[123] Der Blinde. Myrrha.
DER BLINDE der bei den letzten Worten Philaretes aufgefahren ist, für sich.
Zum Liebestiften freilich ...
Lacht.
Sei's drum.
Weich.
Wer
Ist hier?
MYRRHA.
Du, fremder Mann, die Mutter sagte,
Daß du – du – meinen Vater – sterben sahst.
DER BLINDE.
So – bist – du –?
MYRRHA.
Myrrha bin ich. Auf den Schultern
Trug er mich oft und gab mir liebe Namen
Und – – Standest du an seinem Lager?
DER BLINDE.
Ja.
MYRRHA.
Und hielt er da wohl deine Hand gefaßt?
DER BLINDE.
Ei ja doch.
MYRRHA.
Welche?
DER BLINDE verwundert auf die Rechte weisend.
Diese.[124]
MYRRHA neigt sich rasch auf die Hand herab und bedeckt sie mit Küssen.
DER BLINDE zurückfahrend.
Kind, was tust
Du mir?
MYRRHA.
Erschreckt es dich?
DER BLINDE glückselig lächelnd.
Ein wenig, doch –
MYRRHA.
Vergib!
DER BLINDE.
Ich wünschte wohl, ich sähe dich.
Nicht meinethalben – doch befahl dein Vater –
MYRRHA fährt, die Augen schließend, beim Worte »Vater« hoch auf.
DER BLINDE.
– weil ich ein wenig schwachgesichtig bin,
So möcht' ich dich mir gut beschreiben lassen.
Sag, stehst du hochgegürtet, wie die Mädchen,
Die schlanken, hierzulande?
MYRRHA nach ihrem Gürtel fassend.
Hochgegürtet,
Das bin ich.[125]
DER BLINDE.
Trägst wohl Blumen um den Hals
Gelegt?
MYRRHA.
Nicht um den Hals – doch in das Haar
Hat man mir festlich einen Veilchenkranz
Gewunden.
DER BLINDE.
Veilchenfarben waren einst
Auch deine Augen – sagte mir dein Vater.
MYRRHA.
So sind sie lang' nicht mehr – und sind auch trübe.
DER BLINDE.
Du irrst, mein Kind. Der Treue Sonnenklarheit,
Die ich ersehnte, hellet mir die Nacht.
MYRRHA ein wenig ängstlich, da sie ihn nicht versteht.
Menesto sagt es auch – die Schaffnerin.
DER BLINDE.
Menesto!
MYRRHA.
Und das kommt vom Wachen, sagt sie.
DER BLINDE.
Wie? Wachst du gar so viel?[126]
MYRRHA.
Ach, wenn du wüßtest,
Wie ruhelos ich immer nach ihm rief
Durch all die Jahre – all die langen Jahre!
Nicht daß mir nur ein Vater fehle! ... Doch!
Er fehlt mir sehr! Und nun du vor mir stehst,
Botschaften bringst und wahrlich keine frohen –
– Ich schäme mich! – da wird mir froh zumut!
Ich fühl's, er sandte dich, mir beizustehn
In meiner Not.
DER BLINDE.
In welcher Not?
MYRRHA.
Denn siehe!
Es lauern rings um uns geheimer Zwecke
So viel, und schon so viele Jungfraun wurden
Geopfert am Altar – wer weiß für wen? –
Wer weiß für was? ... Vielleicht ist's nun an mir!
Entscheidung naht, doch Angst und Wunsch gehn irre.
Drum bitt' ich dich, der als des Vaters Bote
Hierherkam, rate du – an Vaterstatt:
Steig' ich zum Glücke, oder soll auch ich
Geopfert werden?
Buchempfehlung
Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro