Achtes Kapitel

Die Apotheke

[118] Die Welt, die meine Welt gewesen war, versank.

An ihre Stelle trat ein Verkaufsraum mit rechtwinklig gegliedertem Ladentisch, mit langen Regalen an den Wänden und einem schrankartigen Aufbau in der Mitte, in dem neben den offenstehenden ätherischen Ölen hinter einer Verschlußtür die Gifte sich befanden.

Die Gifte! Das war das Geheimnisvolle, das Romantische bei der Sache. Nicht bloß mich selber, ganze Familien, ganze Dörfer, ganze Städte vermochte ich umzubringen, falls es mir Spaß machte. Oft, wenn niemand mich überraschen konnte, liebkoste ich die breithalsigen Fläschchen und fühlte mich als Herr über Leben und Tod.

Meine amtliche Tätigkeit hingegen bestand fürs erste nur in Tütendrehen. Ich lernte es rasch, ich kann es auch heute noch und bin gerne bereit, es Zweiflern zu beweisen. Diese Kunst wenigstens werden meine Kritiker mir nicht abstreiten können.

Sodann fand ich mich in die Obliegenheiten des Handverkaufes eingeweiht. Und dabei verblieb es bis auf weiteres. Brustbonbons, Kamillentee, Rhabarber, Lakritzen, Magentropfen, Appetitpulver für die Schweine, Bibergeil, Honig, Asa foetida – eine böse Nummer übrigens –, und weiß der Deibel, was sonst noch, alles ging alsbald mit flotter Selbstverständlichkeit durch meine Hände. Die Brustbonbons stehen in dieser Herzählung mit Fug und Recht an erster Stelle, denn sie erregten in mir auch privatim eine greifbare Anteilnahme, die sich allerdings sehr bald in Schaudern verwandelte.

Zu den genannten Dingen gesellte sich allerhand Rätselhaftes,[119] das leise gefordert und aus höchst harmlosen Flaschen oder Büchsen mit würdiger Sachlichkeit verabfolgt wurde: Muttertropfen, Liebestränke, Juckpulver, Mückenfett nebst vielen wilden Rezepten, in denen die Zauberkunst weiser Frauen sich austobte.

Der »alte Settegast«, mein hochverehrter Chef, erteilte mir selbst die nötigen Unterweisungen, denn einen Gehilfen gab es nicht.

Als ein wohltätiger Geist geht dieser Mann durch manches Jahr meiner Jugend. Sein Haus blieb mir eine zweite Heimat, auch lange, nachdem ich nicht mehr darin tätig war, und noch als Student half ich an den Markttagen, an denen kundige Hände nottaten, aus Lust und Liebe fleißig mit, dem Litauervolke, das sich in Scharen vor dem Ladentische drängte, seine quacksalbrischen Wünsche zu erfüllen. Es wurde mein Stolz, in seiner Sprache mit ihm zu reden und mich in dem Sinn seines Stammelns zurechtzufinden.

Aber mein Ehrgeiz ging höher. Den Handverkauf hatte ich in vier Wochen ausgelernt. Ich kannte den Platz eines jeden Medikaments, ich wußte seinen Preis und war mit dem Kauderwelsch der Forderungen restlos vertraut.

Der höheren Tätigkeit aber, die sich nun daran schließen mußte, stand ein Verbot der obersten Medizinalbehörde gegenüber, demzufolge Lehrlingen erst in dem dritten Jahre ihrer Lehrzeit das Rezeptieren unter Aufsicht gestattet ist.

Vor mir lagen zwei endlose Jahre ödesten Kommistums, ehe ich daran denken konnte, das Allerheiligste des Rezeptiertisches zu betreten, und dabei schien selbst hier nichts Schwieriges zu erlernen. Das Pillendrehen, das Verreiben, das Aufkochen, das Filtrieren hatte ich dem alten Settegast bald abgeguckt; es war mir doch gestattet, ihm mit kleinen Handreichungen zur Seite zu stehen.

Wenn er aber Mittagsstunde schlief und eine Überraschung durch ihn nicht zu befürchten war, dann machte ich mich in[120] aller Heimlichkeit und mit Herzklopfen daran, selbständig die Aufgaben zu lösen, die die Rätselschrift der Ärzte uns stellte. Die Ladentür hielt ich offen, damit die Klingel ihn nicht weckte, und wenn ein Käufer sich meldete, legte ich bedeutungsvoll den Finger an die Lippen, worauf seine Rede sofort zu ängstlichem Flüstern herabsank, denn daß der alte Settegast um die Siebzig war und darum der Mittagsruhe dringend bedurfte, das wußte ein jeder.

