16

[148] Der Winter kam und verging ... Die Heide schneite ein und grünte wieder ... Die Ranunkeln hoben ihre goldigen Häupter ... der Wacholder trieb seine zarten Sprossen, und vom blauen Himmel herab tönte Lerchengewirbel.

Nur in dem düsteren Heidehaus wollte es noch immer nicht Frühling werden. Wohl hatte Paul es möglich gemacht, das Korn zur Aussaat zu beschaffen, auch erhob sich bereits ein hölzerner Bau auf der Trümmerstätte, aber die Hoffnung auf bessere Zeiten war immer noch nicht eingekehrt. Dumpf und freudlos tat er seine Pflicht, und tiefer und tiefer gruben sich die Furchen in seine Stirn. Mehr denn je grübelte er in sich hinein, und die Sorge, einen Meineid geleistet zu haben, lastete schwer auf ihm.

Wohl Monate vergingen, ehe er sich klar wurde, daß sein Grämen nichts weiter war als müßige Tüftelei, die seinem verängstigten wortklauberischen Sinne entsprungen war. Er überlegte sich genau die Frage, die der Präsident an ihn gerichtet hatte, und fand, daß er nicht anders hätte antworten können. Es war ja in der Tat das erstemal gewesen, daß er in den fremden Garten gedrungen war. Was einst in einer wonnigen Mondnacht diesseits des Zaunes geschehen, was ging das die Herren vom Gerichte an?

»Nein, ein Meineidiger bin ich nicht,« sprach er zu sich, »ich bin nur ein Feigling, ein Pinsel, der vor dem bloßen Schatten einer Tat zurückschreckt. Hätte ich nicht stolz und freudig den falschen Eid schwören müssen um Elsbeths willen? Dann wäre ich doch etwas, dann hätte ich doch irgendwas getan, während ich nun stumpf und mutlos dahinlebe, ein Knecht und weiter nichts.«

Und in dem Hirne dieses Musterknaben stieg der glühende Wunsch auf, ein großer Verbrecher zu sein, nur weil es ihn drängte, sein »Ich« zu bestätigen. Die beiden Stunden, da er auf dem Dach und vor den Schranken gestanden, galten ihm jetzt als der Inbegriff irdischer Glückseligkeit,[149] und je mehr er arbeitete und schuf, desto träger und nutzloser erschien er sich nun.

Der Vater war noch immer an seinen Tragestuhl gefesselt, den er allem Anschein nach nicht mehr verlassen sollte, denn das gebrochene Bein war schlecht geheilt. Mürrisch und müßig saß er in seinem Winkel, blätterte stumpfsinnig in einem alten Kalender und schalt auf jeden, der ihm in den Weg kam. Nur vor Paul hegte er eine Art widerwilligen Respektes, er grollte in sich hinein, sobald er ihn sah, wagte aber nicht mehr, ihm offen zu widersprechen.

Und die Mutter!

Ein wenig müder war sie geworden, ein wenig stiller noch, sonst war wenig Veränderung an ihr wahrzunehmen, wer aber schärfer hinhörte, der vernahm in den Lüften ein Rauschen, als flöge ein Geier über dem Heidehause hin und her und zöge enger und enger seine Kreise, um sich eines Tages auf seinen Raub herabzustürzen.

Sie selbst hörte das Rauschen wohl, sie wußte auch, was es bedeutete, aber sie schwieg, wie sie ihr Lebtag geschwiegen hatte.

Und das Glück war noch immer nicht gekommen ...

Zu Anfang April legte sie sich nieder. »Allgemeine Schwäche« konstatierte der Arzt und empfahl ihr den Besuch eines Stahlbades. Sie lächelte und bat ihn, zu niemandem von dem Stahlbade zu reden, denn sie wußte, daß Paul sich zuschanden arbeiten würde, um ihr die Kur zu ermöglichen.

Die Kur, die doch nichts half! Sie wußte wohl, was ihr fehlte: der Sonnenschein! Zu dicht hatte Frau Sorge den düsteren Schleier um sie gebreitet, als daß ein Strahl noch in ihre Seele hätte dringen können.

Den Zwillingen oblag nun die Sorge um die Wirtschaft. Und flink ging ihnen die Arbeit vonstatten, das mußte selbst Paul gestehen. Wenn sie etwas zerschlagen hatten, lachten sie, und wenn ihnen ein Spaziergang verwehrt wurde, weinten sie, aber das Weinen schlug bald wieder in Lachen um, und der Tisch war nie so prompt bestellt, das Milchgeräte nie so blitzend blank gewesen.[150]

Die Mutter sah das wohl von ihrem Fenster aus und sagte: »Es ist gut, daß ich von dannen gehe – ich war auch zu nichts mehr nütze auf der Welt.«

Um die Pfingstzeit begann ihr der Schlaf zu fehlen, auch Fieber stellte sich ein ...

»Ach, wie ist das Chinin so teuer!« seufzte Paul, wenn der Knecht in die Apotheke ritt, und schaute hilfesuchend auf die »schwarze Suse«, aber die rührte sich nicht. Oft mußten die Ackerarbeiten eingestellt werden, damit durch den Torfstich ein paar Groschen in die Wirtschaft kämen.

Die Mutter fing an, an Beängstigungen zu leiden, und wünschte dringend, daß jemand nächtlich bei ihr wache. Die Zwillinge aber, die sich tagsüber müde gearbeitet hatten, schliefen abends an der Seite der Kranken ein und sanken wohl quer über ihrem Bette, so daß die alte, schwache Frau oft noch die blühende Last der jungen Leiber zu tragen hatte.

Paul schickte die Schwestern zur Ruhe und übernahm selber das Wachamt.

»Geh schlafen, mein Sohn,« sagte die Mutter, »du brauchst von uns allen die Rast am nötigsten.«

Aber er blieb – und in den Maiennächten, wenn draußen im Garten die Blüten flüsterten und der Fliederduft durch die Ritzen quoll, saßen die beiden oft stundenlang Hand in Hand und sahen sich an, als ob sie sich wunder was zu sagen hätten. So war es schon immer zwischen Mutter und Sohn gewesen. Die Fülle ihrer Liebe suchte nach Worten, aber die Sorge hatte ihnen die Sprache geraubt.

Morgens, wenn die Sonne aufgegangen war, tauchte er den Kopf in eiskaltes Wasser und ging an die Arbeit. –

Seine Gegenwart gab der Mutter soweit den Frieden, daß sie dann und wann zu schlafen vermochte. Alsdann schlich er sich auf Zehenspitzen in seine Kammer und holte die physikalischen Bücher herunter, in denen so gelehrt und unverständlich die Konstruktion der Dampfmaschinen beschrieben war. Sein Kopf, müde vom vielen Wachen und jeder Geistesarbeit entwöhnt, erfaßte nur[151] schwer den Sinn der dunklen Worte – aber – er hatte ja Zeit, und unentwegt arbeitete er fort, Seite um Seite, wie wenn ein Ackersmann ein steiniges Brachfeld pflügt.

Schlug die Mutter die Augen auf, so fragte sie: »Wie weit bist du, mein Sohn?«

Und dann mußte er ihr erzählen, und sie tat so, als verstände sie etwas davon.

Fragte sie aber: »Und wozu tust du das?«, dann machte er ein schlaues Gesicht und sagte: »Ich lerne Goldmachen.«

»Mein armer Junge,« erwiderte sie und streichelte seine Hand.

Eine Nacht war's – gleich nach den Pfingstfeiertagen – da konnte sie wieder nicht einschlafen.

»Lies mir aus den gelehrten Büchern vor,« sagte sie, »die sind so hübsch langweilig. Vielleicht fallen mir dabei die Augen zu.«

Und er tat, wie sie geheißen, aber als er wohl eine Stunde gelesen hatte, bemerkte er, daß sie ihn mit großen fieberglänzenden Augen anstarrte und dem Einschlafen ferner war als je.

»Also daraus willst du Gold machen?« fragte sie.

»Ja, Mutter,« erwiderte er betreten, denn die Wiederkehr des Fiebers ängstigte ihn.

»Wie willst du das anfangen?«

»Du wirst schon sehen,« sagte er wie gewöhnlich.

Aber diesmal ließ sie sich nicht abtrösten. »Sag's mir lieber, mein Junge,« bat sie, »sag's mir gleich ... Wer weiß, was geschieht? ... Ich möchte wenigstens 'ne Kleinigkeit für mich zum Trösten haben, bevor ich einschlafe.«

»Mutter,« rief er erschrocken.

»Sei ruhig, mein Junge,« sagte sie, »was liegt daran? Aber erzähl' mir – erzähl!« Sie bat, wie in aufsteigender Angst, als könnte es in der nächsten Minute zu spät sein.

Mit stockendem Atem und wirren Worten sprach er von dem, was ihm vorschwebte, wie er die »schwarze Suse« zum Leben erwecken wollte, so daß das Moor ausgeschöpft[152] werden könnte bis in seine tiefsten Tiefen – aber mitten im Reden überwältigte ihn die Angst, er stürzte schluchzend vor dem Bette auf die Knie und verbarg das Gesicht an ihrer Brust.

Sie hieß ihn sich aufrichten und sagte: »Es ist nicht recht von mir, daß ich dich bange gemacht habe. So Gott will, kann ja noch alles anders kommen. – Was du mir da sagst, hat mir große Freude bereitet. – Ich weiß, wenn du was in die Hand nimmst, läßt du's so bald nicht fallen. Ich wünschte nur, ich könnt's noch erleben.«

So sprach sie ihm leise und unbemerklich wieder Mut ein, da sie für sich selber nichts mehr zu hoffen hatte.

In einer anderen Nacht, als er übermüdet auf dem Stuhle eingeschlafen war, rief sie seinen Namen.

»Was wünschst du, Mutter?« fragte er auffahrend.

»Nichts,« sagte sie. »Verzeih mir, ich hätte dich sollen ruhen lassen. – Aber, wer weiß, wieviel wir miteinander noch reden werden – ich möchte die Zeit gerne ausnutzen.«

Er war dieses Mal allzu schlaftrunken, um den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Er setzte sich dichter neben sie und faßte ihre Hand, aber die Augen fielen ihm sogleich wieder zu.

Sie glaubte ihn wachend und fing an zu reden: »Ich bin einmal ein sehr lustiges junges Ding gewesen, nicht viel anders wie deine Schwestern ... Das Herz hat mir vor Jubel fast zerspringen wollen, und meine Augen haben immer in die Ferne geschaut, als müßte von dort irgend etwas ungeheuer Schönes dahergefahren kommen – ein Prinz oder sonstwas derart. Einmal hab' ich auch zu lieben angefangen – mit der anderen Liebe, der großen, der himmlischen, die wie das Schicksal über einen kommt. Aber er hat mich nicht haben wollen – er war schlank und blond und hatte eine Warze auf dem Kinn. Die Warze hab' ich immer küssen mögen, aber ich bin nie dazu gekommen. – – Er sah meine Liebe wohl, und eines Tages, als er besonders übermütig war, hat er mich in den Arm genommen und hat mich geherzt und dann wieder[153] laufen lassen. – – Ich war aber fröhlich und freute mich, daß er mich doch einmal im Arm gehalten.«

Sie hielt inne. Ihr Auge leuchtete, ihre Wangen überfloß ein rosiger, fast mädchenhafter Schimmer – sie hatte sich wunderbar verjüngt. Da sah sie, daß er eingeschlafen war, und traurig schwieg sie stille.

Als er erwachte, sagte er: »Mir war so, Mutter, als ob du mir was erzähltest.«

»Du hast wohl nur geträumt,« sagte sie und lächelte, aber ihre Gedanken waren inzwischen weiter und weiter gewandert durch ihr ganzes Leben hin und hatten aus allen Winkeln die Restchen der Freude hervorgekehrt, die sich allda verkrochen.

»Ich weiß eigentlich nicht,« sagte sie, »warum ich mein Lebtag so traurig gewesen bin. Wenn ich zurückdenke, ein großes Unglück ist mir eigentlich niemals passiert. Zwar schön war es nicht, als wir von Helenental heruntermußten, und als ich die Stube von der brennenden Scheune blutrot beleuchtet sah, war mir der Schreck schlimm genug in die Glieder gefahren, aber im großen ganzen hab' ich's doch immer recht gut gehabt. – Ich hab' euch Kinder alle großgezogen und kein einziges durch den Tod verloren – zu essen und zu trinken haben wir auch immer gehabt. – Der Vater hat zwar manchmal gebrummt, aber das ist nicht anders in der Ehe, das wirst du selbst einmal erleben. – – Ihr Kinder habt mich alle liebgehabt. – Ihr Jungen seid tüchtige Männer geworden, und die Mädchen werden tüchtige Frauen werden, so Gott will und du sie nicht aus den Augen läßt. Was will ich denn nun eigentlich?«

Und so quälte dieses arme, allmählich zu Tode gemarterte Weib sich ab, um zu erfahren, wodurch es zu Tode gemartert worden. Langsam lüftete Frau Sorge den Schleier von ihrem Haupte, damit der Tod ihr ins Antlitz hauchen könne.

Und eines Abends starb sie ... Die Augen fielen ihr zu, sie wußte selbst nicht wie. Der Arzt, der noch gerufen wurde, sprach von Entkräftung, Anämie; nur die[154] Empfindsamen sagen in solchen Fällen: »Sie starb an gebrochenem Herzen.«

Bitterlich weinend knieten die Zwillinge an ihrem Bette, der Vater, der in seinem Stuhl hereingetragen worden, schluchzte laut und wollte sie mit Gewalt ins Leben zurückrufen ... Paul stand zu Kopfenden des Bettes und biß sich auf die Lippen.

»Ich hab' doch recht behalten,« dachte er, »sie ist gestorben, eh' das Glück gekommen ist. Hungrig hat sie von der Mahlzeit des Lebens aufstehen müssen, ganz wie ich es sagte.«

Er wunderte sich, daß er keinen so großen Schmerz empfand, wie er es sich vorgestellt hatte. Nur die wirren Gedanken an allerhand dummes Zeug, die ihm fortwährend durch den Kopf schossen, wie Fledermäuse durch die Dämmerung, zeigten ihm, wie es mit seinen Sinnen bestellt war.

Es schlug Mitternacht, da sagte der Vater: »Wir wollen zur Ruh' gehn, Kinder ... Wer schlafen kann, der schlafe ... Schwere Tage stehen uns bevor.«

Er umarmte die Zwillinge, schüttelte Paul die Hand und ließ sich in sein Zimmer tragen.

»Wie gut der Vater heut ist!« dachte Paul, »er ist zu ihren Lebzeiten nie so gewesen.« Die Schwestern klammerten sich schluchzend an seinen Hals und verlangten, daß er bei ihnen wache. Sie hätten solche Furcht.

Paul redete ihnen tröstend zu, geleitete sie in ihre Kammer und versprach, in einer Stunde nach ihnen sehen zu kommen.

Als er nach dieser Frist mit einem Lichte in der Hand leise an ihr Bette trat, fand er sie fest eingeschlafen. Sie hatten sich eng umschlungen, und auf ihren roten Wangen standen noch die Tränen.

Dann ging er an die Tür von Vaters Zimmer, um zu horchen, und als er auch hier keinen Laut vernahm, schlich er sich auf den Zehenspitzen in das Gemach, in dem die Tote ruhte. Er wollte zum letztenmal an ihrer Seite Wache halten.[155]

Die Schwestern hatten beim Schlafengehen ein weißes Tuch über ihr Antlitz gebreitet, das nahm er hinweg, faltete die Hände und sah zu, wie der flackernde Schein des Lichtes auf ihren wächsernen Zügen spielte. Sie hatten sich wenig verändert, nur das blaue Adergeäst in den Schläfen trat stärker hervor, und die Augenwimpern warfen tiefere Schatten auf die abgezehrten Wangen.

Er zündete die Nachtlampe an, die während ihrer Krankheit allnächtlich an ihrem Lager gebrannt hatte, setzte sich auf den Stuhl, auf dem er sonst gesessen, und gedachte eine stille Totenandacht zu halten.

Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er vergessen hatte, nach dem Tischler zu schicken, damit er zeitig käme, Maß zu nehmen. – Ein schlichter Tannensarg sollte es sein – schwarz angestrichen – und ringsum eine Girlande von Erikazweigen, denn sie hatte das stille, zarte Pflanzenwesen vor allen andern geliebt.

»Was wird der Sarg wohl kosten?« dachte er weiter, und plötzlich erschrak er in tiefster Seele, denn er hatte nichts, wovon er die Tote begraben konnte. Er fing an zu zählen und zu rechnen, aber er konnte zu keinem Abschlusse kommen.

»Es ist das erstemal, daß sie für ihre Person etwas braucht,« sagte er leise vor sich hin und gedachte des verschossenen Kleides, das sie jahraus, jahrein getragen hatte.

Er rechnete alles zusammen, was er an Außenständen in Eile wohl eintreiben konnte, aber die Summe war klein und bei weitem nicht genügend, die Begräbniskosten zu bestreiten. Auch die drei Fuder Torf, die er morgen und übermorgen allenfalls nach der Stadt schicken konnte, vermochten daran nichts zu ändern.

Darauf nahm er ein Blatt Papier vor und fing an, die Kosten zusammenzuzählen:


Ein Sarg 15 Taler

Der Platz auf dem Kirchhof 10 Taler

Dem Küster 5 Taler

Das Linnen zum Totenhemde 2 Taler
[156]

Dann die Kosten des Begräbnisses, das der Vater wahrscheinlich so großartig wie möglich hergerichtet wissen wollte:


10 Flaschen Portwein 10 Taler

1 Kiste Zigarren 2 Taler

2 Achtel Bier 2 Taler


Zutaten für den Kuchen ... das Weizenmehl war zwar im Hause, aber Zucker, Rosinen, Mandel, Rosenwasser usw. mußten neu beschafft werden. Wieviel würde das wohl ausmachen? Er rechnete eifrig, aber die Taxe wollte nicht stimmen. »Die Mutter wird's schon wissen,« dachte er, und eben wollte er sie um Rat fragen, da – sah er, daß sie tot war.

Er erschrak heftig. Erst jetzt, da seine Phantasie sie wieder lebendig gemacht hatte, begriff er, daß er sie verloren. – Er wollte laut aufschreien, aber er bezwang sich, denn er mußte weiterrechnen.

»Verzeih mir, Mütterchen,« sagte er, mit der Rechten ihre kalten Wangen streichelnd, »ich kann noch nicht um dich trauern, ich muß dich erst unter die Erde bringen.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Drei Tage später sollte das Begräbnis stattfinden.

Wie Paul vorausgesehen, hatte der Vater es sich nicht nehmen lassen, eine große Festivität zu veranstalten. An alle seine Freunde in der Stadt hatte er Einladungen gesandt, auf schönem Glanzpapier mit fingerbreitem Trauerrande. – Seinem Schmerze hatte er darin in schönen, wohlgewählten Worten Ausdruck gegeben, auch nirgends versäumt, seinen Namenszug mit einem weitausgreifenden Schnörkel zu versehen.

Am Wachtabend, als die Leiche eben aufgebahrt worden, trafen die beiden Brüder ein. Sie waren seit vielen Jahren nicht daheim gewesen, und Paul hätte sie beinahe nicht wiedererkannt. Gottfried, der Gymnasiallehrer, ein würdiger Mann mit strengem Gesichtsausdruck und dem Ansatz zu einem Bäuchlein, führte eine junge, schwarzbeflorte Dame am Arm, seine Braut, die mit verwundertem Blicke die niedrigen, ärmlichen Räume[157] maß und sich bemühte, eine ebenso freundliche wie schmerzbewegte Miene zu zeigen, da ihre Lage beides von ihr verlangte ... Max, der Kaufmann, kam hintendrein. Er sah ein wenig locker aus, sein kecker Schnurrbart wollte sich vergebens in die Gemütsverfassung eines frischverwaisten Sohnes hineinzwängen, und seine Trauer äußerte sich weniger in Schmerz als in Unbehagen.

Beide Brüder umarmten den Vater feierlich, und die fremde junge Dame neigte sich hernieder und küßte ihm erst die Hand und dann die Stirne. – Alsdann begrüßten sie die Zwillinge, die in ihren Trauerkleidern frischer und lieblicher dreinschauten denn je. – Paul, der an der Türe stand und verlegen seine Mütze drehte, hatten sie übersehen.

Endlich fragte Gottfried: »Wo ist unser Bruder?« Da trat er schüchtern vor und reichte ihm die Hand ...

Drei Augenpaare maßen ihn prüfend ...

»Wär' ich doch erst draußen!« dachte er, und sobald es anging, machte er sich in dem Stalle zu schaffen.

Gottfried folgte ihm dorthin. Paul erschrak, als er ihn kommen sah, denn er wußte nicht, was er mit dem vornehmen Mann reden sollte.

»Lieber Bruder,« sagte jener, »ich habe eine Bitte an dich. Kannst du meiner Braut nicht ein freundlicheres Logis verschaffen? Sie fühlt sich ein wenig beengt in der Kammer der Mädchen.«

»Ich werde ihr mein Giebelzimmer einräumen,« sagte Paul.

»Du würdest mich zu Dank verpflichten, wenn du es tätest.«

Dann richtete er noch etliche Fragen an ihn über die Leiden der Mutter, über den Viehstand und über die Hypotheken, die auf dem Grundstück lasteten.

»Ihr Armen,« sagte er, »habt wohl manche Sorgen gehabt. Aber hast du es dir auch angelegen sein lassen, die letzten Tage unserer seligen Mutter so viel als möglich zu erleichtern?«

Paul versicherte, er hätte getan, was in seinen Kräften gestanden.[158]

»Das freut mich,« erwiderte der Bruder in strengem Tone, »es wäre eine schwere Pflichtversäumnis gewesen, wenn du es unterlassen hättest. – Und nun komm, laß uns gemeinsam vor die Leiche der Verklärten treten, damit sie vom Himmel herab die Ihren all beieinander schaue.«

Er bot Paul die Hand und zog ihn in das Zimmer, in dem die Mutter friedlich zwischen Blumen und Lichtern ruhte und wo die andern schon versammelt waren.

