Neunte Szene

[26] Lykon. Die Erscheinung, eine lichtumflossene Jünglingsgestalt mit wüstem Schwarzhaar, fahlen, welken Zügen und brennenden Augen, bis zum Gürtel nackt und von gesträubten, fast bis zur Erde reichenden Fittichen umrahmt, deren Spitzen vorn zusammenstoßen. Sie trägt eine eherne Keule in der Hand und geht zwischen den im Hintergrund liegenden Kriegern umher, den einen und den andern mit der Keule berührend.


LYKON.

Was wandelt dort, in weißes Licht gekleidet,

Gleich einer Flamme durch die Felsen? ... Sandtet

Ihr einen Boten aus den Höhn, ihr Götter,

Mir Heil zu künden? Warum hält er inne

Bei dem und dem und hebt und senkt die Keule

Auf die Nichtsahnenden? An anderen

Schaut er vorbei. Warum an diesem hier –

Und nicht an dem? Wählst du so wählerisch

Die Freunde dir, o Genius, an mir

Geh nicht vorüber! Wer du immer seist,

Mir halte stand – denn mir bist du willkommen!

DIE ERSCHEINUNG.

Was begehrst du, Staubentsproßner?

Warum hemmst du meine Bahn?

LYKON.

Und kämst du von den Unterirdischen

Und bärgest einen Fetzen Sieg in deinem

Gewande – gib ihn her! Ich kann ihn brauchen.[27]

DIE ERSCHEINUNG.

Fordre nicht, du hast zu geben.

Ungeschehn ist unverloren.

Noch ruht Sieg in deiner Hand.

LYKON.

In meiner Hand?!


Lacht verzweifelt.


Blick um dich, Leuchtender,

Und jage nicht mein Hirn in wildes Hoffen!

Wer sandte dich? Was schleichst du durch das Lager?!

Du bist der Tod – der Tod sitzt dir im Auge!!

DIE ERSCHEINUNG.

Der Tod ist mein lächelnder Bruder.

Nachblühendes Leben

Gönnt er dem Schlafenden,

Den fromm ein Denken geleitet.

Ich aber zermalme die Beute

Erbarmungslos.

LYKON.

Ein Grausen packt mich an. Wer bist du, Dämon?

DIE ERSCHEINUNG.

Wer mir verfallen ist,

Der wird gelöscht

Von der Tafel der Zeiten.

Wen ich berühre,

Der stirbt den großen Tod:

Vergessensein.[28]

LYKON.

Wie? Jene dort, die du dir auserwählt,

Die jetzt ein Traum durch tausend Leben schaukelt,

Die sind nicht tot nur – sind vergessen schon?

Ein schnelles Handwerk treibst du da. Und ich?

... Mir gibst du Schonung? ... Hör mich an! Der Tod

Ist mir ein Labsal – aber wenn ich lebe,

So weih' ich mir den schreckenvollsten Fluch:

Vergessen will ich sein wie jene dort.

Gelöscht von allen Tafeln aller Zeiten.

Kein Ruhm soll jauchzen, keine Liebe klagen.

Mein Name sei ein wesenloser Schall.

Mein Ich sei nicht mehr Ich ... Zerfallen

Soll dieser Leib im Leben wie im Tode.

Die Sonne will ich nicht mehr sehn ... Was noch? ...

Was will ich noch? ... Mir gib den Sieg, o Dämon!

DIE ERSCHEINUNG.

Opfre Großes, und dir wird ein Größres.

Mögliches erschafft Unmögliches.

Fahre wohl! Du Sohn des Dunkels

Wirst die Sonne nie mehr sehn.


Verschwindet.


LYKON.

... Nie mehr sehn?


Entschlossen.


Drum Kampf, so lang' es nachtet!


Er tritt hinaus und ruft nach hinten.


... Drommeten, ruft die Schläfer!!


Ein langgezogener Tubaruf erschallt.

Der Vorhang fällt.


Quelle:
Hermann Sudermann: Der Bettler von Syrakus. Stuttgart und Berlin 2-51911, S. 26-29.
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