So gelang es mir allgemach, jede Salbe, jede Mixtur, deren Rezept im Augenblick vorlag, bis zu Aufschrift und Fahne gebrauchsreif zustande zu bringen. War ich fertig, dann reinigte ich eilends das Handwerkszeug, stellte Gewichte und Flaschen an ihren Platz und steckte das fertige Medikament in die Tasche, um es abends in meinem Koffer zu verstauen, wo es vor Späheraugen sicher war.

Und kam der alte Settegast gegen die Vesperzeit mit rotgedrückter Backe gähnend zum Vorschein, um die Tränke noch einmal zu brauen, die Salben noch einmal zu reiben, dann stand neben ihm einer, der mit gierigen Augen zusah, um sicher zu sein, daß er die Handwerksregeln genau beobachtet hatte.

Dies spielte sich im zweiten Monat meiner Lehrzeit ab. Im Juli hatte sie ihren Anfang genommen, und als der September zu Ende ging, da war die Apothekerei für meine Neugier erledigt. Wieviel Unheil ich angerichtet, wieviel Giftmorde ich mir aufs Gewissen geladen hätte, wenn ich im Ernst mit meiner unreifen Kunst auf die leidende Menschheit losgelassen worden wäre, das bleibe dahingestellt. Jedenfalls bildete ich in meiner Großmannssucht mir ein, ich hätte nichts mehr zu lernen.

Inzwischen war die Reue über meinen voreiligen Schritt von Tag zu Tag in mir gewachsen.

Wenn ich spät abends die Doppeltür der Apotheke geschlossen und die Hängelampe gelöscht hatte, dann ging ich auf[121] mein Zimmer und überlegte: »Was haben sie heute in der Klasse getan? Wie weit sind sie im Ovid gekommen? Welche Gleichungen haben sie gelöst? Welche französischen Syntaxregeln sind an der Reihe gewesen?«

Meine Bücher hatte ich alle mitgebracht; die standen in einem schmalen Schranke neben dem brüchigen Sofa und sahen mich vorwurfsvoll an; und nicht eher gaben sie Ruhe, als bis ich sie aufgeschlagen und versucht hatte nachzuarbeiten, was heute von mir versäumt worden war.

Aber nach dem anstrengenden Tagewerk, das mich von sieben Uhr früh bis zehn Uhr abends auf den Beinen gehalten hatte – denn der eine Stuhl, der in der Fensterecke hinter dem Rezeptiertisch stand, war nicht für mich zum Sitzen da – nach so viel Laufen und Mühsal war ich viel zu müde, um die geistige Arbeit zu bewältigen, die die Angst, aus dem Reiche des Wissens für immer verbannt zu sein, von mir verlangte. Die lateinischen Verse gaben keinen Sinn, und die Gleichungen blieben ohne Lösung. Meistens aber schlief ich schon nach etlichen Minuten über den Büchern ein und wachte erst auf, wenn die Sonne mich weckte.

Daß unter diesen Umständen meine Kräfte nicht wuchsen, kann man sich vorstellen.

Wenn der freie Nachmittag kam, der mir alle vierzehn Tage beschert war und den ich natürlich im Elternhause verbrachte, dann ging ich im Dusel umher bis gegen die Dämmerung. Schließlich fiel ich vom Stuhl aus und oft noch mitten im Reden seitwärts auf irgendein Bett und blieb in schwerem Schlafe so liegen, bis um elf Uhr die Mutter mich mahnend hochrief, denn es war höchste Zeit für den Rückweg.

Die freien Sonntage, die mir gleichfalls allvierzehntägig blühten, verliefen nicht viel anders, nur daß ich einen Arm voll Bücher mit heimbrachte, aus denen ich wunder wie viel zu lernen gedachte.

Doch meistens entstand nichts anderes als ein verstiegener[122] Brief an Blechschmidt, in dem von seelischer Erhabenheit und wunschlosem Verzichten die Rede war. Bis ich eines Tages von ihm die Nachricht erhielt, daß das blöde Pennälertum ihm längst schon zum Halse herauskomme und daß ihn dürste, sich an den Brüsten des Lebens einen Rausch anzutrinken. Zu diesem Zwecke habe er beschlossen, ein kühner Seefahrer zu werden und vorerst in Hamburg als Schiffsjunge Dienste zu nehmen. Er werde mich an der Fülle seiner Erfahrungen gern teilnehmen lassen und darum ein Tagebuch führen, das einst als Persönlichkeitsdokument von hohem Werte der Nachwelt übergeben werden solle.

Dieses Tagebuch begann und nahm zugleich ein Ende auf seiner Durchfahrt durch Berlin. Es bestand in einer zwölf Seiten langen Schilderung des Besuches, den er dem Orpheum abgestattet hatte, einem Institute, das in die Sprache der heutigen Zeit übersetzt, sich »Amorsäle« nennen würde, und enthielt ekstatische Betrachtungen über das Übermaß der Gnaden, das weibliches Wohlwollen dem Mannestum zu schenken imstande sei.

Die Mitteilung, daß er aus Lust an der fremden Natur wie auch aus plötzlichem Mangel an Kleingeld den Weg nach Hamburg zu Fuß fortsetzen wolle, fand sich als Nachschrift. Dann blieben die Briefe aus, und erst viel später – Jahre später – habe ich noch einen von ihm erhalten, den letzten in diesem Leben, worin er mir mitteilte, daß er aus den tiefsten Tiefen menschlichen Schmutzes heraus den Heiland gefunden habe, durch den er zu jauchzender Gotteskindschaft geführt worden sei.

So lösten sich die inneren Zusammenhänge mit meinem früheren Dasein. Auch das Bild Klara Hornigs verblaßte. Ohne Abschied war ich von ihr gegangen, und siebzehn Jahre verflossen, ehe ich sie noch einmal sprach.

Jetzt quälte mich mein neues Leben so sehr, so grausam fraß an mir der Gedanke, das Heil meiner Seele im Zorne verscherzt[123] zu haben, daß jedes Erinnern daneben verschwand. Dem mütterlichen Auge blieb mein Leiden nicht verborgen. Manchmal fühlte ich eine rauhe Hand tröstend über meine Stirn gleiten, und öfter als früher sprach eine in Mitleid zitternde Stimme: »Du armer Jung.«

Mein Vater war in dieser Zeit stets gut zu mir. Seiner Vorstellung von bürgerlichem Vorwärtskommen entsprach mein Werdegang und die Zukunft, der ich entgegensteuerte. Auch ging es damals im Geschäft leidlich gut, wodurch er im Verkehr mit seiner Umgebung milder gestimmt wurde. Ich besinne mich nicht, daß er mich jemals gescholten hätte, und manchmal, wenn er mir zum Willkomm die Hand bot, lag ein halbes Lächeln auf seinen verdüsterten Zügen.

Hart kam es mich an, als ich in den Michaelisferien meine »Freunderln« auf der Chaussee vorüberschlendern sah. Sie begrüßten mich lässig als einen, dessen Ebenbürtigkeit nicht mehr in Frage stand, und ließen sich eines Tages sogar herab, mich in meiner Apotheke zu beehren, um sich, wie es die Sitte wollte, einen Schnaps von mir mischen zu lassen. Ohne Bezahlung natürlich, denn ich war ja allein. Daß ich das Geld dafür schleunigst aus meiner Tasche in den Kassenspalt gleiten ließ, geschah weniger aus Engigkeit des Gewissens als aus dem Gefühl heraus, daß ich für sie nichts geschenkt nehmen dürfe. –

Zu jener Zeit begann mein schwaches Knie, das anderthalb Jahre lang ganz unbemerkt geblieben war, sich wieder fühlbar zu machen. Das lange Stehen, das an den Markttagen von vier Uhr morgens bis zehn Uhr abends währte, tat den schlaff gewordenen Sehnen nicht wohl. Die Müdigkeiten wuchsen von Woche zu Woche und wurden so arg, daß ich oftmals eine Schublade herauszog, um auf ihren Kanten Ausruh zu finden.

Dem alten Settegast sagte ich nichts davon, denn es war mein Ehrgeiz, untadelhaft befunden zu werden. Aber von seinen[124] beiden Töchtern – älteren Mädchen, die mir ein gleichmütiges Wohlwollen schenkten – fiel der einen dies heimliche Hocken auf, und sie befragte mich prüfend. Rot geworden wich ich aus, und um nicht beobachtet zu werden, versagte ich mir fortan auch dieses zeitweilige Rasten.

Vor meinem Chef hatte ich furchtbare Angst. Er behandelte mich mit einer sachlichen Strenge, die mir selbstverständlich schien, denn einem mildherzigen Manne war ich eigentlich noch nie begegnet. Am meisten fürchtete ich mich vor seinen Zornausbrüchen, die unausbleiblich waren, wenn mir irgendein Werkzeug unter den Händen zu Schaden kam, denn wie alte Leute pflegen, hing er mit Leidenschaft an jedem Fetzen und jeder Scherbe, an die er gewöhnt war.

Die Krone von allem, die große Kostbarkeit des Hauses war eine mächtige Reibeschale aus feinstem Biskuitporzellan, die nur in seltenen Fällen, wenn ein Massenprodukt erzeugt werden sollte, aus ihrem Behälter hervorgeholt wurde.

Eines Tages war Brustpulver zu mischen.

»Wenn Sie versprechen, hübsch vorsichtig zu sein, will ich Ihnen die große Schale dazu geben«, sagte mein Chef.

Ich lachte über den Verdacht, daß man der großen Schale ein Leid antun könne, deren schwindelnder Wert über jede Fahrlässigkeit erhaben war.

Und der Chef ging ohne Besorgnis zur Ruhe, denn es war gerade zwei Uhr nachmittags.

Mit der schuldigen Ehrfurcht rieb ich darauflos. Ich rieb und rieb und rieb stärker, denn die Weite der Rundung verlangte den höheren Schwung.

Da, mit einem Male, gab es einen feinen Knick, nicht anders, als wenn man ein Glasstäbchen bricht, und die beiden edelgewölbten Hälften legten sich friedlich auseinander, als ob das so sein müßte.

Das Herz stand mir still. Was nun? Kein Taschengeld reichte aus, um diesen Verlust zu ersetzen. Selbst wenn man viele[125] Monate lang sparte. Wie dem Wüten des Zorns widerstehen, das mir schon die Glieder zum Zittern brachte, wenn mir nur eine leere Flasche aus den Händen geglitten war?

Nach Hause stürzen? Vater um Geld anflehen? Aber ich durfte ja meinen Posten nicht verlassen, und was auch geschah, die Entdeckung mußte in jedem Falle vorangehen.

In meiner Verzweiflung rannte ich zwischen Kräuterboden und Spritkeller treppauf, treppab. Nirgends Hilfe, nirgends Rettung!

Einen Brief schreiben, aus dem Hause fliehen und nie mehr wiederkommen, das war noch das beste.

Aber da stand er schon, unausgeschlafen, mürrisch und zum Schelten bereit.

Ich duckte mich, drückte die Hände gegen den Magen, der vor Aufregung weh tat, und stammelte leise und ins Leere hinein: »Ich hab die große Schale zerschlagen.«

Und – was tat er? Er blickte mich ein paar Sekunden lang an, kaute mit dem zahnlosen Munde und sagte: »Na, trösten Sie sich nur, das kann vorkommen.«

Noch heute möchte ich dem alten Manne dankbar die Hand küssen, wenn ich an das Glück des Erlöstseins denke, das mich in diesem Augenblick heiß überströmte.


Trotz solcher Güte wagte ich nicht, meinen Chef zum Mitwisser der Leiden zu machen, unter denen ich mich durch die Tage quälte. Wie hätte er mir auch helfen können? Ja, in meinem tiefsten Innern wollte ich gar nicht, daß er mir hülfe. Fort wollte ich, auf die Schule zurück, und dazu bot mein schwaches Knie die einzige Handhabe.

Wenn Vater zu überzeugen war, daß es nicht länger so ging, daß ich drohte, Krüppel zu werden – dann vielleicht –

Nicht auszudenken war dies übermenschliche Glück. Ein Wahnsinn war's – wie so manches andere in meinem Leben. Aber gerade deshalb biß ich mich darin fest.[126]

Und eines Tages wagte ich es, meine Mutter zur Vertrauten zu machen.

Sie nickte traurig und sagte: »Glaubst du, mein Jungchen, daß ich das nicht lange schon weiß?«

Ja, mehr als das. Sie hatte in sorgsamer Bohrarbeit schon darauf hingewirkt, Papa dem Gedanken freundlich zu stimmen. Aber zehn Taler monatlich Pension – und Schulgeld – und Bücher! Noch immer war nicht dran zu denken.

Vielleicht, wenn der Arzt ein Machtwort sprach.

Ja. Welcher Arzt? Eigentlich hatten wir keinen. Ein junger Dachs war als Vertreter des abwesenden Physikus unlängst in Heydekrug erschienen, doch nur wenige hielten zu ihm.

Aber aus Ruß, dem eine Meile entfernten großen Kirchdorf, kam täglich einer herüber. Doktor Kittel mit Namen, ein mächtiger Kerl. Ein Riese an Tatkraft und Ausdauer. Tausend Märchen waren über ihn beständig im Umlauf. Ganze Tafelrunden hatte er lachend unter den Tisch getrunken. Mit einem roten Unterrock bekleidet war er eine Meile weit bäuchlings über das brüchige Haffeis gerutscht, weil er anders von einer Wöchnerin, der er Lebensrettung gebracht hatte, nicht hatte heimkommen können. Und dergleichen mehr.

Täglich schritt er an meinem Standplatz vorüber, um in des Alten Zimmer, das für die höchsten Honoratioren eine halbheimliche Weinkneipe war, ein paar Rezepte zu schreiben und zugleich eine Flasche des berühmten Settegastschen Rotweins zu kippen. Dann streifte mich sein großes, rollendes Auge mit einem anteillosen Blicke, sein Brüllbaß grollte »Morjn«, und wie eine wehende Flamme verschwand sein brandroter Wotansbart hinter der Tür.

Und diesen Mann, zu dem ich mit grenzenloser Ehrfurcht emporsah, dem gegenüber die Stimme mir verschlug, wenn er sich, wie es wohl vorkam, mit einer geschäftlichen Frage an mich wandte, sollte ich festhalten und um Hilfe angehen?

Woher den Mut nehmen zu solchem Wagnis?[127]

Da, eines Mittags, während der alte Settegast ihn zur Haustür geleitete, kehrte er plötzlich um, maß mich eine Weile unter den tief herabgezogenen Herrscherbrauen hervor und sagte: »Sie sind der junge Sudermann?«

Ich bejahte stammelnd.

»Dann kommen Sie mal hinter den Rezeptiertisch und lassen Sie die Hosen herab.«

Der Rezeptiertisch hatte einen Aufbau, der, was in seinem Bereiche geschah, den Blicken der Eintretenden entzog, so daß man sich hinter ihm ruhig auskleiden konnte.

Und, zum Alten gewandt, fügte er erläuternd hinzu: »Seine Mutter hat an mich geschrieben, daß er das Stehen nicht aushält, weil er ein krankes Knie hat. Wollen gleich mal sehen.«

Die Narbe, die auf der Kniescheibe glühte, fiel ihm natürlich sofort in die Augen. »Aha«, sagte er. »Aber das wäre noch kein Grund.«

Dann ließ er die Kniescheibe zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gleiten und strich an den Sehnen entlang.

»Gelenkbändererschlaffung – unverkennbar«, brummelte er vor sich hin und dann mir ins Gesicht: »Binden tragen, junger Mann, und sich einen anderen Beruf aussuchen. Morjn, Herr Settegast.«

Das Herz schlug mir im Halse. Gelöste Ketten fielen an mir nieder. Ich hätte heulen und schreien mögen in meiner Wonne, aber der Alte war ja da.

»Der Kreisphysikus kommt nächstens zurück«, sagte er. »Ich möchte Sie gern behalten, und bleiben möchten Sie wohl auch gern?«

»Selbstverständlich«, log ich, während neue Angst mich befiel.

»Dann fragen wir zur Sicherheit auch noch den.«

Wir haben auch den noch gefragt, aber es hat am Resultat nichts geändert.[128]

Der böse Rohling, der mich vor zwei Jahren gegen den Türhaspen geworfen hatte, ist mein Retter gewesen, sonst stünde ich noch heute hinter dem Rezeptiertisch und braute bei Grippe schleimlösende Tränke.


Meine Mutter hatte derweilen in manchem nächtlichen Wortkampf das Tor des neuen Paradieses für mich aufgebrochen, und als ich an jenem Nachmittag, etwas mehr hinkend als nötig und gleisnerische Traurigkeit auf dem Gesicht, im Elternhause erschien, den Urteilsspruch des Arztes mitzuteilen, da hatte mein Vater bereits eingewilligt, daß im gegebenen Falle Mutter mit mir nach Tilsit fahren dürfe, mich auf dem dortigen Realgymnasium zum Eintritt anzumelden.

Und so geschah es.

Etliche Tage später setzten wir uns in den Postwagen und klapperten die sieben Meilen ab, die mich von Glück und Hoffnung trennten.

Und wieder, wie damals, als ich zur Tertia emporstrebte, stand ich vor einem Schulgewaltigen, der mich mit Richteraugen wog.

Ein starker Mann mit wohlgetragenem Schmerbauch, graulichem Bürstenhaar und einer Maurerfraise, die sich in den Vatermördern, wie sie bei älteren Herren noch manchmal zu sehen waren, halb verbarg.

Koch hieß er, und dieser Name steht golden eingepreßt in dem Buche meines Lebens.

Auch er machte Schwierigkeiten, geradeso wie damals der erste. Aber sie waren nur Kinderspiel, verglichen mit der Not jener Stunde.

Meinen Ovid rasselte ich herunter, denn ich hatte mir die Stelle ja aussuchen dürfen, und die unregelmäßigen Verben gehörten zum eisernen Bestand meiner französischen Künste. Zwar daß ich von Trigonometrie noch nichts wußte, war an sich eine faule Sache, aber »ich werd sie bald nachgeholt[129] haben«, sagte ich keck, »ich hab schon Schlimmeres fertiggekriegt.«

»Na, was denn?« fragte er schmunzelnd.

Da erzählte ich ihm frischweg die Geschichte von der mißlungenen Rückversetzung nach Quarta und dem übersprungenen Zweitjahr.

»Das gefällt mir nicht übel«, sagte er, »nur müssen Sie sich vor Selbstgefälligkeit hüten, mein Freund.«

Ich wurde rot und schämte mich so sehr, daß mir die Freude, zurück zur Obersekunda zu kommen, fürs erste versalzen war.

Dann ging's auf die Suche nach einer Pension.

Wer meiner Mutter den Namen »Frau Rendant Reimer« zuerst genannt hat, weiß ich nicht mehr, jedenfalls standen wir zwei Stunden später vor einer freundlichen, alten und vermickerten Frau, die uns erklärte, ja, sie habe einen Platz frei, und wir möchten nur näher treten.

Und als das Nötigste geregelt war – acht Taler monatlich und einen Taler für die Bedienung – da ergab es sich bei der üblichen Suche nach etwaigen Beziehungen, daß meine Mutter und sie eigentlich halbe Kusinen waren und daß der bezopfte und gepuderte Mann auf dem verklierten Ölbild, das am Ofen über dem Sorgenstuhl hing, niemand anders sein konnte als mein leiblicher Urgroßvater. Wir freuten uns sehr, und die beiden Frauen beschlossen ein sofortiges »Du«. Um aber die neue Freundschaft auch zu besiegeln, bekam ich das Ölbild, das aus irgendeiner Erbschaft einmal hierhergekommen war, zum Abschied gleich unter den Arm gepackt: »Denn in euer Haus gehört es mit größerem Recht als in das meine.« So sagte die neue Verwandte.

Wir gingen zum Postwagen und sprachen kein Wort. Als wir in den grauen Polstern saßen, nahm meine Mutter das Bild auf den Schoß und suchte nach Ähnlichkeiten mit diesem und jenem. Den Großvater selber hatte sie niemals gekannt.[130]

Ich aber schloß die Augen, dachte an die kommende glückliche Lernzeit und fand, daß das Leben ein Märchen sei. Und ein schönes.

Und an den Mann mit dem Wotansbart und den rollenden Götteraugen dachte ich auch. Er hatte mir ja zu all dem Glücke verholfen.

Heute ist er ein erblindeter Greis und lebt als Patriarch, angebetet von der aufblühenden Jugend, in Königsberg auf der Germanenkneipe, wo ich ihn noch vor kurzem besuchte. Während des Krieges hat er der Burschenschaft Schriftführerdienste getan und zwischen den in allen Ländern der Welt kämpfenden Kommilitonen einen Briefwechsel aufrechterhalten, so daß ein jeder vom anderen wußte, wo und wie er gerade die Haut zu Markte trug.

Wir sind im späteren Leben Freunde geworden, und wenn ich diese Erinnerungen fortführe, werde ich noch manchmal von ihm zu reden haben. Ich verdanke ihm den Stoff zu der »Reise nach Tilsit«, die in meinen »Litauischen Geschichten« steht. Und erfunden hat er ihn nicht.

Wir leben immer im Märchen, nur merken wir's selten.

Quelle:
Sudermann, Hermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. München, Wien 1981, S. 118-131.
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