Paul blieb beklommen in der Tür stehn. Er hätte viel darum gegeben, hätte er für einen Augenblick mit der Toten allein sein können, da es aber nicht anging, schlich er sich leise hinaus und schaute von draußen durch das Fenster, wo die fremden Gaffer aus dem Dorfe standen, als wäre er einer von ihnen ...

Eine Weile später kam Max zu ihm und führte ihn vertraulich beiseite.

»Ich habe eine Bitte an dich, lieber Junge,« sagte er, »die Kehle ist mir ganz ausgetrocknet vom Wegstaub und vom Weinen. Kannst du mir nicht einen Schluck Bier verschaffen?«

Paul erwiderte, es wären wohl zwei volle Achtel da, die sollten aber erst morgen zur Begräbnisfeier angesteckt werden.

»Gib mir nur immer den Kran,« antwortete Max, »ich verstehe mich darauf. Das Bier im Achtel wird morgen so frisch sein wie heute.«

Und als Paul ihm seinen Willen getan, drehte er ihm den Rücken und ging von dannen.

Um elf Uhr wurden die Kerzen am Sarge ausgelöscht man begab sich zur Ruhe.

Paul fand, daß kein Bett mehr für ihn übrig war, und kletterte auf den Heuboden, wo er die Nacht über grübelnd aufrecht saß ...

Um zehn Uhr morgens fanden sich die ersten Gäste ein, und zwar solche, die weder zugesagt hatten noch überhaupt erwartet wurden. Als Paul sie kommen sah, war[159] sein erster Gedanke: »Hab' ich auch genug Essen und Trinken besorgt?« und je mehr Wagen auf den Hof gerollt kamen, je mehr wildfremde Männer den Seinen die schwarzbehandschuhten Hände entgegenstreckten, desto höher schwoll seine Angst, desto lauter klangen die Worte ihm ins Ohr: »Es wird nicht reichen!«

Der Vater hatte heute wieder einmal seinen großen Tag. Er saß in seinem Tragesessel wie auf einem Throne – seine beiden ältesten Söhne wie Vasallen um sich her – und ließ sich in seinem Schmerze bewundern.

Wenn ein neuer Gast auf ihn zutrat, preßte er die dargebotene Rechte mit seinen beiden Händen, als ob er derjenige wäre, welcher zu kondolieren hätte, neigte gramvoll das Haupt und sprach mit schmerzerstickter Stimme abgebrochene Worte, wie: »Ja, sie ist dahin! – Hin ist hin! – – Es gibt keinen Balsam für die Wunden des Herzens! – Möge der Himmel an ihr gutmachen, was die Erde verschuldete,« und dergleichen mehr.

Dazwischen rief er zu Paul: »Mein Sohn, du sorgst nicht für Wein! – Mein Sohn, Herr Wegmann wünscht eine Zigarre! – Mein Sohn, denke daran, daß unsere Gäste sich erlaben.«

Paul lief von einem zum andern, gleich einem Kellner, zählte voll Angst die Flaschen, die sich mit rapider Hast verringerten, und beneidete die Schwestern, die sich in ihren schönen, schwarzen Kleidern ruhig in eine Ecke setzen und von Herzen ausweinen durften, während die fremde Schwägerin sie tröstete. – An die Trauerkleider hatte er in seiner Berechnung gar nicht gedacht, und es war ein Glück, daß der Kaufmann sie ihm gutschrieb, sonst hätten die Schwestern sich nicht sehen lassen dürfen.

Er selbst sah in seinem unscheinbaren grauen Anzug gar nicht wie ein Leidtragender aus, und die meisten der Gäste, die ihn nicht kannten, gingen ruhig an ihm vorüber und nahmen nur Notiz von seiner Existenz, wenn er ihnen Wein und Zigarren anbot.

Auf dem Hofe hatte sich eine Anzahl fremder Frauen eingefunden, die die Mutter ihres stillen, schlichten[160] Wesens halber lieb gehabt hatten und sich dem Zuge anschließen wollten, ohne daß sie zur Trauergesellschaft gehörten.

Der Feldherrnblick des Vaters hatte sie alsbald entdeckt.

»Paul, mein Sohn,« rief er, »geh hinaus und nötige die Damen ins Trauerhaus.«

Zögernd folgte Paul dem Befehle, denn er wußte nicht, wie er die Einladung in Worte kleiden sollte. Als er auf die Schwelle trat, fiel sein erster Blick auf Elsbeth, die in einfachem Trauerkleide unter den Frauen des Dorfes stand und einen Kranz von weißen Rosen trug. Und als sie ihn sah, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

Für einen Augenblick war ihm zumute, als sollte er den Kopf in die Falten ihres Kleides pressen, um sich dort auszuweinen, aber daneben standen die andern und starrten ihn an. Er machte eine linkische Verbeugung und sagte: »Der Vater läßt bitten – ob Sie die Tote nicht sehen möchten.«

Die Frauen schoben sich langsam in das Innere, nur Elsbeth zögerte noch.

»Kommst du nicht auch herein?« fragte er.

»Mein armer, lieber Paul,« sagte sie und ergriff seine Hand.

Er schloß die Augen und taumelte zwei Schritte zurück.

»Komm doch,« sagte er, sich wieder fassend, »sieh sie dir an, sie hat dich ja immer so lieb gehabt.«

»Paul, mein Sohn, wo bist du?« hallte die Stimme des Vaters aus dem Innern.

»Paul,« sagte sie stockend unter quellenden Tränen, »du sollst nicht verzagen, es gibt noch andre, die dich – lieb haben.«

»O ja,« sagte er, »ich weiß wohl – aber komm – ich muß Wein einschenken.«

Sie seufzte tief auf, dann ging sie schüchtern hinter ihm drein und mischte sich wieder unter die fremden Frauen.

»Paul, komm her!« winkte der Vater, der sich heute[161] in seine alte Macht zurückzuträumen schien, und als Paul den Kopf zu ihm niederbeugte, flüsterte er ihm ins Ohr: »Ich höre, der Wein ist alle? Was heißt das? Willst du uns blamieren?«

»Ich glaub', es sind noch ein paar Flaschen da,« antwortete Paul.

»Sorg, daß sie reichen, bis der Pfarrer kommt; den Frauen mußt du aber auch ein Glas geben, hörst du?«

»O, käme doch der Pfarrer bald!« seufzte Paul und mühte sich ab, die Gläser nur halb voll zu schenken.

Und endlich war der Pfarrer da. Die Gesellschaft drängte sich ihm nach in das Zimmer, in dem die Tote aufgebahrt lag. – Der ganze Raum war gebadet in Sonnenglanz, und durchbrochene Lichter, die ihren Weg durch das leise sich neigende Lindengeästel genommen hatten, spielten lustig auf dem marmorbleichen Angesicht.

Paul half den Stuhl des Vaters an das Kopfende des Sarges tragen, dann zog er sich in einen stillen Winkel zurück, wo er die Trauergesellschaft im Rücken hatte und sich ein wenig ausruhen konnte, denn er war müde vom vielen Herumlaufen.

Aber man ließ ihn nicht zu sich selber kommen. »Wo ist der jüngste Sohn?« fragte der Pfarrer, der die ganze Familie um sich versammelt haben wollte.

»Paul, mein Kind, wo bist du?« rief der Vater.

Da mußte er hervortreten und erhielt seinen Platz dicht hinter dem Sargende, neben dem Stuhle des Vaters.

Durch die Trauergesellschaft ging ein Murmeln, und einige sahen sich bedenklich an, als wollten sie sagen: »Also, das ist auch ein Sohn? – Dann haben wir ja einen Verstoß gemacht.«

Auch dem Pfarrer war das Spiel der Sonnenlichter aufgefallen, und er nahm es zum Thema seiner Rede. Wohl glänze unsere Erdensonne hell und freudenhaft, aber das sei noch gar nichts – das sei die pure Finsternis, verglichen mit dem himmlischen Sonnenschein. Alsdann pries er die Tote und pries auch die Hinterbliebenen, vornehmlich den treuen Gatten und die beiden ältesten Söhne als[162] die stolzen Grundpfeiler des Hauses; nicht minder fiel für Paul ein Brocken ab als den Kämmerer, den sein Herr getreu gefunden bis zum Tode.

Schade nur, daß er von dem honigsüßen Lobe nichts vernahm! Ganz gedankenlos starrte er vor sich hin. Sein Blick heftete sich auf die seidene Schleife, die von der Haube der Mutter emporragte und die sich leise bewegte, wenn der Windzug, der durch die fuchtelnden Arme des Pfarrers entstand, darüber hinstrich. – So glich sie einem weißen Schmetterlinge, der die Fittiche regt, um sich in die Lüfte zu erheben.

