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[209] Der Moorvogt sitzt über seinen Schreibereien, und wenn einer am Chausseehaus vorübergeht, sieht er zum Fenster hinaus. Das ist seine Art, über die Leute, die ihm anvertraut sind, ins klare zu kommen. Aus ihrem Aussehen, ihrem Gang und der Stunde, die sie sich aussuchen, und den Lasten, die sie tragen, kann er genau erkennen, wie er mit ihnen dran ist, ob sie vorwärts kommen oder ob sie ins Lüdern geraten sind.

Der Moorvogt ist nun auch kein Jüngling mehr, und die dreißig Jahre, die er dem Moor geopfert hat, fangen an, seine Haare zu bleichen. Aber sein Auge sieht noch so scharf wie je, und noch immer hält er zweitausend Schicksale straff an der Leine.

Eines schönen Sommerabends sieht er den Jons Baltruschat zu Fuß nach Hause gehen, und doch ist er des Morgens im Leiterwagen vorübergefahren. Der Jons Baltruschat ist ihm schon seit einiger Zeit auffällig gewesen. Morgens macht er sich auf nach der Wiese, und abends fährt er betrunken zurück. Und der fremde weiße Hund, der dem Weibsbild von Tochter gehört, läuft nebenher.

Aber heute kommt er zu Fuß. Auch schwanken tut er. Aber seine Gangart ist mehr wie die eines Kranken als die eines Betrunkenen.

Darum macht der Moorvogt das kleine Fensterchen auf, durch das früher die Stange mit dem Lederbeutel geschoben wurde, und ruft ihm nach: »Jons, komm doch mal 'rein!«

Der Jons erschrickt und tut, als hat er nichts gehört, doch wie der Moorvogt nicht nachläßt, da muß er sich wohl bequemen, kehrt um und tritt in das Zimmer. Die Petruschka mit ihm. Sie läuft sofort zu dem Moorvogt, steckt die Schlangenschnauze in seine Hand und schlägt die nassen Augen zu ihm auf, als will sie sagen: »Wenn du nicht hilfst!«[210]

Der Moorvogt braucht nur einen Blick, um zu sehen: Der Jons ist so gut wie ein verlorener Mann; aber er weiß, große Worte verschrecken bloß und verschüchtern, darum sagt er gleichsam so nebenher: »Mir war doch, als bist du heut früh mit Fuhrwerk gewesen. Hast du das irgendwo stehen gelassen?«

»Ja,« sagt der Jons, »das hab' ich stehen gelassen.«

»Na, wo denn?«

»Auf – der – Chaussee.«

»Aber warum denn?«

»Ja – na.« Mehr ist nicht aus ihm 'rauszukriegen.

»Dann wollen wir's doch gleich einmal holen gehen,« sagt der Moorvogt und greift nach der Mütze.

Aber der Jons will nicht. »Wenn es 'n Zweck hätt',« sagt er.

»Warum hat's keinen Zweck?«

»Weil das Pferd gar nich mehr da is.«

»Wo ist es denn?«

»Wer kann wissen?«

»Ach so,« sagt der Moorvogt. »Du bist betrunken gewesen, hast dich in'n Chausseegraben gelegt, und unterdessen hat's dir einer ausgespannt.«

»Wer kann wissen?« sagt der Jons.

»Und da gehst du hier vorbei und machst keine Anzeige? Möchtest du den hübschen Braunen gar nicht mehr wiederhaben?«

»Is ja alles egal,« sagt der Jons.

»Sonst war dir so was durchaus nicht egal.«

»Da waren auch noch die Kühe da.«

»Sind die denn nicht mehr da?«

»Nichts is mehr da. Die Schweine werden sie heute auch wohl geholt haben.«

»Wer denn?«

»Na, die Erdme und die Marjellen.«

»Und das läßt du dir ruhig gefallen?«

»Is ja alles egal.« Und dabei bleibt er.

Die Petruschka sieht immer zum Moorvogt auf, wie der Mensch zum rettenden Herrgott. Der streichelt ihr den[211] hohlen Rücken, dessen Fell verfilzt ist und verschorft von Wunden und schwarzgrau. Und er sagt: »Wie kommt's, daß der fremde Hund sich an dich gewöhnt hat?«

»Das is so gekommen,« sagt der Jons.

»Weißt du, was deine Tochter für eine ist?« fragt der Moorvogt.

»Ich will es auch gar nicht wissen,« sagt der Jons.

Damit geht er.

Der Moorvogt telephoniert an alle Amtsvorsteher wegen des Braunen und hat dann eine schlaflose Nacht.

Am nächsten Morgen läßt er sich den Smailus kommen. Der bibbert am Krückstock, und seine Augen sind ganz und gar wie verglast, aber das kühne Polengesicht hat er noch immer, und sein Schnurrbart wölbt sich so forsch, als will er den Moskauern demnächst eine Schlacht ansagen.

Doch Schlachten schlägt der nicht mehr. Dafür hat seine Vierte reichlich gesorgt. Wenn es Gott will und sie stirbt, die ist imstande und verleidet ihm vorher die Fünfte.

»Was ist also mit den Baltruschats los?« fragt der Moorvogt. Und nun erfährt er das Nötige.

»Warum bist du nicht freiwillig zu mir gekommen und hast es erzählt?«

Seine Frau hat es nicht gewollt.

»Warum hat deine Frau es nicht gewollt?«

Der Jons hat ihr einmal eine Ziege gepfändet, und dafür muß sie sich rächen.

»Und was hat sie ihm gepfändet?«

Der Smailus lacht schadenfroh. »Das ist gar nicht zu zählen,« sagt er. Überhaupt das Weib! Aber davon will der Moorvogt nichts wissen.

»Glaubst du, daß die Erdme mit dem Witkuhn mal was vorgehabt hat?«

Diese Frage ist ihm zu schwer. Daß seine eigenen vier Weiber ihm treu gewesen sind, das weiß er, bei den anderen kann man niemals drauf schwören.

»Aber bemerkt hast du nichts?«

Nein, bemerkt hat er nichts. Und darum wird er entlassen. – – –[212]

Der Moorvogt ist sich noch ungewiß. Soll er die Erdme in dem Witkuhnschen Hause besuchen oder soll er sie zu sich bestellen? Da sieht er sie eben vorbeigehen. Sie lahmt zwar noch, und Kreuz und Kopf trägt sie bewickelt, aber kriechen kann sie doch schon.

»Du – komm mal 'rein!«

Sie steht da und sieht ihn böse an.

»Schöne Geschichten hör' ich von dir.«

Sie schweigt und sieht ihn böse an.

»Nach fünfundzwanzigjährigem Leben – schämst du dich nicht?«

Da legt sie los: mit dem Zaunspfahl hat er sie geschlagen – beinahe das Rückgrat hat er ihr gebrochen – mit Schmutznamen hat er sie belegt – ihren ehelichen Wandel hat er bekotzt – die ehr- und tugendsamen Töchter hat er mißhandeln wollen, und was das Schlimmste ist, das Vieh hat er verhungern lassen, so daß sie es nur durch Rüberholen mit knapper Not errettet hat.

Der Moorvogt sieht sofort: die Sache liegt schlimm für den Jons, und sie ist eine Furie geworden. Mit gut Zureden wird der nicht beizukommen sein. So versucht er es also mit böse: »Weißt du, was ich jetzt tun werde? Ich werd' dich durch den Gendarm in die Kaluse bringen lassen.«

Aber sie lacht ihn nur aus. »Das können Sie ja. Bloß morgen werd' ich schon wieder bei Ihnen vorbeigehen.«

»Wenn du dich nur nicht irrst.«

»Warum soll ich mich irren? Er hat ja keinen Antrag gestellt. Und er wird auch gar keinen stellen. Denn hier unter der Wiste hab' ich das Doktorattest. Darin steht geschrieben, wie schlimm es gewesen ist und daß ich nur durch ein Wunder am Leben bin. Wenn einer in die Kalus' fliegt, dann ist er es. Und ich zieh' jetzt zu meiner älteren Tochter. Die wird eine reiche Besitzersfrau. Und morgen wird sie das Aufgebot bestellen kommen. Und wenn ich erst hier 'raus bin, dann kann man mir sonst was.«

Das ist nicht Trotz mehr, das ist offene Auflehnung.[213]

Im Laufe der Jahre haben nur wenige ihm so entgegenzutreten gewagt.

»Was du eben gesagt hast, Erdme Baltruschat, das will ich nicht verstanden haben. Aber eins prophezei' ich dir: der Tag wird kommen, und er ist gar nicht weit, da wirst du dich glücklich preisen, bei dem Jons noch einmal unterkriechen zu können. Wir wollen hoffen, daß er dich dann auch aufnimmt.«

Sie beißt die Zähne zusammen und schwört bei Gott dem Allmächtigen: »Eher geh' ich und ertränk' mich im Torfloch.«

Und damit humpelt sie wieder hinaus nach Heydekrug zu, wo der Rechtsanwalt ihr raten soll, wie sie sich sichert, wenn Tochter und Schwiegersohn, denen sie alles opfert, sie übervorteilen wollen.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 209-214.
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