7. Beschluß

[388] Wenn wir zu dem in den obigen Abschnitten dargestellten Jünglingsbilde noch etwas hinzufügen dürfte, So kann es folgendes sein.

Nachdem die Ausrüstung fertig war, welche die Mutter für Victors Reise ins Werk zu setzen hatte, und nachdem man über alles, was in der Zukunft für das Wohl des jungen Mannes ersprießlich sein könnte, im Reinen war, ereignete sich im tiefen Herbste desselben Jahres wieder ein Abschied – aber derselbe war kein so trauriger wie der erste, da er nicht so zu sagen für das ganze Leben, sondern nur für eine kleine Zeit notwendiger Abwesenheit galt, auf welche kleine Zeit dann eine lange, schöne, glückselige folgen sollte.

Daß Hanna recht gerne eine sehr nahe Teilnehmerin jener glücklichen Zeit werden wollte, zeigten ihre feurigen, heftigen Küsse, mit denen sie die Lippen Victors bedeckte, als sie einen einsamen Abschied von einander nahmen, als er sie heftig und schmerzlich an sich drückte und von ihr nicht lassen zu können vermeinte. Die zwei Ziehgeschwister weinten bei diesem glückverheißenden Abschiede so sehr, als ob er der trennendste und zerreißendste gewesen wäre und lange nicht, oder vielleicht nie mehr eine Wiedervereinigung hoffen ließe.

Die Mutter Ludmilla aber ging in stiller Freudigkeit herum, sie gesegnete den Sohn beim Abschiede, und dachte immer, wie sie es denn durch das wenige Gute, das sie in ihrem Leben stets mehr ausführen gewollt als gekonnt hatte, verdient habe, daß sie nun Gott in ihrem Alter so sehr belohne, ach so sehr, so sehr belohne.

Als er fort war, begann das stille, einfache Leben in dem Tale und Hause wieder, wie es bisher immer geführt worden war. Die Mutter tat in Unschuld die Geschäfte des Hauses, besorgte alles auf das beste, erwies Gutes, wo sie[388] es konnte, und ließ eine Fülle häuslicher Habe und Bequemlichkeit für eine nahe Zeit ausrüsten und arbeiten: Hanna war eine ergebene Tochter, die nur immer den Willen der Mutter tat und in innerer Bewegung und Erregung wartete, was die Zukunft bringen werde.

Als vier Jahre herum waren und die Briefe aus fremden Ländern, die alle dieselben lieben und bekannten Schriftzüge trugen, zu einem sehr großen Stoße angewachsen waren, kam der Briefschreiber selber, und die Briefe hörten auf. Victor kam so verändert zurück, daß selber die Ziehmutter staunte und überrascht wurde; denn aus dem fast kindischen Jünglinge war in der kurzen Zeit ein Mann geworden. Aber nur sein Verstand und sein Geist hatten sich her aus gebildet, das gute Herz, das sie in ihn gelegt, war unausrottbar geblieben, es war eben so kindlich und unversehrt, wie sie es ihm in der zarten Kindheit gegeben und dann weiter gepflegt hatte; denn ihr Herz vermachte sie ihm zu geben; was aber der starke Mann braucht, und was das harte Leben von ihm heischt, nicht. Hanna sah an Victor keine Veränderung; denn sie hielt ihn von Kindheit auf für gewandter und tüchtiger als sich; daß sie aber eine gute, einfache, große Seele habe, welche unbeugsam das Gute tut, wie das Wasser abwärts fließt, das wußte sie nicht, und das setzte sie als ein Gemeingut bei allen Menschen voraus.

Nicht sehr lange Zeit nach seiner Zurückkunft stand Victor mit Hanna zur ewigen Verbindung an dem Altare – zwei Wesen, deren Antlitze die Abbilder von zwei anderen waren, die einmal auch gerne vor demselben Altare gestanden wären, aber durch Unglück und Verschuldung aus einander gerissen worden waren, und dann lebenslänglich bereuten.

Alle Freunde, die einst jenen Spaziergang zur Feier von Ferdinands Geburtstag mitgemacht hatten, waren bei diesem Feste Victors und Hannas zugegen. Dann war auch noch der Vormund und seine Gattin, dann Rosina, jetzt[389] selber schon eine junge Frau, dann Rosinas und Hannas Gespielinnen und noch andere Menschen.

Nach Vollendung der Festlichkeiten führte Victor Hanna mit Triumph auf sein Gut. Die Mutter ging nicht mit; sie sagte, sie werde schon noch sehen, wie sich alles fügen werde.

Der Oheim war trotz der Bitten Victors, der selber bei ihm gewesen war, nicht zu der Vermählung seines Neffen gekommen. Er saß ganz einsam auf seiner Insel; denn wie er einmal selber gesagt hatte, es war alles, alles zu spät, und was versäumt war, war nicht nachzuholen.

Wenn man von dem Manne das Gleichnis des unfruchtbaren Feigenbaumes anwenden wollte, so dürfte man vielleicht die Worte sagen: ›Der gütige, milde und große Gärtner wirft ihn nicht in das Feuer, sondern er sieht an jedem Frühlinge in das früchtelose Laub und läßt es jeden Frühling grünen, bis einmal auch die Blätter immer weniger sind und zuletzt nur die dürren Äste empor ragen. Dann wird der Baum aus dem Garten weggetan und seine Stelle weiters verwendet. Die übrigen Gewächse aber blühen und gedeihen fort, und keines kann sagen, daß es aus seinen Körnern entsprossen ist und die süßen Früchte tragen wird wie er.‹ Dann scheint immer und immer die Sonne nieder, der blaue Himmel lächelt aus einem Jahrtausend in das andere, die Erde kleidet sich in ihr altes Grün, und die Geschlechter steigen an der langen Kette bis zu dem jüngsten Kinde nieder; aber er ist aus allen denselben ausgetilgt, weil sein Dasein kein Bild geprägt hat, seine Sprossen nicht mit hinunter gehen in dem Strome der Zeit. – Wenn er aber auch noch andere Spuren gegründet hat, so erlöschen diese, wie jedes Irdische erlischt – und wenn in dem Ozean der Tage endlich alles, alles untergeht, selbst das Größte und das Freudigste, so geht er eher unter, weil an ihm schon alles im Sinken begriffen ist, während er noch atmet, und während er noch lebt.[390]

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 2, Wiesbaden 1959, S. 388-391.
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