Dann wurde ein Choral gesungen und der Deckel auf den Sarg gehoben. – In diesem Augenblick ertönte aus den hinteren Reihen ein markerschütternder Schrei: »Mutter, Mutter!«

Erschrocken und verwundert wandten sich alle um. Elsbeth Douglas war es, die ihn ausgestoßen. Nun lag sie ohnmächtig in den Armen ihrer Nachbarin.

Paul verstand sie wohl. Sie hatte des Augenblicks gedacht, da man der eigenen Mutter den schwarzen Deckel über das tote Antlitz legen würde. Und er schwor sich zu, ihr alsdann treu und tröstend zur Seite zu stehen. Auch der Vater schaute auf, und in seinen Zügen malte sich deutlich die Frage: »Ist die auch hier?«

Elsbeth wurde in ein Nebenzimmer gebracht, und zwei der Frauen blieben bei ihr, bis sie sich erholt haben würde. Der Sarg aber schwankte, hoch empor gehoben, durch die Tür hinaus, bis er auf dem Leichenwagen Ruhe fand.

Paul griff nach seiner Mütze. Da drängte sich Gottfried an seine Seite und steckte ihm etwas Schwarzes, Weiches in die Hand.

»Binde dir wenigstens diesen Flor um den Arm,« flüsterte er ihm zu.

»Weshalb?«

»Man könnte glauben, daß du keine Trauer tragen wolltest.«

Paul erschrak bei diesem Gedanken und tat, wie ihm geheißen. Hinterher grämte er sich, daß er sich von seinem[163] Bruder hatte beschämen lassen müssen, und erst viel später wurde ihm klar, wer von ihnen beiden die größere Trauer getragen.

Der Friedhof lag einsam mitten auf der Heide. Drei einzeln stehende Fichtenbäume verkündeten ihn weit hinaus, und am Rande des Walles, der ihn umgab, blühten dichte Dornenhecken.

Dorthin ging der traurige Zug. Die Söhne folgten gleich hinter dem Sarg, der Vater mit den Zwillingen weiter hinten in einem Wägelchen.

Paul starrte vor sich nieder; dachte an den Sand, in dem er watete ... an den Wein ... an Elsbeth ... an Vaters Tragestuhl ... und an den Erikakranz, der sich halb vom Sarge gelöst hatte und hinterdreinhing. Er nahm sich vor, wohl aufzupassen, daß er nicht mit in die Gruft hinabgesenkt würde.

Am Grabe fühlte er nichts wie ein heftiges Brennen in den Schläfen, und während der Pfarrer den Segen sprach, fiel ihm plötzlich ein, daß er statt des Weines ganz ruhig hätte Bier verschenken können. Alsdann mußte er auf die Zwillinge achtgeben, die in ihrem Schmerze Dummheiten machten und dem Sarge nachspringen wollten. Er nahm sie in seine Arme, küßte sie und hieß sie den Kopf an seine Schultern legen. Sie taten es, schlossen die Augen und atmeten wie im Schlafe.

Als die ersten Erdschollen auf den Sarg niederkollerten, hatte er ein widriges Gefühl, als rolle man in seinem Kopfe Kegelkugeln in die Runde, und als der Hügel in fahler Nacktheit sich zu erheben begann, dachte er: »Hier muß morgen schon grüner Rasen drum herum ...«

Die Menge verlief sich, der Vater wurde zu seinem Wagen zurückgetragen, und die drei Söhne machten sich zu Fuß auf den Heimweg. Max und Gottfried sprachen in leisem, feierlichem Tone von ihren frühesten Erinnerungen an die Verblichene, Paul aber schwieg stille und dachte: »Gott sei Dank, daß ich sie unter der Erde hab'!«

Noch immer raste die krankhafte Geschäftigkeit in seinem Hirn, noch immer hatte er nicht begriffen, nicht begreifen[164] wollen – – – doch als er nun den Hof betrat, der mit seinem schindelgedeckten Stalle und seinen Brandspuren grau und trostlos vor ihm lag, da kam es plötzlich mit der Gewalt eines Blitzstrahls wie eine funkelnagelneue Erkenntnis über ihn: »Die Mutter ist fort!«

Er drehte sich um, griff mit den Händen in die Luft, und, wie vom Blitze getroffen, sank er zu Boden ...

Quelle:
Hermann Sudermann: Romane und Novellen. Band 1, Stuttgart und Berlin 1923, S. 148-165.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Frau Sorge
Frau Sorge

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon