[222] Tag. Verhängte Fenster.
Toter aufgebahrt auf dem Diwan.
Sie kniet das Haupt auf dem Toten.
Freundin tappt hinein an den Türpfeiler gelehnt.
[222] Sie hebt den Kopf, wendet langsam, mechanisch, faßt die Freundin ins Auge, fährt übers Gesicht.
SIE erhebt mühsam, wankt auf die Zitternde, matt. Ich rief, ließ Dich rufen.
Freundin bebt an allen Gliedern.
SIE armt die Willenlose. Zürnen, nicht zürnen, aufgeregt, erregt Stärker und gefaßter. ich bin wieder ruhig Führt sie zum Stuhl, zwingt sie nieder, bleibt stehen, den Leichnam deckend. wer weiß? was tut? meine Ängste, ich weiß was kommen mußte, handeln. Sehen. Das Selbst sieht sich zu. Streichelt sie. Du bist gut Küßt die Erschauernde, tritt neben sie.
Freundin blickt den Leichnam, schlägt haltlos wimmernd den Kopf auf den Tisch.
SIE streichelt tröstig, schreitet zum Leichnam, breitet die Arme und schaut nach ihr um. Hier hat er mich geliebt.
Freundin schaut unter Zwang.
SIE wendet grausam. Was weinst Du?
Freundin hilflos faltet die Hände.
SIE näher, drohend. Sag was weinst Du?
Freundin sucht sich zu erheben, erstickt.
SIE weich und matt. Du sollst nicht weinen.
FREUNDIN steht gestützt, weh. Du hast mich lieb?
Sie zuckt heftig zusammen.
FREUNDIN flehig. Du.
Sie lacht grell.
FREUNDIN in fliegender Angst. Lachen?
SIE lächelt, spielt die Finger. Ich kann alles Faßt wirr die Stirn.
FREUNDIN tritt auf sie zu und legt ihr die Hand auf die Schulter. Arme.
SIE erregt hastig. Arme, ich bin arm, arm, ich war immer arm Im Aufschrei. ich habe nie was ich besitze.
FREUNDIN tröstig. Du mußt Ruhe haben.
SIE. Ruhe Lehnt an sie. Du hast mich lieb?
FREUNDIN legt den Arm um. Ich habe Dich lieb.[223]
SIE legt den Kopf auf ihre Schulter. Wen hast Du lieb.
Freundin zittert.
SIE hebt den Kopf fern. Ich war immer arm, allein.
Freundin faßt ihren Arm.
SIE bekräftigt. Ja doch Schauert, kühl, unberührt. er hatte andere.
Freundin setzt sich erschüttert.
SIE kühl, ruhig. Du kennst ihn?
FREUNDIN wankt auf, stammelnd, zitternd. Der Tote, tot.
SIE tritt zum Toten und deckt sein Gesicht auf. Willst Du ihn sehen?
Freundin taumelt zurück und bebt auf den Stuhl.
SIE kühl. Du hast ihn doch im Leben gesehen Kauert und küßt den Toten. jetzt will sie Dich nicht mehr sehen Klagt. niemand sieht Dich mehr.
Freundin will sich erheben, graust zurück.
SIE zeigt ihn. Du kannst ihn doch ansehen, Du mußt ihn doch sehen Streicht dem Toten das Haar glatt.
FREUNDIN durchgraust. Was? Du?
SIE unbeirrt. Du hast ihn doch gesehen, daß er mich ansah.
FREUNDIN die Hand auf die Brust gepreßt. Du sprichst, Du sprichst.
SIE erhebt sich. Ich spreche.
FREUNDIN. Schweigen.
SIE dreht um, fern, wiederholt. Schweigen.
Freundin kämpft kraftlos.
Sie erhebt sich verächtlich.
FREUNDIN erschüttert, gehetzt, springt hoch. Zeig ihn, zeig ihn.
SIE faßt ihre Hand. Sieh.
FREUNDIN starr vor dem Toten, haucht. Sehen.
SIE lacht grell. Ich weiß, ich weiß.
FREUNDIN reißt los. Unsinn! Unsinn!
SIE ruhig, fern. Ich weiß, Unsinn Lebhafter. alles Unsinn Fuchtelt wild. wahr, alles wahr, Preßt ihren Kopf zwischen[224] die Hände. alles Unsinn! Preßt die Hände ums Herz. alles wahr!
Freundin zittert.
SIE stampft auf und blitzt sie an, stößt sie verächtlich von sich und setzt sich zu dem Toten. So hab ich Dich gemordet!
Freundin hält mühsam am Tisch.
SIE steht auf, hoheitsvoll vor ihr. Nicht Dich! nicht Dich! Greift ihr Handgelenk hart, zieht die Gesträubte. er ist tot, Du hast einen lebenden Schatz, der mich will.
FREUNDIN gellt auf. Nein!
SIE zerrt sie. Ja! nein! Hält fest, ruhig neben ihr, bannend. was ist wahr? sag was ist wahr?
FREUNDIN in Beben. Warum hasst Du?
SIE. Ich hasse, hassen? Lacht dumpf. sieh seinen Mund, er küßt, o küßt!
Freundin sucht loszuwinden.
SIE hält eisern fest. Er hat geküßt, Männer küssen, wir müssen dankbar sein. Dankbar! Packt hinter ihr den andern Arm. Moder? die Lippen modern Nimmt eisenfest die Hand auf ihr Haupt und beugt die Schreiende. Du mußt nicht schreien. Küssen! Küssen lacht! er hat so gern geküßt, lachen! küssen! Stößt die Verstummende auf die Lippen. ich weiß, küsse, küsse Wirft die Ohnmächtige hin. pfui Du Metze, Stößt den Fuß nach ihr. küsset anderleuts Leichen Beugt über sie. Leichenküsse Lauscht. Du hörst mich nicht Reißt sie an den Haaren hoch. höre höre, ich habe viel zu sagen Beugt über sie. schön Du! unsagbar anmutig Betrachtet die Liegende, tritt zum Spiegel, wischt über das Gesicht, tritt zu ihr. nein, nicht bewußtlos, Freuden wachen Gießt ihr Wein aus der Karaffe ins Gesicht. wach auf! wach auf Springt hoch, stellt die Flasche aus der Hand. ja ja Reißt die Lade des Diwantisches auf und stockt im Denken, hebt einen Revolver hoch. nicht doch! Legt die Hand an die Stirn. ich bin ja ich bin Legt den Revolver zurück, lächelt bitter.[225] nein ich hab ihm nie welche zugeführt, wahr! Lüge Sie spielt ein Messer. die Augen, die Augen, Nacht Sie klappt das Messer und nimmt es stichig, beugt und bewundert. o Du bist schön, unsagbar anmutig, wirklich, hörst Du? und ich bin schön, er sagte es hundertmal Im wehen Aufschrei. ich hatte nie was ich besaß. Ich besaß niemals was ich hatte und was ich hatte, besaßen immer die anderen Weint, fährt der Liegenden über Gesicht und Haar. nein nein, Du sollst leben, wirklich leben Wollüstig tastend. Haut, Lippen, oh Beugt tief und schneidet. nicht küssen, niemals, niemals mehr Wirft Schnitt und Messer durch die Vorhänge des offenen Fensters. der andere Beugt über sie. Du bist schön, o anmutig Breitet ein Tuch über das wimmernde Gesicht. Du sollst nicht sterben, sterben Preßt das Tuch an. Du kannst Dich auch im Spiegel sehn, er liebt, er nimmt Dich doch unsagbar, Totenkopf Erhebt sich, blickt angstverzerrt umher, nimmt ein Glas, schenkt Wein und schüttet Pulver, die Augen weit in Fernen. ein Tor, ein Tor Schrickt zum Park.
Hunde balgen.
SIE lacht. Die Hunde balgen Lippen Hebt das Glas. hörst Du? warte eine Weile Gedanken überfallen. Weile Schaut auf die Liegende, beugt über und horcht. atmen, atmen, Du Stellt das Glas fort und packt sie wild in die Haare. Du sollst nicht liegen hier, liegen, ich treffe mit ihm, treffe Schleift in den Park.
SIE kommt wieder und trocknet lächelnd die Hände. Ja geile Hunde Nimmt die Hand des Toten, sitzt und betrachtet.
Hunde heulen draußen.
SIE lacht grell, trinkt, wirft das Glas in Scherben, greift stürzend seine Hand; über ihn. Du, Dich, Ich.[226]
Buchempfehlung
Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«
72 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro