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[131] Man müßte lügen, wollte man sagen, daß das nun folgende Jahr für den Jons und die Erdme kein gesegnetes gewesen sei.

Das Schwein wird gut verkauft, und die Kuh zieht ein. – Sie ist die klügste, die schönstgefärbte, die milchreichste Kuh, die es auf Erden je gegeben hat. Die Milch muß morgens und abends zur Sammelstelle getragen werden und bringt manchen nützlichen Groschen. Das Schlimme ist nur, daß es an Futter fehlt, denn auf dem kalklosen Moor kommen die Wiesen erst, wenn es Jahre und Jahre bebaut ist, und seine Bewohner helfen sich dadurch, daß sie im Umkreis – bis über den großen Strom hin – jedes Rasenstück pachten, das irgend zu pachten ist.

So geht auch Jons auf die Suche, findet aber nichts, was nahe genug gelegen wäre, daß man das Heu auf der Karre heimschaffen könnte.

In all den Sorgen mutz also wohl oder übel der Moorvogt heran, der ja am besten Bescheid weiß.

Sie tun also so, als hätten sie kein schlechtes Gewissen, stecken für alle Fälle die schuldig gebliebene Pacht in die Tasche und gehen zu ihm.

Er sieht sie lange und nachdenklich an, schlägt dann ein großes Buch auf – das Buch gewiß, in dem all ihre Sünden stehen – und sieht sie darauf wieder an.

Erdme gibt dem Jons einen heimlichen Stoß, und er denkt: »In Gottes Namen.« Damit zieht er die Pachtschuld aus der Tasche und legt sie auf den Tisch. »Schad' um das schöne Geld,« denkt die Erdme. Aber wenn man so angesehen wird, was kann man da machen?

»Es war Zeit,« sagt der Moorvogt – weiter nichts – und schreibt ein Zeichen in das Buch.

Der Jons ist ganz geschwollen von dem plötzlichen Bewußtsein seiner Rechtlichkeit und sagt mit Würde: »Die Pacht fürs zweite Jahr wird auch bald da sein.«

»Das wär' nun nicht nötig gewesen,« denkt die Erdme, aber weil es doch mal heraus ist, will sie sich auch[132] nicht lumpen lassen und setzt hinzu: »Es fällt uns ja schwer, aber unsere Verpflichtungen erfüllen wir pünktlich.«

Der Moorvogt kneift die Lippen ein, als will er ein Prusten verstecken, und der Erdme wird sehr verdrießlich zumut. Man weiß mit dem Manne nie, wie man dran ist.

Er breitet eine große Plankarte aus und fragt dann: »Wieviel Kartoffelland nehmt ihr dieses Jahr in Arbeit?«

»Wenn's Glück gut ist,« sagt die Erdme, »wird die Hälfte von dem Gepachteten fertig.«

Er wiegt langsam den Kopf, sieht sie wieder eine Weile an und sagt dann: »Für ordentliche Leute hab' ich immer noch ein Stückchen Wiese bereit, das nicht zu weit liegt.«

»O Gott, o Gott,« denkt die Erdme. »Wie erträgt der Mensch so viel Glück? Erst die Wiese und dann auch noch gelobt werden.«

»Außerdem,« fährt der Moorvogt fort, »ist der Fiskus bereit, Ansiedlern, die sich bewähren, zur Verbesserung des Bodens mit einigem Kalkmergel unter die Arme zu greifen. Das gibt dann die doppelte Ernte.«

Das wird der Erdme zu viel. Sie kriegt das Heulen, rennt hinaus und rennt schnurstracks nach Hause. Der Jons kann sehen, wo er bleibt. Dann wirft sie sich über die Wiege der kleinen Katrike und erzählt ihr die ganze Geschichte. Und daß das Fräulein Tochter nun ganz sicher einmal in Samt und Seide gehen wird, erzählt sie ihr auch.

Wie der Jons nachkommt, der inzwischen alles festgemacht hat, fällt ihr ein, daß der Moorvogt, wenn er sie so sehr belobt, von ihren nächtlichen Fahrten unmöglich was wissen kann. Die kleine Ulele hat sie gewiß umsonst in Angst gejagt. Und ihr gutes Gewissen kennt keine Grenzen.

Unschuld liebt Blumen. Der Garten muß angelegt werden, sonst wird's für den Sommer zu spät. Zu Staketen ist das Geld noch nicht da, Weidenruten tun's auch. Wenn die bloß nicht immer von neuem losgrünen wollten. Tag für Tag muß man die jungen Triebe abschneiden, sogar die Brandmauer zwischen Kochherd und Ofen schlägt noch einmal aus, weil die Ruten, die ihr den Halt[133] geben sollen, sich in dem Glauben befinden, sie seien zu neuem Wachstum in den fetten Lehm hineingepackt.

So will alles leben und gedeihen, selbst wenn es längst tot ist. Und der Jons und die Erdme sollten nicht gedeihen, in denen doch Leben steckt für zehne?

Sonnenblumen, Krauseminze, Schnittlauch und Fenchel werden gesät, vor allem aber die Raute, die Mädchenblume, die Brautblume. Denn wenn die Katrike heiratet, muß sie sich ihren Kranz aus dem eigenen Garten winden. Das schickt sich für eine Vesitzerstochter nicht anders. – –

Um dieselbe Zeit macht der Vater Uleles zum dritten Mal Hochzeit. Die Kleine hat viel Plage gehabt, und erst die Überzeugung, die sie der künftigen Stiefmutter beibrachte, daß sie selbst einmal etwas sehr Reiches werden wird, hat, als sie noch zögerte, den Ausschlag gegeben.

Sie ist eine hübsche Person zu Ende der Zwanzig mit einem gutherzigen und gekränkten Gesicht. Und wie sie dasitzt in ihrem schwarzen deutschen Kleide und einer Jettbrosche unter dem Halse, sieht sie aus, als ob sie gekommen wäre, ihr eigenes Begräbnis zu feiern. Aber die kleine Ulele weicht ihr nicht von der Seite und erzählt ihr immer aufs neue, wie herrlich hier alles bestellt ist und was für vornehme Gäste die Stube erfüllen und daß es für ihre dreihundert Taler eine bessere Verwertung nicht gebe.

Der große Smailus dagegen streicht seinen rundbogigen Schnurrbart, sieht kühn in die Weite und berichtet jedem, der es längst weiß, dies sei nun schon seine Dritte. Und hernach, wie er betrunken ist, setzt er hinzu, wenn daraus eine Vierte und Fünfte würde, ihm wäre es ganz recht. Aber da hat ihn die Ulele bald beiseite geschafft.

Abends spät, wie viele der Gäste schon weg sind und die verlassene junge Frau aus dem Brautwinkel mit großen Augen zur Tür sieht, als möchte sie rasch wieder anspannen lassen, da nimmt die kleine Ulele die Erdme beiseite und sagt: »Ich wollte eigentlich jetzt gleich nach der Stadt, um das Nähen und die Putzmacherei zu erlernen, denn[134] das muß immer das erste sein, weil man zugleich die Abendschule besuchen kann. Aber ich seh' ein, ich kann die Stiefmutter, bis sie ein Kindchen hat, nicht ganz allein lassen. Darum will ich fürs erste in Heydekrug bleiben. Von dort wutsch' ich des Abends manchmal herüber und red' ihr gut zu. Dich, Erdme, aber bitt' ich, daß du oft um sie bist. Der Vater meint es nicht schlecht, aber sein Wesen könnt' sie verschrecken.«

Und die Erdme verspricht es und denkt: »Zusammen mit der kranken Witkuhn sind es schon zwei. Die Katrike noch gar nicht gerechnet.«

Dann setzt sie sich auch gleich neben die junge Frau und erzählt, wie verzagt sie einmal gewesen ist, als sie aufs Moor hat hinausziehen sollen, und wie sie jetzt gar nicht mehr weg möchte.

Und die junge Frau meint traurig: »Aber deiner war jung und war auch kein Witmann.«

Dagegen läßt sich nichts sagen. Darum küßt sie sie bloß, und hält ihr die Hände. Und langsam beruhigt sie sich und ißt von dem dickbezuckerten Fladen.

Der Witkuhn ist auch da – ohne die Frau –, aber er spricht die Erdme nicht an. Sie muß selbst auf ihn zugehen und ihn an frühere Zeiten erinnern.

»Es war doch so hübsch, Nachbar,« sagt sie, »darum komm nur immer herüber. Was nicht sein soll, das hab' ich vergessen.«

Er sagt: »Du bist gut gegen die kranke Frau und darum auch gut gegen mich. Ich bete für dich am Morgen und Abend, aber kommen – das kann ich nicht.«

Sie ärgert sich, daß es nicht nach ihrem Willen gehen soll, und nimmt sich vor, ihn nächstens kirre zu kriegen.

Wie sie nach Hause gehen, der Jons und sie – sie führt ihn natürlich, denn hätt' er sich nüchtern gehalten, so wär's eine schlechte Hochzeit gewesen –, da sieht sie auf dem Weg den grauen Schatten herumlaufen, der voriges Jahr, als sie das Haus gerichtet hatten und nun gemütlich ausruhen wollten, mit seinem Getanze dazwischen gefahren war.[135]

Sie denkt an die Worte des frommen Taruttis und denkt auch an die Wassersnot, vor der sie manch liebes Mal zittert, wenn sie voll Stolz ihr wachsendes Eigen besieht. Sie weiß nicht, wie es geschieht –, sie hätt' es auch nicht für möglich gehalten, aber sie muß das Stück Fladen hervorziehen, das sie heimlich eingesteckt hat, und es ihm hinreichen. Und sagt: »Da nimm, Nachbar, und wenn du Hochzeit machst, gibst du mir auch was.«

Er greift zu wie ein Verhungernder und prustet und faucht und läuft rasch davon, als muß er den Raub in Sicherheit bringen.

Doch sie kann sich der Guttat nicht freuen. Denn sie denkt, er werde nun ein Recht an sie haben und verlangen, daß sie mit ihm redet, wenn er des Wegs kommt. Und es redet doch sonst niemand mit ihm. Selbst der fromme Taruttis tut es nicht.

Doch ihre Sorge ist unnütz gewesen. Nie hat er sie anzuhalten versucht, und manchmal ist er vor ihr sogar auf die Seite gegangen. – – –

Die Erdme hat mächtig zu tun. Kind und Kuh verlangen Wartung, eines so viel wie das andere. Und ein Ferkel ist auch wieder da.

Der Frau des Witkuhn fällt das Melken sehr schwer, und die junge Frau Smailus muß eingewöhnt werden, sonst läuft sie womöglich wieder davon.

Jetzt sieht die Erdme erst, was sie an der kleinen Ulele gehabt hat. Aber klein ist die schon lange nicht mehr. Wenn sie zum Sonntagsbesuch kommt, dann trägt sie ein Fräuleinskleid und einen Strohhut mit Blumen. Sie nimmt die Stiefmutter unter den Arm und setzt sich mit ihr in das Kieferngestrüpp, das nicht höher ist als der Vater und dessen Nadeln büschelweis stehen wie Haare auf Warzen.

»Ach, wie ist es schön, so in einem grünen Walde zu sitzen«, sagt sie dann, »und die gesegnete Flur zu erblicken!« Und dabei zeigt sie nach den struppigen Kartoffeln und auf das brandige Moor, auf dem nichts weiter wächst als Torf in kohlschwarzen Haufen.[136]

Und alsbald hat sie die junge Frau für acht Tage wieder getröstet.

Eines Sonntags sagt sie zur Erdme: »Gott sei Dank, jetzt wird sie's leichter haben, denn es ist zugesät bei ihr.«

Mit dem Leichterhaben irrt sie sich freilich. Oft muß die Erdme heran, der traurigen Frau den Kopf zu halten, wenn sie sich weinend erbricht und immer nach Hause will.

Und auch bei der Erdme ist es wieder so weit. Da heißt es, sich dreifach zusammennehmen und sich nichts merken lassen, sonst geht die Wirtschaft den Krebsgang.

Der Jons hat neben der Taglöhnerarbeit jetzt auch für die Wiese zu sorgen. Die Karre nimmt er des Morgens meist mit und schiebt sie des Abends mit Grünfutter beladen nach Hause. Dazu kommt noch die Heuaust, das Mähen, das Wenden, das Inhaufenbringen und Wiederausstreuen, wenn der Regen alles durchweicht hat.

Man kann es wohl verstehen, daß er maulfaul wird und kaum Antwort gibt, wenn man ihn fragt. Wäre die kleine Katrike nicht da, gäb's wenig Unterhaltung im Hause. Aber die lacht schon, macht Brummchen und zappelt, solange man Zeit hat zum Spielen.

Die Kartoffeln bringen in diesem Jahr funfzig Scheffel. Davon darf man sogar verkaufen. Milchgeld, Taglohn, Ertrag des Schweines kommen dazu. Man kann fürs nächste Jahr an eine weitere Pachtung denken.

Der zweite Winter vergeht wie der erste. Nur daß die Erdme ein Spielzeug hat und daß die Ulele den Kopf nicht mehr zur Tür hereinsteckt.

Im April kommt die kleine Urte zugereist. Ganz leicht und plötzlich ist sie gekommen. Der Doktor hat gar nicht geholt werden brauchen.

Nun sind es schon zweie, und darum wird Schluß gemacht. Das Nötige hat die Erdme als Mädchen gelernt.

Die Jahreszeit ist für die Entbindung günstig gewesen. Noch bleibt Zeit genug für die Frühjahrsbestellung. Am neunten Tage nach der Geburt hat die Erdme schon wieder bis an die Knie im eiskalten Schlamm gestanden. So ein Kerl ist die Erdme.[137]

Nicht so leicht hat es die junge Frau Smailus gehabt, aber daran ist ihr Herzweh wohl schuld. Was wäre erst ohne die Ulele geworden! Mit einem Male ist sie dagewesen, hat Hebammendienste getan, hat das Kind gewartet so gut wie die Mutter und hat dabei noch in den Büchern gelesen.

Eines Tages kommt sie zur Erdme und sagt: »Nun wird es wohl gehen, daß ich weg kann. Wenn ihr das Kleine nicht hilft, hilft ihr nichts auf der Welt.«

Die Erdme fragt sie, wo sie eigentlich hin will.

Und sie sagt: »Zuerst nach Königsberg und dann nach Berlin. Denn diese kleinen Nester sind nichts für mich. Nicht einmal, was ein kleidsamer Hut ist, versteht man da. Auch muß ich des Abends die Schreibmaschine erlernen sowie die Schnellschrift, die man Stenographie nennt. Dann muß ich noch einmal aufs Land, das heißt auf ein Rittergut, um die Wirtschaft zu lernen und die Verwaltung. Wenn ich das ordentlich verstehe, gehe ich in ein großes Getreidegeschäft und mach' mich dort unentbehrlich. Vielleicht, daß der Prinzipal mich dann heiratet, weil er einsieht, daß ohne mich doch nichts mehr los ist. Aber im Grunde glaub' ich es nicht. Denn die Männer sehen mich nicht an.«

»Du bist ja noch so jung,« sagt die Erdme.

»Das ist wahr,« sagt sie, »Busen hab' ich noch gar nicht. Vielleicht werd' ich auch nie einen kriegen. Ich hab' immer gedacht, ich werd' durch das Mannsvolk in die Höhe kommen, aber das muß ich mir wohl aus dem Kopf schlagen. Und es wird ja auch so gehen.«

Und die Erdme lacht und sagt: »Du mit deinen fünfzehn – was kannst du da Großes verlangen?«

»Um mich herum liebt sich schon alles,« gibt sie zur Antwort, »bloß mich wollen sie nicht.«

Und Erdme, die erst sehr neidisch gewesen ist, sieht auf die Wiege, in der Kopf an Kopf die Urte und die Katrike liegen, beide mit Lutschpfropfen im Munde, und denkt: »Euch wird es nicht so gehen, denn ihr habt von meinem Blut in den Adern.«[138]

Und es ist, als ob die Ulele ihren Gedanken erriete, denn sie sagt seufzend: »Ja, wenn man so eine wäre wie du!«

»Was willst du damit sagen?« fragt die Erdme argwöhnisch. »Weißt du etwas von mir?«

»Das gerade nicht,« sagt sie, »aber – aber –« Und sie druckst und druckst und kommt nicht zu Rande. Schließlich, wie sie gehen will, dreht sie sich noch einmal um und sagt: »Eine Bestellung ist es eigentlich nicht, das würde sie sich nicht getrauen. Aber wünschen tut sie gewiß, daß du es erfährst.«

»Wer? Was?« fragt die Erdme ganz erstaunt.

Also: die Frau Witkuhn hat zu ihr gesprochen wie zu einer Alten. Das Elend mit ihrem Manne reißt ihr das Herz aus dem Leibe. Wenn er nicht da ist, sitzt sie in Angst, er könne sich ein Leid antun. Und ob es keine Möglichkeit gebe, daß die Erdme sich seiner erbarme.

Die Erdme erschrickt. Wenn die eigene Frau sich wirklich so an der Natur und der Religion versündigt, dann muß es wohl schlimm stehen.

»Warum hängt er sich gerade an mich?« fragt sie. »Mädchen, die ihm gern einen Gefallen täten, laufen genug herum auf dem Moor.«

Die Ulele macht eine pfiffige Nase. »Das ist es gerade,« sagt sie. »Ursprünglich wäre ihm wohl jede die Rechte gewesen, aber wenn eine ihm nah kommt, schrickt er zurück. Früher, als ich noch dümmer war und nicht wußte, warum, da hab' ich mich ihm manchmal auf den Schoß setzen wollen, aber da hat er mich von sich gewiesen wie das höllische Feuer. Nun aber hat er seine Sinne auf dich allein gesetzt. Ich verstehe ja nicht viel davon, aber ich meine, wenn der Jons nichts erfährt, könntest du ihm wohl einmal Mitleid erweisen. Wollte er mich, ich tät's, aber ich bin ihm wohl noch zu klein.«

Die Erdme fühlt, daß sie heiß wird von Kopf bis zu Füßen. »Du verstehst wirklich noch nichts davon,« sagt sie und schiebt die Ulele hinaus und nimmt auch keinen Abschied von ihr.[139]

Aber der Gedanke an den Nachbar geht ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sitzt der Jons ihr gegenüber, stumm und schwer, wie es seine Gewohnheit ist, dann sieht sie ihn immerzu an und denkt: »Soll ich – soll ich nicht?« Und ihr Entschluß ist dann stets: »Nein, ich soll nicht.«

Aber wenn sie den Nachbar arbeiten sieht fernab auf dem Feld und sich sein feines, stilles Gesicht vorstellt und die zitternden Backenknochen, dann denkt sie doch wieder: »Ich soll.«

Und ihr Mitleid wird so groß, daß sie nachts von ihm träumt und bei Tage auf dem Grabenrand sitzt und ihm nachsieht. Dabei leidet natürlich die Arbeit.

Schließlich denkt sie: »Komm's, wie es will, geschehen muß was.«

Darum faßt sie sich eines Tages ein Herz und geht zu ihm 'rüber.

Als er sie kommen sieht, fällt ihm die Hacke aus der Hand. Er steht da und sieht sie an wie eine Himmelserscheinung, und dabei hat er sie doch immer vor Augen.

»Nachbar,« sagt sie, als hätte sie noch gestern mit ihm gesprochen, »willst du nicht einmal nach unserer Kuh sehen? Die frißt nicht.«

Er zieht die Klotzkorken über die nackten Füße und kommt. Er befühlt der Kuh den Leib, legt ihr die Hand auf die Schnauze und dreht die Augenhaut um. »Die Kuh ist gesund,« sagt er. Weiter nichts.

Die Erdme schämt sich und fühlt, wie sie zittert. Aber sie weiß, so ein Augenblick kommt nicht wieder. Darum ladet sie ihn ein, noch ein wenig in die Stube zu treten.

»Was soll ich da drin?« fragt er.

»Ich hab' schon lange einmal mit dir reden wollen,« sagt sie.

Er streift die Klotzkorken ab und tritt ein. Die Wiege hat sie vorher auf den Hof gestellt, damit die Kinder nicht zusehen.

Und jetzt stehen sie da und zittern beide.

»Nachbar,« sagt sie, »ich muß immer an die Stunde denken vor zwei Jahren, und mir ist, als habe ich dir ein[140] Unrecht getan. Winn ich es gutmachen kann, will ich es gerne.«

»Es ist nichts gutzumachen,« sagt er und bekuckt sich die Bilder.

»Setz dich auf die Bank, Nachbar,« sagt sie.

Er gehorcht, und sie setzt sich neben ihn. Mehr kann sie wahrhaftig nicht tun.

»Nachbar,« sagt sie, »du hast ein seltsames Wesen. Nicht bloß gegen mich. Dir muß irgend was geschehen sein. Das Beste wär' schon, du sprichst dich aus.«

»Jawohl,« sagt er, »das will ich.«

Und dann erzählt er ihr eine Geschichte, wie es ihm in der Jugend ergangen ist. Er ist ein froher Bursch gewesen, Besitzerssohn, ansehnlich und beliebt. Und die Mädchen haben ihn gern gewollt zum Heiraten sywohl wie zu dem anderen. Und eine – die war wild und heimlich zugleich. Wie wohl die wildesten sind. Und nichts war ihr heimlich genug. Und eines Nachts im Finstern trafen sie sich unter dem Kadigbusch auf der Heide, wo sonst kein Menschenfuß hintritt. Da wollte sie ihm zu Willen sein. Aber plötzlich sind ringsum Lichter aufgetaucht von Jägern, die sich schon im Finstern auf eine Jagd begaben. Da hat sie zu schreien angefangen, daß er ihr Gewalt antue. Als ob sie am Speer stak, so hat sie geschrien. Und so ist er ins Unglück gekommen. Das hat ihn verfolgt von Ort zu Ort und ist stets offenbar geworden, wenn er ein Führungsattest gebraucht hat oder als Zeuge vor Gericht hat stehen müssen. Schließlich hat er im Moor eine Zuflucht gefunden, wo mancher bestraft ist und keinem viel Schaden daraus erwächst. Der Moorvogt weiß es und seine Frau. Sonst niemand. Bei der Frau hat er Rettung gesucht, aber die ist ja schon lang' keine Frau mehr. Und sobald eine andere ihm zugelächelt hat, ist ihm sofort der Gedanke gekommen: »Sie wird schreien.« Immer hört er das Schreien. Und dann zittert ihm das Gesicht, wie es ihm damals gezittert hat, als er sich stumm und ohne Verteidigung hat abführen lassen. So vertattert ist er gewesen, und so ist er noch heute.[141]

»Wie hast du dich dann aber an mir vergreifen können?« fragt sie und lächelt ihn an.

»Das weiß ich selber nicht,« sagt er und streicht sich übers Gesicht.

»Nun, ich hab' doch nicht geschrien,« sagt sie und lächelt ihn immerzu auffordernd an.

»Aber – abgewiesen hast du mich, und seitdem ist es schlimmer als je!«

Soll sie nun sagen: »Heute würd' ich dich nicht abweisen?« Das kann sie nicht. Das bringt keine Frau über die Lippen. Bloß seinen Arm streichelt sie und sagt: »Armer Nachbar.«

Sie denkt, er wird sie nun umfassen, aber was tut er? Er zittert und rückt von ihr weg und stöhnt: »Laß man, mir hilft keiner mehr.«

»Gott wird helfen!« sagt sie, wie man sagt: »Guten Tag« und »Guten Weg«.

»Auch Gott hilft mir nicht,« schluchzt er und ringt die Hände. »Ich hab' zu ihm gebetet bei Tag und bei Nacht, er soll die große Zuneigung von mir nehmen, aber geholfen hat er mir nicht.«

»Ich werd' für dich beten,« sagt sie. Sündigen möcht' sie viel lieber, aber man muß doch so tun.

Er in seiner Not greift den Gedanken auf wie der Hungernde den Knochen, den man zum Fenster hinauswirft.

»Ja, bet für mich, bet für mich, oder wenn du mir eine große Gnade antun willst, dann laß uns zusammen beten. Vielleicht daß Gott mich dann hört.«

Und richtig! Sie holt ihr Gesangbuch hervor und das von Jons, und jeder schlägt auf, und sie beten und beten.

Und siehe da! Immer frömmer wird ihr zumute. Sie denkt an die schlafenden Kinderchen draußen und an den Mann, der sich abschindet von früh bis spät, und bald begreift sie gar nicht mehr, daß sie eine so große Sünde hat begehen wollen.

Wie sie eine halbe Stunde gebetet haben, sagt sie: »Nun, Nachbar, fühlst du, daß es dir hilft?«[142]

Er schüttelt bloß den Kopf.

Sie denkt: »Aber mir hat es geholfen.« Und nun – ganz aufrichtig gesonnen – redet sie ihm gut zu und meint, sie möchte ihm ja gerne den Wunsch erfüllen, aber es gehe nicht an. Die Kinderchen sind noch so klein, und der Jons hat sie alle dreie so lieb, wenn er es auch nicht recht ausdrücken kann. Aber vielleicht wird es später einmal anders werden, so daß sie sich dann wegen des Unrechts nicht mehr so zu schämen braucht. Es könnte ja sein, daß Jons einmal zu trinken anfängt und sie schlägt oder so. Dann würd' sie sich kein Gewissen daraus machen.

Der Nachbar steht auf, tastet nach seiner Mütze und sagt im Gehen: »Ich werd' also warten.«

Und sie denkt: »Schade!« Aber wer weiß, wozu es gut ist?

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 131-143.
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