der Entscheidung.«
Er verneigte sich wieder wie bei seiner Ankunft, verließ den Saal, stieg mit seinen Jägern, von Adam und den[793] Dienern geleitet, die Treppe hinab, setzte sich in den Wagen, und fuhr durch das Tor des Schlosses hinaus.
Als die Geschwister in dem Saale allein waren, sagten sie eine Weile gar nichts.
Dann rief die Tante: »Dietwin, Dietwin, Dietwin!«
Der Oheim sprach: »Das ist nun freilich anders, als wir gedacht haben, wir müssen es hinnehmen, daß wir gedacht haben, was wir gedacht haben.«
»Ja wohl müssen wir es hinnehmen«, sagte die Tante.
»Meine liebe Schwester Gerlint,« sagte der Oheim, »nun ist die größte Sorgfalt anzuwenden, daß niemand erfahre, welche Gedanken wir gehabt haben.«
»Ich werde sie niemanden offenbaren«, sagte die Tante.
»Ich auch nicht,« antwortete der Oheim, »wenn nur nicht jemand durch Ahnungen, Deutungen und dergleichen darauf kommt.«
»Das wagt niemand zu denken«, sagte die Tante.
»Nun, nun, nun«, sprach der Oheim. »Siehe, ich habe gesagt, daß die Lösung etwa leichter sein wird, als wir ahnen: nun ist sie in der Tat leichter geworden.«
»Und es erfüllt sich ja, was wir gewünscht haben«, sagte die Tante.
»Wir haben nun wirklich Gott bei der Bewerkstelligung dieser Ehe geholfen,« entgegnete der Oheim, »durch die Ankündigung unseres Reiseplanes ist die Sache beschleunigt worden.«
»Siehst du, der Himmel schließt die Ehen, und hat unerforschliche Wege«, sagte die Tante.
»Nun, wir haben nur nicht recht geforscht,« erwiderte der Oheim, »denke nur, Gerlint, unsere Bilder sind schon vor einer Reihe von Jahren gemalt worden, ist nicht sie dir, und ist nicht er mir ähnlich, und haben sie nicht einander in unsern Bildern betrachtet?«
»So wird es sein, so wird es sein, Dietwin«, sagte die Tante.[794]
»Und wie ist mir denn,« sprach der Oheim, »hat nicht der junge Wengern freundliche Augen auf Gerlint gerichtet?«
»Ja, das hat er«, sagte die Tante.
»Und dann ist die Verwundung beim Jagen und das Gerücht eines Zweikampfes gekommen«, sprach der Oheim. »Ja, ja, ja«, sagte die Tante.
»Und in dem schönen Gemälde des Schlosses Biberau hat er die Wohnung darstellen lassen, in der Gerlint ist«, sprach der Oheim.
»Und wie ist es denn nun mit der Reise?« fragte die Tante.
»Nun, jetzt muß sie wohl wegen der Verlobung aufgeschoben werden,« antwortete der Oheim, »und dann wegen der Vermählung, und nach derselben sind die allerlei Einrichtungen wegen der Güter, es werden Übersiedlungen bevorstehen, und dann kann es von der Reise ganz sein Abkommen haben, oder wir machen eine kleine.« »Wie es sich fügt«, erwiderte die Tante.
»Die Zukunft wissen wir nicht, wie wir sie jetzt nicht gewußt haben«, sagte der Oheim. »Nun werden hinlängliche Geschäfte emporsteigen. Der Tag ist da, an welchem der Sturm von Seite Dietwins beginnt. Geworben hat er schnell genug, und wenn die Bedenkzeit vorüber ist, wird er die Behebung des Hindernisses wegen der Verwandtschaft betreiben, und die Verlobung und die Vermählung und alles. Und selbst nach der Hochzeit wird unser Rat und unsere Mitwirkung nötig sein.«
»Es ist nur gut,« sagte die Tante, »daß ich schon seit vielen Jahren zur Ausstattung gesammelt habe, und daß nicht jetzt die ganze Gewalt hereinbricht.«
»So tun gute Mütter immer, und solche, die Mutterstellen gut vertreten,« sagte der Oheim, »und besonders tun es verständige Frauen, wie du eine bist, Gerlint. Ich habe übrigens auch manch ein Ding im Verschlusse, das[795] euch bei diesem Vorkommnisse jetzt sehr zu statten kommen wird.«
»Daß du nicht unvorbereitet sein wirst, wenn das, was wir wünschen, zu Stande kommt, habe ich mir immer gedacht«, sagte die Tante.
»Ich bleibe jetzt bei dir in dem Schlosse Biberau,« sprach der Oheim, »wir müssen mit Gerlint sprechen, und einmal fährst du mit mir nach Weiden und nimmst die Dinge in Augenschein, und das Verzeichnis gebe ich dir mit, und, wenn du willst, auch die Gegenstände selber.«
»Das wird sich finden,« antwortete die Tante, »und mit Gerlint wird leicht zu sprechen sein; denn er muß volle Sicherheit haben.«
»Er hat volle Sicherheit,« sagte der Oheim, »und wir, meine liebe Schwester Gerlint, werden nun auch doch in die dritte Abteilung unseres Stammes einrücken.«
»Du hast immer Frevelreden, selbst an einem solchen Tage«, sagte die Tante, und stand auf.
Er stand auch auf, reichte ihr freundlich und ehrerbietig den Arm, und führte sie aus dem Saale in ihr Gemach.
Als der Abend gekommen war, sagte die Tante zu Gerlint, daß sie und der Oheim sie morgen um eilf Uhr feierlich in dem großen Saale empfangen werden.
»Ich bin zu eurem Willen«, sagte Gerlint.
Und als es am andern Tage eilf Uhr war, ging Gerlint in festlichem Schmucke in den großen Saal. Die Tante und der Oheim, gekleidet wie bei der Werbung Dietwins, saßen auf ihren Stühlen. Gerlint ging zu ihnen und küßte jedem die Hand, dann blieb sie vor ihnen stehen.
Da sprach die Tante: »Gerlint, mein liebes Kind, ich habe dich hieher bescheiden lassen. Wir werden dich um etwas fragen, antworte frei und ohne Rücksicht auf irgend ein Ding in dieser Welt als auf dein Herz und dein Gewissen.«
»Ich werde es tun, wenn die Antwort in meiner Macht liegt«, sprach Gerlint.[796]
»Sie liegt in deiner Macht«, entgegnete die Tante. »Höre mich an. Dietwin von der Weiden, unser Neffe und dein Vetter, hat bei mir in der Hinsicht, daß ich die Stelle deiner Mutter vertrete, und bei deinem Oheime in der Hinsicht, daß er die Stelle deines Vaters vertritt, feierlich um deine Hand geworben, daß er dir, wie er spricht, ein treuer, rechtschaffener Gatte sei, und daß du ihm eine treue, rechtschaffene Gattin seiest. Wir fragen dich nun: bist du gesonnen, diese Werbung anzunehmen, oder bedingst du dir eine Zeit, in der du die schweren Pflichten des neuen Standes überdenkest, um dann deine Zustimmung oder deine Weigerung anzukündigen?«
»Du kannst frei handeln, liebe Gerlint,« sagte der Oheim, »überlege, und tue, wie du willst, wir werden deinen Ausspruch in Betracht ziehen.«
Gerlint antwortete darauf: »Hochverehrte Mutter und Tante, hochverehrter Vater und Oheim, ich kenne Dietwin von der Weiden, euren Neffen und meinen Vetter, ich habe über die Pflichten des Ehestandes reiflich und ernstlich nachgedacht, und sage: ich nehme die Werbung Dietwins von der Weiden an, daß ich ihm mit dem Beistande Gottes eine rechtschaffene und treue Gattin sei, und daß er mir mit dem Beistande Gottes ein rechtschaffener und treuer Gatte sei. Eine Bedenkzeit heische ich nicht, sie wäre eine Lüge.«
»Und so bist du zu diesem Bündnisse entschlossen?« fragte die Tante.
»Ich bin dazu entschlossen«, antwortete Gerlint.
»Also werden wir, dein Oheim und ich, deinen Ausspruch, wie er sagt, in Betracht ziehen, und du bist jetzt aus diesem Saale entlassen.«
Gerlint küßte der Tante und dem Oheime wieder die Hand, und entfernte sich.
Am Nachmittage dieses Tages sah man Gerlint mit Augusten zu einer Zeit, in der sie es sonst nie getan hatten,[797] im Garten spazieren gehen, und der Spaziergang dauerte sehr lange.
Gegen den Abend ging Gerlint zu der Tante in das Wohngemach. Sie blieb vor ihr stehen, und sah auf ihr Angesicht. Die Tante schloß sie in die Arme, und küßte sie auf die Stirne und auf den Mund. Gerlint schlang ihre Arme um den Nacken der Tante, sprach aber nicht.
Dann ging sie zu dem Oheime.
Als sie in das Zimmer getreten war, legte sie den Arm um seinen Hals und rief: »Lieber, lieber Oheim!«
Und er küßte sie sehr herzhaft auf den Mund, und aus seinen Augen quollen Tränen hervor.
Gerlint ging wieder in ihre Wohnung.
Als nach diesem Tage noch zehn Tage vergangen waren, wurden Adam und zwei reichgekleidete Diener in einem schönen Wagen mit einem Briefe zu Dietwin nach Weidenbach geschickt. In dem Briefe war die Einwilligung zur Eheverbindung mit Gerlint enthalten. Dietwin war die ganze Zeit ununterbrochen in Weidenbach gewesen. Er bewirtete die Abgesandten köstlich, und entließ sie mit reichen Geschenken. Zwei Tage darauf fuhren die Tante und der Oheim im Prunke zu Dietwin nach Weidenbach, und fünf Tage nach diesem Besuche war die feierliche Verlobung in Biberau.
Nun begann die eifrigste Tätigkeit von allen Seiten. Adam reichte die Schrift zur Behebung des Verwandtschaftshindernisses in der zierlichsten Art, wie solche Schriftstücke verfaßt werden, ein. Arbeiterinnen wurden nach Biberau berufen, um in zwei Gemächern in allem möglichen Flitter beschäftigt zu sein. Jeder Bewohner des Schlosses bis auf die Frau Judith herab mußte bei den Vorbereitungen helfen. Die Tante und der Oheim fuhren wiederholt in die Stadt, um Einkäufe zu machen. Dietwin ließ in Weidenbach abbrechen und herstellen, um die junge Gattin würdig empfangen zu können. Er[798] fuhr auch öfter in die Stadt und war in Briefwechsel mit der Hauptstadt. In Weiden suchte der Oheim eine niedliche Wohnung für Besuche des jungen Ehepaares herzurichten. In kurzen Zwischenzeiten wurden auch Brautbesuche bei Nachbarn gemacht.
Mitten in diese Dinge fiel die Bewerbung des Grafen Steinheim um Augusten. Es wurde die gewöhnliche Bedenkzeit gefordert.
Unter diesen Dingen sprachen die Tante und der Oheim von ihrer Reise nicht mehr, und sonst redete auch niemand davon.
Dietwin begab sich auch in die Hauptstadt, und kam nach einiger Zeit wieder zurück.
Die Tante und der Oheim fuhren ein paar Male nach Weiden, um von den dortigen Dingen das Geeignete auszuwählen.
Nachdem die Bedenkzeit in Bezug auf die Werbung des Grafen Steinheim abgelaufen war, wurde an ihn und die Seinigen die bejahende Antwort eingesendet. Bald darauf kamen der Vater und die Mutter desselben zum feierlichen Besuche nach Biberau, und die Tante und der Oheim erwiderten den Besuch in Steinheim. Nach einigen Tagen war die Verlobung in Biberau.
Es kamen nun zu dem, was ohnehin vorzukehren war, noch die Vorbereitungen zu der Vermählung Augustens, und wurden auf das eifrigste betrieben. Auch die Brautbesuche dieses neuen Paares wurden inzwischen auf die herkömmliche und entsprechendste Weise gemacht.
So nahte endlich der Tag, der zu der Vermählung Dietwins und Gerlints festgesetzt worden war.
Die Vermählung wurde mit jener Festlichkeit, die in dem Geschlechte derer von der Weiden gebräuchlich war, in der Kirche von Biberau vollzogen. Der greise, weißlockige Pfarrer von Biberau hielt an das Brautpaar eine Anrede, die durch seine eigenen Tränen und durch sein[799] Schluchzen unterbrochen wurde. Die Kirche war von Menschen gedrängt voll, und manche von denen, welche herbei geströmt waren, mußten außerhalb derselben stehen bleiben. Die Wägen der Gäste und sonstiger Besucher standen in drei Reihen fast bis zu dem Schlosse hin. Gerlint hatte an der Haftstelle ihres Schleiers die Diamanten, welche Dietwin aus der Hauptstadt gebracht hatte. Nachdem die kirchliche Feierlichkeit vorüber war, erhielt jede der Freundinnen Gerlints, welche in weißen Seidenkleidern das Fest mitgefeiert hatten, ein auserlesenes Schmuckstück, die jungen Männer edle Gaben, und die Zeugen wurden mit wertvollen Erinnerungszeichen bedacht.
Der Oheim sagte: »Gott sei Dank, jetzt ist die Grenze für die Rosen gefunden, daß sie nicht das ganze Gebiet unserer Güter bedecken.«
Am Nachmittage war ein Mahl, wie es seit den ältesten Zeiten in dem Geschlechte gebräuchlich gewesen ist, für die Gäste, für die Besucher, für die Dienerschaften, für das Volk. Am nächsten Tage zog das junge Ehepaar nach Weidenbach, eine lange Reihe von Wägen fuhr mit, an allen Stellen, die nur irgend paßten, waren Empfangsfeierlichkeiten, und Dietwin und Gerlint wurden von den Verwandten, von den Freunden und von den Leuten des Gutes in ihre Wohnung geleitet.
In der Zeit, die nun nach diesen Festlichkeiten kam, fuhr an manchen Tagen ein Frachtwagen von Biberau oder von Weiden nach Weidenbach, mit Brautgütern beladen, bis das ein Ende hatte.
Nachdem auch die Zeit vorüber war, die bis zur Vermählung Augustens mit Steinheim vergehen mußte, wurde diese Vermählung gleichfalls mit aller Pracht in der Kirche und in dem Schlosse von Biberau vollzogen und gefeiert. Als das Fest geendigt war, begab sich das Ehepaar nach Steinheim.[800]
Nun begannen die Geschäfte wegen der Übertragung des Eigentums von Biberau und Weiden an Dietwin und Gerlint. Die Übertragung erfolgte bald; aber der Rest des Herbstes und der Winter wurden in diesen Schlössern noch in der alten Weise zugebracht. Als im Frühlinge die Geburtstagsfeier der Tante und des Oheims vorüber war, begann allmählig die Übersiedlung. Nach derselben wohnte der Oheim in dem Schlosse Weidenholz, die Tante in dem Schlosse Bergen. Dietwin und Gerlint wohnten in Weidenbach. Und zwischen allen diesen und denen in Steinheim begann ein sehr freundlicher und herzlicher Verkehr, und die Tante sagte jetzt öfter als je: »Die Ehen werden in dem Himmel geschlossen.«[801]
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