3. Abschied

[284] Der andere Tag, der letzte, den Victor in diesem Hause zuzubringen hatte, brachte nichts Ungewöhnliches. Man pachte noch manches, man ordnete das schon Geordnete noch einmal, man tat, wie es in solchen Fällen sehr gewöhnlich ist, gegen einander, als sollte gar nichts vorfallen, und so war der Vormittag bald vorüber.

Nach dem Mittagsessen, als man kaum aufgestanden war, ging Victor schon an dem Bache durch die Gegend hinauf[284] und wandelte für sich allein dem Buchengewände und dessen Steinhängen zu.

»Laß ihn gehen, laß ihn gehen,« sagte die alte Frau für sich, »das Herz wird ihm schwer sein.«

»Mutter, wo ist denn Victor?« fragte Hanna einmal im Laufe des Nachmittages.

»Er ist Abschied nehmen gegangen,« antwortete diese, »von der Gegend ist er Abschied nehmen gegangen. Mein Gott! er hat ja nichts anders. Der Vormund, ein so vortrefflicher und vorsorglicher Mann er ist, ist ihm doch ferne, und so sind es auch die Angehörigen des Vormundes.«

Hanna erwiderte auf diese Worte nichts – – gar nicht den leisesten Laut erwiderte sie darauf, und ging zwischen das Gebüsche der kleinen Pflaumenbäume hinein.

Der Rest des Nachmittages verging in diesem Hause wie gewöhnlich. Die Menschen verbrachten ihn mit den Arbeiten, die ihnen zukamen, die Vögel in ihren Bäumen verzwitscherten ihn, die Hühner gingen in dem Hofe herum, die Gräser und Pflanzen gediehen ein wenig weiter, und die Berge schmückten sich mit Abendgold.

Als die Sonne schon von dem Himmel verschwunden war und nur mehr die goldblasse, ahnungsreiche Kuppel über dem Tale stand – darum ahnungsreich, weil sie morgen als eben so goldblasse Frühkuppel über dem Tale stehen und denjenigen auf immer fortführen wird, den hier alle so lieben – als diese Kuppel über dem Tale glänzte, kam Victor von seinem Gange, auf den er sich so eilig nach dem Essen begeben hatte, zurück. Er ging längs der Gartenplanke, um das Pförtchen zu gewinnen, das von der Leinwandbleiche hineinführt. Die weißen Linnenstreifen waren nicht mehr da, nur das grünere und nassere Gras wies die Stellen, wo sie unter Tags gelegen waren – manche Fenster waren über die Gartenbeete gedeckt, weil der blanke Himmel eine kühle Nacht versprach – von[285] dem Hause stieg ein dünnes Rauchsäulchen auf, weil die Mutter schon vielleicht für das Abendessen sorgte. Victor hatte sein Angesicht dem Abendhimmel zugewendet, es wurde von demselben sanft beleuchtet, die kühlere Luft floß durch seine Haare, und der Himmel spiegelte sich in dem trauernden Auge.

Hanna hatte ihn beinahe dicht an sich vorüber gehen gesehen, da sie an der innern Wand der Gartenplanke stand, aber sie hatte nicht den Mut gehabt, ihn anzureden. Das Mädchen war beschäftigt, von einem struppigen geschornen Busche Stücke eines Seidenstoffes herab zu lesen, die in einem getrennten Kleide bestanden, gefärbt worden waren und unter Tags zum Trocknen sich auf dem Busche befunden hatten. Stück nach Stück nahm sie herab und legte sie auf ein Häufchen zusammen. Da sie nach einer Weile umblickte, sah sie Victor im Garten bei der großen Rosenhecke stehen.

Später sah sie ihn wieder bei der Hecke des blauen Holunders stehen, der schon Knospen hatte. Der Holunder aber war viel näher gegen sie her als die Rosenhecke. Dann ging er wieder ein wenig weiter, und endlich kam er zu ihr herzu und sagte: »Ich will dir etwas hinein tragen helfen, Hanna.«

»Ach nein, Victor, ich danke dir,« antwortete sie, »es sind ja nur ein paar leichte Läppchen, die ich färbte und hier trocknen ließ.«

»Hat sie dir die Sonne denn nicht sehr ausgezogen?«

»Nein; dieses Blau muß man in die Sonne legen, vorzüglich in die Frühlingssonne, da wird es immer schöner.«

»Nun, und ist es schön geworden?«

»Sieh her.«

»Ach, ich verstehe es doch nicht.«

»Es ist nicht so schön geworden wie die Bänder im vorigen Jahre, aber doch schön genug.«[286]

»Es ist sehr feine Seide.«

»Sehr fein.«

»Gibt es noch feinere?«

»Ja, es gibt noch viel feinere.«

»Und machtest du recht viele schöne seidene Kleider haben?«

»Nein; sie sind zum Festtagsgewand sehr vorzüglich; aber da man nicht viel Festgewand braucht, so wünsche ich nicht viel Seide. Die andern Kleider sind auch schön, und Seide ist immer ein stolzes Tragen.«

»Ist der Seidenwurm nicht ein recht armes Ding?«

»Warum, Victor?«

»Weil man ihn toten muß, um sein Gewebe zu bekommen.«

»Tut man das?«

»Ja, man siedet sein Gespinst im Wasserdunst, oder räuchert es in Schwefel, damit das Tier drinnen stirbt; denn sonst frißt es die Fäden durch und kömmt als Schmetterling heraus.«

»Armes Tier!«

»Ja – und in unsern Zeiten trennt man ihn auch von seinem armen Vaterlande – siehst du, Hanna – wo er auf sonnigen Maulbeerbäumen herum kriechen könnte, und füttert ihn in unsern Stuben mit Blättern, die draußen wachsen und auch nicht so heiter sind wie in ihrem Vaterlande. – – Und die Schwalben und die Störche und die andern Zugvögel gehen im Herbste von uns fort, vielleicht weit, weit in die Fremde; aber sie kommen im Frühlinge wieder. – – Es muß die Welt doch eine ungeheure, ungeheure Größe haben.«

»Mein armer Victor, rede nicht solche Dinge.«

»Ich möchte dich um etwas fragen, Hanna.«

»So frage mich, Victor.«

»Ich muß dir noch vielmal danken, Hanna, daß du mir die schöne Geldbörse gemacht hast. Das Gewebe ist so[287] fein und weich, und die Farben sind recht schön. Ich habe sie mir aufbewahrt, und werde kein Geld hinein tun.«

»Ach, Victor, das ist ja schon lange her, daß ich dir die Börse gab, und es ist nicht der Mühe wert, daß du mir dankst. Tue du nur dein Geld hinein, ich werde dir eine neue machen, wenn diese schlecht wird, und so immer fort, daß du nie einen Mangel haben sollst. Ich habe dir zu deiner jetzigen Abreise noch etwas gemacht, das viel schöner ist als die Börse, aber die Mutter wollte, daß ich es dir erst heute abends oder morgen früh geben sollte.«

»Das freut mich, Hanna, das freut mich sehr.«

»Wo bist du denn den ganzen Nachmittag gewesen, Victor?«

»Ich bin an dem Bache hinaufgegangen, weil ich so lange Weile hatte. Ich habe in das Wasser geschaut, wie es so eilig und emsig unserm Dorfe zurieselt, wie es so dunkel und wieder helle ist, wie es um die Steine und um den Sand herum trachtet, um nur bald in das Dorf zu kommen, in welchem es dann doch nicht bleibt. Ich habe das Steinübergehänge angeschaut, das da steht und unaufhörlich in die Wellen blickt. Zuletzt bin ich in den Buchenwald hinauf gegangen, wo die Stämme schön sein werden, wenn ein oder zwei oder gar zehn Jahre verflossen sind. Die Mutter hat mir von einem Platze erzählt, wo ein flacher Stein über ein Brünnlein liegt und eine alte Buche mit einem tiefen, langen Aste steht. Ich konnte den Platz nicht finden.«

»Das ist das Buchenbrünnlein im Hirschkar. Es wachsen gute Brombeeren herum, ich weiß den Platz recht gut, und werde ihn dir morgen zeigen, wenn du willst.«

»Morgen bin ich ja nicht mehr da, Hanna.«

»Ach so, morgen bist du nicht mehr da. Ich meine immer, daß du stets da sein sollst.«

»Ach nein. – – Liebe Hanna, teile diese seidenen Flecke ab, ich will sie dir doch hinein tragen helfen.«[288]

»Ich weiß nicht, wie du heute bist, Victor; die Dinge da sind ja so leicht, daß ein Kind das Zehnfache davon zu tragen vermöchte.«

»Es ist auch nicht wegen der Schwere, sondern ich möchte sie dir nur tragen.«

»Nun so trage einen Teil, ich werde sie gleich ordnen. Willst du schon in das Haus hinein gehen, so raffen wir schnell zusammen, was noch da ist, und gehen.«

»Nein, nein, ich will nicht hinein gehen – es ist ja nicht so spät, ich möchte noch in dem Garten bleiben. – – Und das von der Börse ist es auch nicht allein, was ich dir zu sagen habe.«

»So sprich, Victor, was ist es denn?«

»Die vier Tauben, die ich bisher ernährt habe – sie sind freilich nicht so schön, aber sie erbarmen mir doch, wenn sie nun niemand pflegt.«

»Ich will sorgen, Victor, ich will ihnen den Schlag am Morgen öffnen und am Abende schließen; ich will Sand streuen und ihnen Futter geben.«

»Dann muß ich dir noch für die viele Leinwand danken, die ich mit bekomme.«

»Um Gottes willen, ich habe sie dir ja nicht gegeben, sondern die Mutter – auch haben wir ja noch genug in unsern Schreinen, daß wir ihren Abgang nicht empfinden.«

»Das kleine silberne Kästchen von meiner verstorbenen Mutter, weißt du, das wie ein Trühelchen aus sieht, mit der durchbrochenen Arbeit und dem kleinen Schlüsselchen, das dir immer so gefallen hat – das habe ich gar nicht eingepackt, weil ich es dir zum Geschenke da lasse.«

»Nein, das ist zu schön, das nehme ich nicht.«

»Ich bitte dich, nimm es, Hanna, du tust mir einen sehr großen Gefallen, wenn du es nimmst.«

»Wenn ich dir einen großen Gefallen tue, so will ich es nehmen und es dir aufheben, bis du kommst, und es dir sorgfältig bewahren.«[289]

»Und die Nelken pflege, die armen Dinge an der Planke – hörst du – und vergiß den Spitz nicht; er ist zwar schon alt, aber ein treues Tier.«

»Nein, Victor, ich vergesse ihn nicht.«

»Aber ach, das ist es ja alles nicht, was ich eigentlich zu sagen habe – – ich muß etwas anderes sagen.«

»Nun so rede, Victor!«

»Die Mutter hat gesagt, ich möchte heute noch ein freundliches Wort zu dir sagen, weil wir öfter mit einander gezankt haben – ich möchte noch gut reden, ehe ich auf immer fort gehe – – und da bin ich gekommen, Hanna, um dich zu bitten, daß du nicht auf mich böse seiest.«

»Wie redest du nur, ich bin ja in meinem ganzen Leben nicht böse auf dich gewesen.«

»O, ich weiß es jetzt recht gut, du bist immer die Gequälte und Geduldige gewesen.«

»Victor, ängstige mich nicht, das ist dir nur heute so.«

»Nein, du warst immer gut, ich dachte es nur nicht so. Höre mich an, Hanna, dir will ich mein ganzes Herz ausschütten: ich bin ein unbeschreiblich unglücklicher Mensch.«

»Heiliger Gott! Victor, mein lieber Victor! was ist dir denn so schwer?«

»Siehst du, den ganzen Tag hängen mir die niederziehenden Tränen in dem Haupte, ich muß sie zurück halten, daß sie mir nicht aus den Augen fallen. Als ich nach dem Mittagsessen an dem traurigen Wasser und an dem Buchengewände hinauf ging, war es nicht eigentlich lange Weile, sondern daß mich nur keine Augen anschauen möchten – – und da dachte ich mir: ich habe doch gar niemand auf der ganzen großen, weiten Erde, keinen Vater, keine Mutter, keine Schwester. Mein Oheim bedroht mir meine wenigen Habseligkeiten, weil ihm mein Vater schuldig war, und die einzigen, die mir Gutes tun, muß ich verlassen.«[290]

»O Victor, lieber Victor, kranke dich nicht zu sehr. Dein Vater und deine Mutter sind freilich gestorben; aber das ist schon lange her, daß du sie kaum gekannt hast. Dafür hast du eine andere Mutter gefunden, die dich so liebt wie eine wahre – und du hast ja seither keine Klage wegen der Verstorbenen getan. Daß wir jetzt scheiden müssen, ist sehr, sehr traurig; aber versündige dich nicht an Gott, Victor, der uns die Prüfung auferlegt hat. Trage sie ohne Murren – ich trug sie auch schon den ganzen Tag her, und murrte nicht; ich hätte sie auch getragen, wenn du gar nicht mehr zu mir gekommen wärest, um mit mir zu reden.«

»O Hanna, Hanna!«

»Und wenn du auch fort bist, werden wir sorgen, was wir dir schicken sollen, wir werden für dich beten, und ich werde alle Tage in den Garten gehen und auf die Berge schauen, über die du fort gegangen bist.«

»Nein, tue es nicht; sonst wäre es gar zu kläglich.«

»Warum denn?«

»Weil doch alles nichts hilft – und weil es nicht das allein ist, daß ich scheiden muß, und daß wir uns trennen müssen.«

»Was ist es denn?«

»Daß alles vorüber ist, und daß ich der einsamste Mensch auf Erden bin.«

»Aber Victor, Victor.«

»Ich werde nie heiraten – es kann nicht sein – – es wird nicht möglich werden. Du siehst also, ich werde keine Heimat haben, ich gehöre niemanden an; die andern werden mich vergessen – und es ist gut. – Begreifst du es? – – Ich habe es nie gewußt, aber jetzt ist es ganz klar ganz klar. Siehst du es nicht? – – Warum schweigst du denn plötzlich, Hanna?«

»Victor!«

»Was, Hanna?«[291]

»Dachtest du schon?«

»Ich dachte.«

»Nun?«

»Nun – nun – es ist ja alles vergeblich, alles umsonst.«

»Bleibe ihr treu, Victor.«

»Ewig, ewig; aber es ist umsonst.«

»Warum denn?«

»Ich sagte dir ja, daß mir mein Oheim das Gut, das einzige, was übrig blieb, nimmt. Sie ist wohlhabend, ich bin arm und kann noch lange, lange Zeit kein Weib ernähren. Da wird einer um sie werben kommen, der sie ernähren, ihr schöne Kleider und Geschenke geben kann, und den wird sie nehmen.«

»Nein, nein, nein, Victor, das tut sie nicht – das tut sie ewig nicht. Sie wird dich ihr ganzes Leben lang lieben, wie du sie, und wird dich nicht verlassen, wie du sie nicht verläßt.«

»O liebe, liebe Hanna!«

»Lieber Victor!«

»Und es wird gewiß eine Zeit kommen, wo ich wieder zurückkomme – da werde ich nie ungeduldig werden, und wir werden leben wie zwei Geschwister, die sich über alles, alles lieben, was nur immer diese Erde tragen kann, und die sich ewig, ewig treu bleiben werden.«

»Ewig, ewig«, sagte sie, indem sie rasch seine dargebotenen Hände ergriff.

Sie brachen in bitterliche Tränen aus.

Victor zog sie sanft gegen sich her, und sie folgte. Sie lehnte das Haupt und das Angesicht an das Tuch seines Rockes, und gleichsam als wären jetzt bei ihr alle Schleißen recht geöffnet worden, weinte und schluchzte sie so sehr, als drückte es ihr das Herz ab, weil sie ihn verlieren müsse. Er legte den Arm um sie, wie beschützend und beschwichtigend, und drückte sie an sein Herz. Erdrückte sie immer fester, wie ein hilfloses Wesen. Sie schmiegte[292] sich an ihn, wie an einen Bruder, der jetzt gar so, gar so gut ist. Er streichelte mit der einen Hand über ihre Locken, die sie gescheitelt auf dem Haupte trug, dann beugte er sich nieder und küßte ihre Haare – aber sie hob ihr Angesicht zu ihm empor und küßte ihn so heiß auf seine Lippen, so heiß, wie sie nie gedacht habe, daß sie etwas küssen könne.

Dann standen sie noch eine Weile und sprachen nichts.

Da kam der Gärtnerknabe und sagte, daß ihn die Mutter schicke und ihnen sagen lasse, daß sie zu dem Abendessen kommen möchten.

Die seidenen Flecke, welche das Gespräch eingeleitet hatten, hielten sie noch immer in den Händen, aber sie waren verknittert, und manche waren von den Tränen Hannas naß. Sie nahmen daher dieselben zusammen, wie es sich eben fügen wollte, und gingen Hand in Hand auf dem Gartenwege gegen das Haus. Als sie die Mutter kommen sah und die rotgeweinten Augen ihrer Kinder erblickte, lächelte sie und ließ dieselben in die Stube treten.

Hier wurden die Gerichte aufgetragen, die Mutter legte jedem von den beiden vor, wie sie glaubte, daß es ihnen am liebsten sei, sie fragte nicht, was sie gesprochen haben, und so aßen die drei, wie sie an jedem Abende in aller bisher vergangenen Zeit gegessen hatten.

Hanna hatte sehr große raune Augen, die sich während dem Essen jeden Augenblick ohne Anlaß mit Tränen füllen wollten.

Als man fertig war, und ehe man sich zum Schlafengehen anschickte, mußte noch Hannas Geschenk herbei gebracht werden. Es war eine Brieftasche, die mit schneeweißer Seide gefüttert war und schon das Reisegeld enthielt, das die Mutter hinein gelegt hatte.

»Das Geld tue ich heraus«, sagte Victor, »und hebe mir die Brieftasche auf.«[293]

»Nein, nein,« sagte die Mutter, »das Geld lasse drinnen; siehst du, wie schön die gedruckten feinen Papiere in der weißen Seide ruhen? Nebst andern Dingen muß dich Hanna auch immer mit Brieftaschen versehen.«

»Ich werde sehr darauf Acht haben«, antwortete Victor.

Die Mutter schloß nun mit dem winzig kleinen Schlüsselchen das Fach der Brieftasche zu, in welchem das Geld war, und zeigte ihm, wie man das Schlüsselchen berge.

Hierauf trieb sie zum Schlafengehen.

»Lasse das, lasse das,« sagte sie, als sie Victor anmerkte, daß er für das Reisegeld danken wollte, »gehet nun zu Bette. Um fünf Uhr des Morgens mußt du schon auf den Bergen sein, Victor. Ich habe gesorgt, daß uns der Knecht bei rechter Zeit wecke, wenn ich mich etwa selber verschlafen sollte. Du mußt noch ein recht gutes Frühmahl einnehmen, ehe du fort gehst. – So, Kinder, gute Nacht, schlafet wohl.«

Sie hatte während dieser Worte, wie sie es jeden Abend tat, zwei Kerzen für die Kinder angezündet, jedes nahm die seine von dem Tische, wünschte der Mutter eine ehrerbietige gute Nacht und begab sich auf seine Stube.

Victor konnte noch nicht sein Lager suchen. Die vielen unordentlichen Schatten, die die herumstehenden Dinge warfen, machten das Zimmer unwirtlich. Er ging an ein Fenster und sah hinaus. Der Holunderstrauch war ein schwarzer Klumpen geworden, und das Wasser war gar nicht mehr sichtbar: eine lichtlose Tafel war an der Stelle, wo es fließen sollte – nur ein von Zeit zu Zeit aufzuckender Funke zeigte, daß es da war und sich bewege. Als alle Stimmen des Hauses und des Dorfes verstummt waren, zeigte auch ein leises, leises Rieseln, das bei dem offenen Fenster hereinkam, von dem Freunde, der so viele Jahre an dem Lager des Jünglings vorbei geronnen war. Viele tausend Sterne brannten an dem Himmel, aber es erglomm[294] nicht ein einziger, nicht der schmalste Sichelstreifen des Mondes.

Victor legte sich endlich auf das Bett, um die letzte Nacht hier zu verschlafen und den Morgen zu erwarten, der ihn vielleicht auf immer fortführen sollte, wo er, seit er denken konnte, sein Leben zugebracht hatte.

Dieser Morgen kam sehr bald! Als Victor noch kaum geglaubt hatte, die ersten erquickenden Atemzüge des Schlafes getan zu haben, klopfte es leise an seine Türe, und die Stimme der Mutter, die keinen Knecht zum Aufwecken bedurft hatte, ließ sich vernehmen: »Vier Uhr ist es, Victor, kleide dich an, vergiß nichts, und komme dann hinunter. Hörst du es?«

»Ich höre es, Mutter.«

Sie ging wieder die Treppe hinab; er aber sprang von seinem Lager empor. In der doppelten Beklemmung, der des Schmerzes und der der Reiseerwartung, kleidete er sich an und ging in das Speisezimmer hinunter. Im Morgengrauen stand schon ein Frühmahl auf dem Tische man hatte nie ein so frühes verzehrt. Schweigend aß man davon. Die Mutter sah fast unverwandt Victor an; Hanna getraute sich nicht, ihre Augen auf irgend etwas empor zu heben. Victor hörte bald zu essen auf. Er erhob sich von seinem Stuhle und nahm sich zusammen. Er ging ein paar Male in dem Zimmer herum, und dann sagte er: »Mutter, es wird gerade Zeit sein; ich gehe.«

Er nahm das Ränzchen über die Schultern und zog die Riemen fest, daß es gut saß. Dann nahm er den Hut, griff an die Brust, ob er die Brieftasche habe, und untersuchte, ob er überhaupt nichts vergesse. Da dieses vorüber war, ging er gegen die Mutter, die mit Hanna auf gestanden war, und sagte: »Ich danke Euch für alles, liebe Mutter – –«

Mehr konnte er kaum über die Lippen bringen, und sie ließ ihn auch nicht reden. Sie führte ihn zu dem Weihwasser[295] an die Tür, bespritzte ihn mit ein paar Tropfen, machte ihm das Zeichen des Kreuzes auf Stirne, Mund und Brust und sagte: »So, mein Kind, gehe jetzt ruhig fort. Sei gut, wie du bisher gut gewesen bist, und behalte das weiche, sanfte Herz. Schreibe oft, und verschweige nicht, wenn du etwas brauchst. Gott wird deine Wege schon segnen, die du gehst, weil du stets so folgsam gewesen bist.«

Bei diesen Worten träufelten ihr die Tränen hervor, und sie rührte nur mehr die Lippen und konnte nichts sagen. Nach einem Weilchen ermannte sie sich wieder und sprach:

»Die Kisten, welche noch oben sind, und den Koffer wirst du schon an dem Bestimmungsorte deines Amtes vorfinden, wenn du dort eintriffst. Halte Vorsicht auf das Geld und auf die Empfehlungsbriefe, welche dir der Vormund gab, erhitze dich nicht und trinke nicht kalt. Es wird alles gut werden. Das Fortgehen ist auch nicht so böse, und du findest überall gute Leute, die dir geneigt sein werden. Wenn ich nicht so lange an unsere Berge und an den Apfelbaum gewohnt wäre, so ginge ich mit Freuden in die Fremde. Und so lebe wohl, mein Victor, lebe wohl.«

Sie hatte ihn bei diesen Worten auf die Wangen geküßt.

Ganz stumm reichte er die Hand an die vor Tränen vergehende Hanna, und ging hinaus. Vor der Tür standen noch die Dienstleute und der Gärtner. Ohne zu sprechen, gab er rechts und links die Hand – sie gingen aus einander, und er schlug den schmalen Gartenweg gegen das Pförtchen ein.

»Wie er schön ist,« brach die Mutter fast laut weinend aus, da sie ihm mit Hanna nach sah, »wie er schön ist, die braunen Haare, der schöne Gang, die liebliche, die unbeschützte Jugend. Ach mein Gott!«

Und die Tränen rannen ihr an den nassen Händen herunter, die sie vor das Angesicht und vor die Augen hielt.[296]

»Du hast einmal zu mir und Victor gesagt,« sprach Hanna, »daß dich niemand mehr aus Schmerz weinen sehen wird – und nun weinst du doch aus Schmerz, Mutter.«

»Nein, mein Kind,« antwortete die Mutter, »das sind Freudentränen, daß er so geworden ist, wie er ist. Es ist doch sonderbar: er hat seinen Vater gar nicht gekannt, und wie er da hinaus ging, hatte er das Haupt, den Gang und die Haltung seines Vaters. Er wird schon gut werden, und meine Tränen, mein Kind, sind Freudentränen.«

»Ach, die meinen nicht, die meinen nicht«, sagte Hanna, indem sie ihr Tuch neuerdings vor die unersättlich schmerzlichen Augen hielt.

Victor war unterdessen durch das Pförtchen hinaus gegangen. Er ging an dem großen Fliederbusch vorbei, er ging über die beiden Stege, an den vielen durch so lange Jahre bekannten Obstbäumen vorüber, und stieg gegen die Wiesen und gegen die Felder hinan. Auf dieser Höhe blieb er ein wenig stehen, und da er unter den schwachen, undeutlichen Tönen des Dorfes auch das wütende Heulen des Spitzes vernahm, den man hatte fangen und anbinden müssen, damit er nicht mit gehe: so brachen auf einmal die siedenden Tränen hervor, und er rief fast laut in die Lüfte: »Wo werde ich denn wieder eine solche Mutter finden und solche Geschöpfe, die mich so lieben? – –

Vorgestern eilte ich so sehr aus der Stadt heraus, um noch einige Stunden in dem Tale zuzubringen, und heute gehe ich fort, um alle, alle Zeit anders wo zu sein.«

Da er endlich an eine Stelle gekommen war, die nicht mehr weit von der höchsten Schneide des Berges entfernt war, schaute er noch einmal, das letzte Mal, zurück. Das Haus konnte er noch erkennen, eben so den Garten und die Planke. Im Grünen sah er etwas, das so rot war wie Hannas Tuch. Aber es war nur das Dächelchen eines Schornsteins.

Dann ging er noch die Strecke bis zu der Bergschneide[297] empor – er blickte doch wieder um – ein glänzend schöner Tag lag über dem ganzen Tale. – – Hierauf ging er die wenigen Schritte um die Kuppe hemm, und alles war hinter ihm verschwunden, und ein neues Tal und eine neue Luft war vor seinen Augen. Die Sonne war indessen schon ziemlich weit herauf gekommen, trocknete die Gräser und seine Tränen, und senkte ihre wärmeren Strahlen auf die Länder. Er ging schief an dem Berghange fort, und da er nach einer Weile seine Uhr hervorgezogen hatte, zeigte sie halb acht.

›Jetzt wird das Bettgestelle schon leer da stehen‹, dachte er, ›das letzte Geräte, das mir blieb. Die Linnen werden heraus genommen sein, und das ungastliche Holz wird hervor blicken. Oder vielleicht arbeiten die Mägde schon in meinem Gemache, um ihm eine ganz andere Gestalt zu geben.‹

Und dann wandelte er weiter.

Er kam immer höher empor, der Raum legte sich zwischen ihn und das Haus, das er verlassen hatte, und die Zeit legte sich zwischen seine jetzigen Gedanken und die letzten Worte, die er in dem Hause geredet hatte. Sein Weg führte ihn stets an Berghängen hin, über die er nie gegangen war – bald kam er aufwärts, bald abwärts, im ganzen aber immer höher. Es war ihm lieb, daß er nicht mehr in die Stadt hatte gehen müssen, um sich zu beurlauben, weil er die Bekannten heute nicht gerne gesehen hätte. Die Meierhöfe und Wohnungen, die ihm aufstießen, lagen bald rechts, bald links von seinem Wege – hie und da ging ein Mensch und achtete seiner nicht.

Der Mittag zog herauf, und er wandelte fort und fort.

Die Welt wurde immer größer, wurde glänzender und wurde ringsum weiter, da er vorwärts schritt – und überall, wo er ging, waren tausend und tausend jubelnde Wesen.[298]

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, Wiesbaden 1959, S. 284-299.
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