13

[81] Die Kartoffeln wurden gerade gesetzt, und alle arbeiteten auf den Feldern. Kaum einer sah sich nach ihm um, und so kam er unbeachtet bis nach Hause.

Der Hofhund bellte ihm freudig entgegen, und er streichelte ihn, denn das Kind hatte ihn lieb gehabt.

Das Haus war leer und alles offen. Ihn hungerte, aber er wagte nicht, sich ein Stück Brot zu schneiden, so fremd kam er sich vor auf seinem eigenen Besitz. Er sah sich erst in der Kleinen Stube um, wo das Bettchen zuletzt gestanden hatte. Aber nichts mehr war davon zu bemerken. Sie schien ganz ausgelöscht aus der Welt. Aber dann fand er auf Madlynens Brett ihre Schiefertafel stehen und eine Schnur mit Griffen daran zum Drüberspringen, wie er sie ihr einmal gemacht hatte.

Wenn er nicht so müde gewesen wäre, so wäre er auf den Kirchhof gegangen. Und so setzte er sich vor das Haus auf die Milcheimerbank, dort, wo die Sonne schien, und wartete. Dabei schlief er ein und wachte erst auf, als die Stimmen der Heimkehrenden im Hoftor laut wurden.

Die Alute war die erste, die ihn bemerkte. Sie richtete[81] sich hoch auf und schritt mit geraden Schritten auf ihn zu, während sie ihm ganz starr in die Augen sah. Sie freute sich nicht, aber sie hatte auch keine Furcht.

»Sie haben dich zur rechten Zeit freigelassen,« sagte sie, ihm die Hand reichend, »der Wirt ist gerade sehr nötig im Haus.«

»Ich werde schon arbeiten,« entgegnete er.

Dann ging sie, das Abendbrot machen.

Madlyne war hinter ihr gekommen. Er bemerkte, daß sie ganz schmal geworden war und daß um ihren Mund herum allerhand kleine Falten standen.

Sie reichte ihm auch die Hand und lief dann rasch fort.

Ein fremder Knecht war da, ein ältlicher Mann, mit dem die Alute sicher nichts vorgehabt hatte – »drum werd' ich ihn ruhig behalten können«, dachte er –, und eine Magd, die ihn schief ansah, weil sie nicht wußte, was sie aus ihm machen sollte.

Zum Abendbrot hatte die Alute rasch einen Hahn geschlachtet. »Damit alle erfahren, daß der Herr wieder da ist,« sagte sie.

Sie war nun ganz freundlich und sah ihn immer von unten auf an, wie eine Bittende.

Er tunkte die Kartoffeln ins Fett, ließ aber das Fleisch auf dem Rand liegen.

»Warum ißt du nicht?« fragte die Madlyne, der immer die Augen voll Wasser standen.

»Ich will's mir bis nachher verwahren,« erwiderte er, »denn ich hab' so was Gutes lang' nicht gehabt.«

Auch ein Glas Alaus bat er sich aus, rührte es aber nicht an.

Nach dem Essen trug er beides in die Kammer hinüber, wo er sich still hinsetzte, bis es dunkel wurde. Dann holte er sich einen Topf von der Herdwand und eine leere Flasche, tat Essen und Trinken hinein und verbarg es unter seinem Rock.

»Ich will nur noch einen kleinen Gang machen,« sagte er, und die beiden Frauen fragten ihn nicht, wohin.[82]

Das kleine Grab hatte er bald gefunden. Ein neues Holzkreuz stand zu Kopfenden mit einem Dachchen darauf, wie es die jungfräulichen Entschlafenen haben sollen, und zwei Vögelchen an den schrägen Enden. Die hatte sicherlich die Madlyne angebracht als Spielzeug für die Tote in der langen Ewigkeit.

Er wühlte in dem Sandef des Grabhügels eine kleine Kaule aus und stellte Topf und Flasche hinein. Dann glättete er den Sand wieder, so daß nicht das mindeste zu bemerken war.

Manche sind der Meinung, daß dies zur Nahrung für den Geist der Toten gut ist, andere aber – und die sind wohl in der Wahrheit – meinen, daß die böse Giltinne damit besänftigt wird, so daß sie der abgeschiedenen Seele die Ruhe nicht fortnimmt.

Und dann saß er noch eine Weile und dachte bei sich: »Hier ist gut sein.« Und ihm war, als sei er erst jetzt in die Heimat gekommen.

Als er wieder im Hause war und alle sich zum Schlafengehen bereiteten, sann er darüber nach, wohin er sich wohl legen sollte. Er wußte genau, daß, wenn er sich absonderte, der Hader von neuem losgehen würde. Darum kroch er in seines Weibes Bett, und sie tat so, als sei er nie weggewesen.

Nun fing sie auch aus freien Stücken von dem Kinde zu reden an. Gegen Gottes allmächtigen Willen sei Menschenkraft ohnmächtig; man müsse zufrieden sein, wenn man sich nichts vorzuwerfen habe.

Und sie weinte.

Er sagte nur: »Erzähle mir nichts.« Denn er wußte, daß er es nicht ertragen würde.

In dieser Nacht erschien der Geist des Kindes ihm nicht. Er freute sich, daß er mit der Gabe an die Giltinne das Rechte getroffen hatte.

Als er am nächsten Morgen den Spaten schulterte, um mit den andern in die Kartoffeln zu gehen, sagte die Madlyne zu ihm: »Ruh dich erst aus, du bist noch zu schwach.«[83]

Und er wunderte sich, daß sie so wenig von seinen Kräften hielt.

Aber als er eine Weile vorgegraben hatte, mußte er sich setzen, denn der Atem fing an, ihm zu fehlen, und die Madlyne sah ihn an wie die Mutter ihr krankes Kind. –

Auch die Alute war von nun an immer gut zu ihm. Sie brachte ihm Paradieskörner in Essig und andere stärkende Sachen, und er dachte: »Wenn das Kind noch lebte, was würde es jetzt für gute Tage haben!«

Die Erscheinung war nun nicht mehr wiedergekommen, und er begann schon, der Giltinne mit geringerer Ehrerbietung zu gedenken.

Und so vertraut war er inzwischen mit der Alute geworden, daß er sich eines Abends ein Herz faßte und zu ihr von den Erscheinungen sprach. Auch von dem Mittel, das sich dagegen bewährt hatte.

Sie lachte und sagte: »Wenn das so leicht ist, will ich dir Hähne schlachten, so viel du willst.«

Ja, so gut war sie jetzt immer zu ihm. Und er fragte sich manches Mal, warum er sich früher eigentlich vor ihr gefürchtet hatte.

Auch von der Krankheit des Kindes wollte er jetzt Näheres wissen. Nicht daß sein Kummer geringer gewesen wäre als in der ersten Nacht, nur hielt er sie jetzt so wert, daß er glaubte, sie würde die richtige Teilnahme haben.

Aber Alute erwiderte: »Du Armer würdest es auch heute noch nicht ertragen, drum warte noch eine kleine Weile.« Und so sagte sie immer aufs neue.

Da kam er auf den Gedanken, die Madlyne zu fragen. Aber die Madlyne war jetzt wie umgewandelt. Sie ging ihm aus dem Weg, wo sie nur konnte, sprach bei Tisch kein Wort und bohrte mit den Augen Löcher ins Holz.

Auch der Alute fiel das auf, und einmal sagte sie: »Die Madlyne muß aus dem Haus, und schickt sie auch die nächsten Freier zurück, die ich ihr aussuche, so setze ich ihr eines Tages Bettsack und Kasten vors Hoftor.«[84]

Er erschrak, daß er an einem so bösen Ende die Schuld tragen sollte, und beschloß, das Seine zu tun, um alles zum Besseren zu wenden.

Darum ging er der Madlyne eines Morgens zum Melken nach und sagte: »Du mußt nicht denken, Madlyne, daß ich dir vom Tod des Kindes etwas nachtrage.«

Sie stand von der Hocke auf und sagte: »Aber ich trage es mir nach.«

Er antwortete, die Rede Alutens nachsprechend, daß gegen Gottes allmächtigen Willen Menschenkraft ohnmächtig sei, und man müsse zufrieden sein, wenn man sich nichts vorzuwerfen habe.

Da legte sie plötzlich beide Hände auf seine Schultern, sah ihn lange mit den bohrenden Augen an, die sie jetzt immer machte, und sagte dann: »Schlaf bei mir, Miks Bumbullis! Dann werd' ich dir etwas erzählen, was zu wissen dir nottut.«

Er fühlte eine große Unruhe und antwortete: »Mir ist nach lockeren Streichen nicht zumut. Erzähl es mir auch so.«

»Nein,« sagte sie, »anders tu' ich es nicht.«

»Ich werd' es mir überlegen,« antwortete er und ging aus dem Stalle.

In derselben Nacht kam die Erscheinung wieder. Sie war in ihrem Hemdchen, hatte auf jeder Achsel einen Vogel sitzen und trug einen Stengel in der Hand, aber das war ein Schierlingsstengel.

Er sagte der Alute nichts davon. Und als der Abend kam, sparte er wieder sein Essen auf, holte sich heimlich einen Topf und trug es darin zum Kirchhof hinaus.

Er war des Glaubens, das alles sei unbemerkt geschehen, aber hinter dem Hofzaun stand Alute und sah ihm nach.

Diesmal gab die Giltinne sich nicht so leicht zufrieden, denn das Kind erschien ihm auch in der nächsten Nacht.

»Es wird wohl wieder ein Hahn sein müssen,« dachte er, aber ein unbestimmtes Gefühl hielt ihn ab, Alute zu bitten, daß sie ihn schlachte.[85]

Die Erscheinung kam immer wieder, und die Unruhe verließ ihn nicht mehr.

Da faßte er sich ein Herz, und während die Frau noch auf dem Felde war, ging er zu Madlyne in die Kammer. Als sie ihn kommen sah, stieß sie einen Seufzer aus und faltete die Hände wie eine, die sich bereit macht, selig zu sterben.

So schlief er also bei ihr, und als ihr Kopf an seiner Schulter lag, da kam es ihm zur Klarheit, daß er immer und immer nur nach ihr verlangt hatte.

Sie weinte ohne Aufhören und küßte ihm beide Hände.

Und dann ermahnte er sie, daß sie nun ihr Versprechen erfüllen solle.

Sie kniete vor dem Bett nieder und flehte: »Verlange es nicht! Verlange es nicht!«

Aber er verlangte es immer wieder.

Da sah sie, daß es kein Entrinnen mehr gab, und erzählte ihm, auf welche Art Alute das Kind umgebracht hatte. Und sie würde nie und nimmer zu überführen sein.

In seinem ersten Zorn griff er nach Madlynens Halse, um sie zu erwürgen, weil sie die Tat nicht verhindert hatte.

Sie sagte: »Drück nur zu! Drück nur zu! Oben am Hühnerbalken kannst du die Schlinge sehen, mit der ich mich aufhängen wollte. Und wärst du nicht so plötzlich gekommen, hätte ich es auch getan.«

Da sprang er aus dem Bette und lief nach dem Schleifstein. – – –

Alute arbeitete noch in den Kartoffeln, da sah sie einen Menschen auf sich zustürmen, der halb angezogen war und eine Axt schwang.

Und als sie ihren Mann erkannte, da wußte sie sofort, was geschehen war und daß es ihr nun ans Leben ging.

Sie rannte schreiend nach der Richtung des Dorfes hin, und er mit der erhobenen Axt hinter ihr drein.

Aber sie wagte nicht, nach einem der verstreuten Höfe einzubiegen, denn sie wußte, daß kein Türschloß und keine Menschenhand ihn hindern würde, die Tat zu begehen.[86]

So lief sie weiter, und der Raum zwischen ihr und ihm verkürzte sich immer mehr.

Da sah sie nicht fern das Haus des Gendarmen und erkannte gleich, daß sie sich für heute und künftig nur retten konnte, wenn sie dem alles gestand. Die Anstiftung würde ihr niemand nachweisen, und der Meineid war bald gebüßt.

Als ihr Verfolger einsah, wohin sie steuerte, da ließ er von ihr ab, denn des Wachtmeisters Pistolen waren immer geladen. Er kehrte um, und die Leute, die ihm gefolgt waren, gingen in großem Bogen um ihn herum.

Das Haus war jetzt so leer, wie er es bei seiner Heimkehr gefunden hatte. Auch nach Madlyne rief er umsonst.

Er zog sich einen warmen Rock an, steckte Geld in die Tasche, holte ein altes Gewehr hinter den Sparren hervor, das seit seiner Wilddiebszeit dort noch versteckt lag, und kroch auf dem Bauche von Graben zu Graben.

Als es finster geworden war, floh er über die Grenze. Rußland ist groß.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 81-87.
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