XVI. Wohin gehen wir?

[257] Sechs Monate sind verstrichen, und ich gehe immer noch auf dem Stadtwall spazieren und lasse die Blicke über das Irrenhaus schweifen und spähe nach dem blauen Meeresstreifen in die Ferne. Von dort wird die neue Zeit, die neue Religion kommen, von welcher die Welt träumt.

Der düstere Winter ist begraben, die Felder grünen, die Bäume blühen, die Nachtigall singt im Garten des Observatoriums, aber die Traurigkeit des Winters lastet noch auf unseren Seelen; denn soviel Unheimliches, Unerklärliches ist geschehen, daß selbst die Ungläubigsten wankend geworden sind. Die Schlaflosigkeit nimmt zu, die Nervenanfälle vermehren sich, Visionen sind an der Tagesordnung, wahre Wunder geschehen. Man erwartet irgend etwas.


Ein junger Mann macht mir seinen Besuch.

»Was muß man tun, um die Nacht ruhig schlafen zu können?«

»Weshalb?«

»Auf mein Wort, ich kann es nicht sagen, aber mein Schlafzimmer ist mir ein Grauen geworden, und ich ziehe morgen aus.«

»Junger Mann, Atheist, Naturalist, weshalb?«[258]

»Teufel! wenn ich des Nachts die Tür meines Zimmers öffne und eintrete, faßt mich jemand bei den Armen und schüttelt mich.«

»So ist also jemand in ihrem Zimmer?«

»Aber nein! wenn ich Licht anzünde, ist niemand zu sehen.«

»Junger Mann, es gibt jemanden, den man nicht bei Kerzenlicht sieht!«

»Wer ist das?«

»Der Unsichtbare, junger Mann! Haben Sie Sulfonal, Bromkali, Morphium, Chloral genommen?«

»Ich habe alles versucht!«

»Und der Unsichtbare räumt nicht das Feld. Nun wohl, Sie wollen in der Nacht ruhig schlafen und verlangen von mir ein Mittel. Hören Sie, junger Mann, ich bin weder ein Arzt noch ein Prophet, ich bin ein alter Sünder, der Buße tut. Verlangen Sie also weder Predigten noch Prophezeiungen von einem Schächer, der alle seine Muße braucht, sich selbst zu predigen. Ich habe an Schlaflosigkeit und Armlähmungen gelitten; ich habe Körper an Körper mit dem Unsichtbaren gerungen und endlich Schlaf und Gesundheit wiedergewonnen. Wissen Sie, wie? Raten Sie!«

Der junge Mann errät mich und schlägt die Augen nieder.

– »Sie erraten es! So gehen Sie in Frieden und schlafen Sie gut!«


Ja, ich muß schweigen, mich erraten lassen, denn denselben Augenblick, da ich mir den Sünden-Bruder[259] zu spielen einfallen ließe, würde man mir den Rücken kehren.


Ein Freund fragt mich:

»Wohin gehen wir?«

»Ich kann es nicht sagen, aber was mich persönlich anbetrifft, so scheint es, daß der Weg des Kreuzes mich zum Glauben meiner Väter zurückführt.«

»Zum Katholizismus?«

»Es scheint so! Der Okkultismus hat seine Rolle gespielt, indem er die Wunder und die Dämonologie wissenschaftlich erklärte. Die Theosophie, die Vorläuferin der Religion, hat ausgelebt, nachdem sie die Weltordnung, welche straft und belohnt, wieder errichtet hat. Karma wird Gott werden, und die Mahatmas werden sich als die verjüngten Mächte, als die verbessernden Geister (die Dämonen) und die unterrichtenden (inspirierenden) Geister enthüllen. Der Buddhismus des jungen Frankreich hat den Verzicht auf die Welt proklamiert und den Kultus des Leidens, der geraden Wegs nach Golgatha führt.«

Was mein Heimweh in den Schoß der Mutterkirche anbetrifft, so ist das eine lange Geschichte, die ich kurz wiedergeben möchte.

Als Swedenborg mich lehrte, daß es nicht erlaubt sei, von der Religion der Vordern zu lassen, hat er diesen Ausspruch über den Protestantismus getan, welcher ein Verrat an der Mutterkirche ist. Oder besser, der Protestantismus ist eine den Barbaren des Nordens auferlegte Strafe, der Protestantismus ist das Exil,[260] die babylonische Gefangenschaft; aber die Rückkehr scheint nahe, die Rückkehr nach dem gelobten Lande. Die ungeheuren Fortschritte, die der Katholizismus in Amerika, England und Skandinavien macht, prophezeien eine große Wiederversöhnung, wobei die griechische Kirche, deren Hand sich schon nach dem Abendlande ausgestreckt hat, nicht zu vergessen ist.

Der Traum der Sozialisten von der Wiederherstellung der Vereinigten Staaten des Abendlandes, aber in einem geistigen Sinne gefaßt! Nun bitte ich euch, nicht zu glauben, daß es politische Theorien seien, die mich zur römischen Kirche zurückführen; nicht ich habe den Katholizismus gesucht, er hat sich bei mir eingeschlichen, nachdem er mich jahrelang verfolgt hat. Mein Kind, das wider meinen Willen katholisch wurde, hat mir die Schönheit eines Kultus gezeigt, der seit seinem Ursprung sich rein erhalten hat, und ich habe stets das Original der Kopie vorgezogen. Der längere Aufenthalt im Lande meines Kindes ließ mich in den Handlungen, die ich beobachtete, eine hohe Aufrichtigkeit des religiösen Lebens bewundern. Fügen wir noch meinen Aufenthalt im St. Ludwigs-Krankenhaus und schließlich die Erlebnisse meiner letzten Monate hinzu.

Nachdem ich so mein Leben, das mich wie gewisse Verdammte in Dantes Hölle umhergewirbelt hat, geprüft, und dabei entdeckt hatte, daß mein Dasein im allgemeinen keinen anderen Zweck gehabt, als mich zu demütigen und zu besudeln, entschloß ich mich, selbst vor meine Henker zu treten und meine Folterung selbst[261] in Angriff zu nehmen. Ich wollte inmitten der Leiden, des Schmutzes und der Todesängste leben, und zu diesem Zwecke bereitete ich mich vor, als Krankenwärter im Hospital der Frères Saint Jean de Dieu in Paris eine Stelle zu suchen. Dieser Gedanke kam mir den Morgen des 29 April, nachdem ich einer Alten mit einem totenkopfähnlichen Schädel begegnet war. Nach Hause zurückgekehrt, finde ich auf meinem Tisch Seraphita aufgeschlagen und auf der Seite rechts einen Holzsplitter, der auf folgenden Satz zeigt:

»Tut für Gott das, was ihr für eure ehrgeizigen Pläne tun würdet, was ihr tut, wenn ihr euch einer Kunst widmet, was ihr getan habt, wenn ihr ein Wesen mehr als ihn liebt, oder wenn ihr ein Geheimnis der menschlichen Wissenschaft verfolgt! Ist Gott nicht die Wissenschaft selbst ...«

Am Nachmittag kam die Zeitung »l'Eclair« an, – und welcher Zufall! – das Hospital der Frères Saint Jean de Dieu wird zweimal im Text genannt.

Am 1. Mai las ich zum erstenmal in meinem Leben Sar Peladans »Wie man Magier wird«.

Sar Peladan, mir bis dahin ein Unbekannter, überwältigt mich wie ein Sturm, eine Offenbarung des höheren Menschen, des Nietzscheschen Übermenschen, und mit ihm hält der Katholizismus seinen feierlichen und sieghaften Einzug in mein Leben.

Ist »der da kommen soll« in der Person Peladans gekommen? Der Dichter-Denker-Prophet, ist er es wohl, oder sollen wir noch eines andern warten?

Ich weiß es nicht, aber nachdem ich durch diese Vorhallen[262] in ein neues Leben eingetreten bin, fange ich am 3. Mai an, dieses Buch zu schreiben.

Den 5. Mai besuchte mich ein katholischer Priester, Konvertit.

Den 9. Mai sah ich Gustav Adolf in der Asche des Kamins.

Den 17. Mai las ich in Sar Peladan: »Um das Jahr Eintausend mochte es gut sein, an Zauberei zu glauben; heute beim Nahen des zweiten Jahrtausend stellt ein Beobachter einfach fest, daß solch ein Individuum eine fatale Eigentümlichkeit besitzt, nämlich, demjenigen Unglück zu bringen, der es kränkt. Ihr verweigert ihm eine Bitte, und eure Geliebte wird euch untreu; ihr schlagt es halbtot und müßt das Bett hüten; alles Böse, was ihr ihm antut, trifft euch doppelt. Nun, der Zufall wird diesen unerklärlichen Zusammenhang erklären, der Zufall genügt dem Determinismus des Modernen.«

18. Mai. Ich las den Dänen Jörgensen, einen konvertierten Katholiken, über das Kloster Beuron.

20. Mai. Ein Freund, den ich seit sechs Jahren nicht gesehen habe, kommt nach Lund und mietet sich in dem Hause, wo ich wohne, ein. Wer beschreibt meine Bewegung, als ich erfahre, daß er sich soeben zum Katholizismus bekehrt hat. Er leiht mir sein römisches Gebetbuch (das meine hatte ich vor einem Jahre verloren), und als ich die Hymnen und lateinischen Gesänge wieder lese, fühle ich mich wieder wohl.

27. Mai. Nach einer Reihe von Unterhaltungen über die Mutterkirche hat mein Freund an das belgische[263] Kloster, in dem er die Taufe erhalten, einen Brief mit der Bitte um einen Ruhesitz für den Verfasser dieses Buches abgesandt.

28. Mai. Ein unbestimmtes Gerücht ist im Umlauf, daß Anniet Besan katholisch geworden sei.


Ich erwarte noch die Antwort des belgischen Klosters.

Wenn dieses Buch gedruckt sein wird, muß die Antwort eingetroffen sein. Und dann? Danach? – Ein neuer Spaß für Götter, die aus vollem Halse lachen, wenn wir heiße Tränen weinen?


Lund, 3. Mai – 25. Juni 1897.
[264]

Quelle:
Strindberg, August: Inferno. Berlin [1919], S. 257-265.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon