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[54] Der Grabhügel des alten Hegemeisters begann zu verfallen, denn niemand war da, der sein Andenken hochhielt. Um das Schicksal der kleinen Anikke entspann sich ein Prozeß zwischen dem Forstfiskus und der Gemeinde, der ihr verschollener Vater angehört hatte. Beide wollten die Erziehungspflicht einander in die Schuhe schieben. Und da der Fiskus an allzuviel Gemüt nicht krankt und die Weitläufigkeit der Verwandtschaft zwischen dem Toten und dessen verwaistem Pflegling ihm als ausreichender Grund zustatten kam, so blieb die kleine Anikke als unwillkommener Gast an jener Gemeinde hängen, die ihrerseits froh war, sie für ein kleines Entgelt an den Ort abschieben zu können, an dem sie die letzte Zeit über gehaust hatte.[54]

So wurde sie eines Tages beim Ortsschulzen öffentlich versteigert und kam an den Mindestfordernden, den Häusler Kibelka, einen wenig vertrauenerweckenden Zeitgenossen, der die paar Groschen brauchte, um sie in Branntwein anzulegen.

Wie so ein armes kleines Tierchen, von dem Gott und Menschheit die sorgenden Augen abgewandt haben, in seinem stummen Jammer leidet, das hat noch niemand erkannt und beschrieben, und niemand wird es je erkennen und beschreiben können. Was Hunger und Schmutz, was Prügel und Kälte, was vor allem das Fehlen jedes streichelnden Wortes in der noch nicht erschlossenen Seele ersticken und zerfressen, bis aus dem in unbewußter Zuversicht aufjauchzenden jungen Leben ein scheu zitterndes, in sich verkrochenes, kaum noch des Atmens fähiges Halbdasein geworden ist, das verliert sich in Dunkel und Schweigen. Alljährlich wird ein unermeßlicher Haufen von solchem Menschenkehricht ins Grab geschaufelt, wo es zu seinem Besten hingehört. Und nur wie durch ein Wunder senkt sich bisweilen von der Sonne eine Hand hernieder und hebt eins oder das andere der schon fast abgestorbenen Kümmerlinge zum Licht empor.

Ja, wenn die Sonne nicht wäre! Und der Hofhund allenfalls!

Neben dem Hofhund zu liegen und sich wie er von einem gutgesinnten Mittagssonnenschein sanft anwärmen zu lassen, bleibt schließlich das einzige Glück so eines glücklosen Schattengeschöpfes. – – –

Und plötzlich spitzte der Hofhund die Ohren, sprang anschlagend auf und fegte mit schleppender Kette den Kreis des ihm zugewiesenen Reiches.

Anikke, die allein zu Hause war, sah einen Menschen durch das Hoftor kommen, der sich vorsichtig umsah und dann auf die Hundehütte zuschritt, an der sie sich schutzsuchend festhielt.

Dicht vor den Zähnen des Hundes machte er halt und sagte: »Ist der Wirt zu Hause?«

Anikke wußte wohl, daß alle draußen Kartoffeln[55] gruben, aber um nichts in der Welt hätte sie antworten können.

»Wie heißt du?« fragte er weiter.

In ihrer Angst hatte sie den eigenen Namen vergessen.

Der Hund belferte dazwischen, und erst, als der fremde Mensch ihm mit seinem Stock eins überriß, zog er sich heulend gegen die Hütte zurück.

Dann kam der Fremde näher an sie heran, immer den Stock vorhaltend, in den der Hund sich verbiß. Sie wußte nun, daß sie geraubt werden sollte, und fing furchtbar zu weinen an.

Und dann fühlte sie sich am Arm erfaßt und mit jähem Rucke fortgezogen, während der Hund, von einem neuen Schlage getroffen, sich um und um kugelte.

»Wein nicht, wein nicht, ich tu' dir nichts,« hörte sie seine Stimme. Denn vor lauter Tränen sah sie nichts mehr. Aber in dieser Stimme klang irgend etwas, dessen sie nicht gewohnt war. Sie hörte zu weinen auf.

»Bist du die Anikke?«

»Ja – a.«

»Willst du ein Lakritzenholz haben?«

Lakritzenholz wollte sie gern, denn das aßen die großen Kinder manchmal, wenn die Schule aus war, aber sie bekam natürlich nichts davon ab.

Und dann gab der fremde Mensch ihr aus einer Tüte eine schöne gelbe Stange, in die sie auch gleich hineinbiß, denn sie hatte jetzt kaum noch Angst vor ihm.

Und nun wagte sie ihn sogar anzusehen. Böse sah er nicht aus. Viel guter als der Wirt. Und er roch auch nicht nach Schnaps. Sandfarbiges Haar hatte er und einen ebensolchen Schnurrbart. Und sie wußte jetzt auch, wo sie ihn schon gesehen hatte. Ein großer Saal war es gewesen wie in der Kirche. Aber statt eines Pfarrers im Talar hatte gleich ein ganzer Tisch voll dagesessen.

»Wie alt bis du, Anikke?«

»Ich werd' sieben.«

»Gehst du schon in die Schule?«

»Nein.«[56]

»Warum nicht?«

»Ich hab' nichts anzuziehen, sagt die Frau.«

Nun blickte er an ihr nieder und betrachtete lange das Lumpengezottel, in das sie notdürftig gehüllt war. Dann fragte er, wo er den Wirt wohl finden könne. Sie zeigte ihm die Richtung des Feldes und geleitete ihn auch ein Stück, denn sie mochte nun gar nicht mehr von ihm gehen.

Als er die Arbeitenden gewahrte, schenkte er ihr die ganze Tüte, die er in der Hand gehalten hatte, und sagte: »Versteck's, daß die anderen es dir nicht wegessen.«

Damit schickte er sie zurück und schritt in der Kartoffelfurche weiter, bis er auf den Wirt stieß, der mit Weib und drei Kindern kniend nach Kartoffeln wühlte. Und jedes von ihnen schimpfte und stöhnte auf seine Art.

Kibelka erkannte ihn gleich, und den Schmutz von den Hosen abschüttelnd stand er auf, ihm die Hand zu bieten. Denn wenn er auch nicht der Mörder war, so hätte er doch immer der Mörder sein können. Sich mit ihm gut zu stellen, war geraten.

»Du hast es natürlich immer sehr leicht gehabt,« sagte er, »denn wen der Staat ernährt, der ist geborgen.« Dabei lachte er höhnisch und einschmeichelnd zugleich, und das schwarzstoppelige Maul ging ihm bis an die Ohren.

»Ihr habt es hier um so schwerer,« sagte Miks Bumbullis, die Fläche überblickend, die in ihrem dürren Kraut unausgegraben dalag.

Auch das Weib war aufgestanden und wischte sich die Hand an dem sacktuchenen Schurzfell. Sie war eine vermickerte, gelbe Ziege mit scharfen, mitleidlosen Augen. Und die drei Rotznasen gafften.

Die beiden Kibelkas hoben ein Klagelied an. Der nasse September – und schon alles im Faulen – und fremde Hilfe zu teuer. –

»Wenn Ihr billige Hilfe braucht,« sagte Miks, »ich wüßte wohl eine.«

»Wer wird so dumm sein!« lachte der Wirt. »Selbst der Henker läßt sich bezahlen.«[57]

»Ich hab' mir einiges gespart,« sagte Miks, »und wenn man mir sonst freie Hand läßt, bring' ich noch ab und zu was in die Wirtschaft.«

Die beiden sahen sich an. Dann schlugen sie rasch und gierig ein und fragten nicht weiter.

So wurde Miks Bumbullis Knecht bei dem Pfleger Anikkes.

Anfangs schien er sich nicht viel um sie zu kümmern, und es vergingen drei Tage, ehe er sich erkundigte, was das für ein kleines Ungeziefer sei, das da immer im Hause herumkrieche.

Die beiden Kibelkas wollten nicht recht mit der Sprache heraus, denn der Mordverdacht saß ihnen stets in den Gliedern. Aber schließlich erzählten sie doch, wie sie zu dem Kinde gekommen waren und daß sie es eigentlich bloß um Gottes Barmherzigkeit willen bei sich behielten.

Er nahm die Nachricht sehr gleichmütig auf und sagte nur: »Der Vater soll in Amerika sein. Wenn der einmal reich zurückkommt, wird er jeden belohnen, der gut zu dem Kinde gewesen ist.«

Das gab den Kibelkas zu denken. Am nächsten Mittag durfte das kleine, bleiche Lumpenbündelchen, das sonst von dem Ofenwinkel her stumm wartend herübersah, mit den Kindern zu Tische sitzen.

Als der Sonnabendabend kam, verschwand Miks Bumbullis und kam am Sonntagvormittag mit einer Flinte wieder, die sehr verrostet und in den Spalten mit Erde verklebt war.

Die Kibelkas fragten nicht, wo er sie hergeholt hatte, und alle standen ringsum und sahen voll Hochachtung zu, wie er mit dem Schraubenschlüssel die Teile auseinandernahm und jeden einzelnen putze und ölte, bis die Waffe blitzblank und schußbereit wiedererstand.

Und wiederum am Sonntag gab es bei den Kibelkas ein Rehstück zu Mittag, was nicht passiert war, solange die Welt stand. Alle schwelgten, und selbst der Hofhund bekam seinen Knochen.

Die kleine Anikke saß in einem neuen, rotbunten Kleidchen[58] da, das der Miks ihr mitgebracht hatte, wurde von den Hauskindern mit neidischen Liebkosungen versehen und wußte nicht, wie ihr geschah.

»Ich verstehe ja deine Meinung,« sagte der Wirt, »aber wenn der Vater nicht aus Amerika kommt, dann hast du dich sehr verrechnet.«

»Dann tu' ich's wie ihr um Gottes Lohn,« erwiderte Miks, »man muß sich immer ein Beispiel nehmen.«

Kibelka lachte geschmeichelt und prostete seinem Knecht zu, denn die Schnapsbuddel saß ihm allzeit locker.

»Nun solltet ihr sie aber auch zur Schule schicken,« meinte Miks Bumbullis so nebenbei.

Die Frau hub wie gewöhnlich zu klagen an. Der Gendarm sei schon zweimal dagewesen, und sie schlafe nicht mehr bei dem Gedanken, man könne schließlich noch Strafe zahlen.

Diese Angst wurde nun überflüssig. Und als Anikke am Montag morgen die Kinder zur Schule begleiten sollte, fand sich an ihrer Lagerstatt sogar eine Schiefertafel.

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 6, Stuttgart und Berlin 1923, S. 54-59.
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