[187] »Der junge Herr führt ja mit einem Male ein lustiges Leben,« sagten die Knechte, und da nun doch alles drunter und drüber ging, stahlen sie einen Scheffel Korn nach dem andern.
Paul aber trieb sich auf allen Lustbarkeiten und Tanzfesten umher, die in der Gegend stattfanden. – Wer ihn mit seinen finsteren Stirnfalten und dem scheuen, spähenden Blick in dem fröhlichen Gewühl auftauchen sah, der fragte sich wohl: »Was will der hier?« Und mancher ging im Bogen um ihn herum, als sei ein Schatten auf seine Freude gefallen.
Paul war sich wohl im klaren über den Weg, den er wandelte. – Er hatte gehört, daß die Erdmänner kein Fest vorübergehen ließen, ohne mitzufeiern – so toll, wie's eben anging. – »Ich werde sie zu treffen wissen,« sagte er, »die Nacht ist dunkel und die Heide einsam. Unter Gottes freiem Himmel sollen sie mir und dem Tode ins Antlitz sehen.«
Drei Tage nach seinem letzten Besuche auf Lotkeim war er in die Stadt gefahren und hatte sich einen Revolver gekauft, einen schönen sechsläufigen mit langem, schlankem Laufe. Wie ein wildes Tier lauerte er nun nachts in den Büschen und Hohlwegen der Heide, wenn er glaubte, daß sie vorüberkämen.
Aber sie kamen nicht. Sie schienen mißtrauisch geworden und hielten sich deshalb im Haus, oder, was wahrscheinlicher, das Geld war ihnen ausgegangen. – »Ich kann warten,« sagte er und setzte sein Treiben fort.
Und wenn er eines Abends zu Hause blieb und mit den Schwestern gemeinsam am Abendbrottisch saß – ein schweigendes, trauriges Mahl – dann erschrak er jedesmal, sobald er aufschaute und die Züge der Mutter in zwei bleichen, abgehärmten Gesichtchen wiederfand. – Dann jagte es ihn stets aufs neue hinaus. – –
Am Fastnachtabend war's, da wurde in dem Saale[188] des Bürgervereins von den Landwirten der Umgegend ein großer Ball gefeiert.
»Dort werd' ich sie fassen,« sagte er sich, denn er hatte gehört, daß die beiden Brüder zum Vorstand des Festes gehörten.
Als die Dämmerung herannahte, ließ er den Schlitten anspannen, verbarg den Revolver im Gesäßkasten und machte sich auf den Weg zur Stadt.
Tagüber hatte die Sonne geschienen, nun lohte der Himmel in den Flammen des Abendrots. In bläuliche Schleier eingehüllt lag die Heide, und durch die klare Winterluft sprühten leuchtende Eiskristalle.
Als er an Helenental vorüberfuhr, sah er zwei Schlitten mit Tannenzweigen beladen, die in den Gutsweg einbogen.
»Mir scheint, dort soll ein Fest gefeiert werden,« murmelte er, den Schlitten nachblickend, und mit einem düsteren Lächeln setzte er hinzu: »Ich brauch' nicht neidisch zu sein, ich feiere ja auch mein Fest heute!«
Um sechs Uhr kam er in der Stadt an, verschaffte sich eine Eintrittskarte und hockte bis zur neunten Stunde in dem Winkel einer Schenke, finster vor sich hinbrütend.
Als er den Festsaal betreten hatte, in dem ein sinnbetäubender Wirrwarr leuchtend durcheinanderrauschte, verbarg er sich scheu in dem Schatten einer Säule, denn ihm war zumute, als stände lesbar für jedermann auf seiner Stirn der Mordgedanke geschrieben, der ihm die Seele erfüllte.
Und plötzlich fuhr es wie ein Messerstich durch seine Brust. – Er hatte die Brüder gefunden. – In der Mitte des Saales standen sie stolz und strahlend, seidene Schleifen auf den Achseln, Maiglöckchen im Knopfloch, und spähten mit siegesgewissem Lächeln die Reihe der weißgekleideten Mädchen entlang, die die Wände schmückten.
»So, – jetzt sind sie mir verfallen,« murmelte er mit einem tiefen Aufseufzen. Er fühlte, daß es kein Zurück mehr für ihn gab. Und dann verkroch er sich in eine verschwiegene Ecke, von der aus er seine Opfer im Auge behalten[189] konnte. Der Lichterglanz strahlte sonnenhaft auf ihn hernieder, aber er sah ihn nicht, die Musik rauschte in wohligen Akkorden um sein Ohr, aber er hörte sie nicht, alle seine Sinne waren untergegangen in wildem, blutigem Gelüste.
Wie er so in das Gewühl hineinstarrte, vernahm er dicht hinter sich ein Gespräch von zwei behäbigen Männerstimmen: »Willst du auch morgen zum Begräbnis hinaus?«
»Ja, es soll eine große Feier werden. Dabei darf man nicht fehlen.«
»Ist sie lange krank gewesen?«
»O sehr lange. Unser alter Doktor hatte sie schon vor Jahren aufgegeben. Dann war sie mit ihrer Tochter im Süden und hat sich nach ihrer Rückkehr – ich weiß nicht, wie lange noch – gehalten.«
Er horchte. – Ein dumpfe Ahnung dämmerte in ihm auf. Die Tannenzweige! Die Tannenzweige!
Und die eine Stimme fuhr fort: »Sag mal: die Tochter muß doch in sehr heiratsfähigem Alter sein – hat sie sich noch immer nicht verlobt?«
»Sie ist ja bekannt wegen der Körbe, die sie austeilt,« erwiderte die andre Stimme, »die einen sagen, sie tat's, um die kranke Mutter nicht zu verlassen, die andern, weil sie eine geheime Liebschaft mit ihrem Vetter hat, dem Leo Heller, du kennst ihn ja.«
»O der Windhund,« sagte die erste Stimme wieder, »vorige Woche hat er im Tempeln achthundert Mark verloren, bei den Wucherern sitzt er bis an die Kehle drin, und ein Liebchen hält er sich auch aus. Aber ein forscher, lustiger Kerl ist's, ganz dazu angetan, sich Goldfische zu kapern.« Und die beiden Stimmen entfernten sich lachend.
Paul hatte ein dumpfes Gefühl, als müßte er sich zu Boden werfen und das Antlitz in den Staub pressen, – aus seiner Kehle schwoll es empor, – rote Schleier wogten vor seinen Augen auf und nieder ... Also sie hatte ausgelitten, die bleiche, freundliche Frau, die wie ein guter Engel über dem Heidehof gewartet hatte, an der sein eigen Herz gehangen, solange er lebte![190]
Nun, da sie tot, war ja die Bahn frei für Niedergang und Verbrechen.
Und Elsbeth? Wie hatte sie gezittert vor dieser fürchterlichen Stunde, wie hatte er geschworen, ihr alsdann nahe zu sein! Und statt dessen lauerte er hier wie ein reißendes Tier, blutige Gedanken in der Seele, er, der einzige, dem ihre reine Seele sich einst anvertraut hatte ...
Ein Frösteln überlief ihn. »Aber was tut's? Tröster hat sie ja genug – da ist der lustige Leo, mit dem sie ja eine ›geheime Liebschaft‹ haben soll – mag der nun seine Künste entfalten.« Er lachte laut und höhnisch auf, und nachdem er sich klargemacht, daß die Erdmanns ihm nicht entgehen konnten, wenn er am Wege auf sie wartete, verließ er den Saal.
Als er in das Schweigen der mondhellen Winternacht hinausfuhr, wurde es auch in seiner Seele stiller und stiller, und als über der silbernen Heide das »weiße Haus« wie ein marmornes Grabdenkmal langsam emporstieg, da fing er bitterlich zu weinen an.
»Plärre nur, plärre, altes Weib, du,« murmelte er und peitschte das Pferd an, daß die Glocken heller klangen. Die tönten ihm ins Ohr wie das Grabgeläute alles Guten.
In dem Walde, hinter dem der Seitenweg nach Lotkeim sich abzweigte, machte er halt, band das Pferd an einen fern abgelegenen Baumstamm und schnallte die Glocken ab, damit ihr Klingen ihn nicht vor der Zeit verriet. Dann holte er den Revolver aus dem Gesäßkasten und prüfte die Patronen. – Sechs Schuß – für jeden zwei – doppelt reißt nicht.
Es war bitterkalt und seine Füße erklammten. Er kauerte sich auf dem Boden des Schlittens nieder, so daß die Pelzdecke ihn ganz umhüllte. Darunter war es warm und wohlig, und allgemach fühlte er eine große Ermattung seiner Herr werden, als ob er einschlafen könnte. Aber dann raffte er sich wieder empor.
»Es ist dir ja gar nicht ernst,« murmelte er, »daß du sie töten willst. Sonst müßte dir anders zumute sein ...«
Da sprang er empor und rief in die Nacht hinein:[191] »Ich will, ich schwör's dir, Mutter ... ich will.« – Und zur Bekräftigung schoß er eine Kugel in die Lüfte, so daß das Echo schauerlich durch die Stille hinrollte und die Raben krächzend von ihren Sitzen emporfuhren ...
Je mehr die Stunde sich näherte, in der die Brüder heimkehren mußten, desto mehr wuchs seine Angst; aber diese Angst galt nicht der blutigen Tat. – Er bebte davor, daß im letzten Moment seine Hand erschlaffen, sein Mut verfliegen würde, denn man hatte ihn ja stets einen »Feigling« genannt.
Es mochte gegen vier Uhr morgens sein, und der Mond war schon im Untergehen, da ließ ein Glockengeläut in der Ferne sich hören, leise und immer lauter und lauter. Er sprang in den Hohlweg, den der wehende Schnee aufgeschüttet hatte, und warf sich platt auf den Boden. Der Schlitten nahte dem Waldesrand, zwei in Pelze gehüllte Personen saßen darauf – sie waren's. – Aber wie lange das dauerte!
Der Schlitten fuhr langsamer von Schritt zu Schritt. Die Glocken klirrten träge, und die Zügel hingen schlaff über den Bug des Pferdes herab. Die Brüder schnarchten ... wehrlos waren sie ihm preisgegeben.
Rasch sprang er vor, fiel dem Pferd in die Zügel und löste die Stränge der Deichsel. Der Schlitten stand – und seine Herren schliefen weiter.
Er stellte sich vor sie hin und starrte auf sie nieder. Die Hand, die die Pistole hielt, zitterte heftig.
»Was tu' ich nun mit ihnen?« murmelte er; »im Schlaf kann ich sie doch nicht niedermachen? – Betrunken werden sie auch sein, sonst wären sie schon längst aufgewacht! – Das beste ist, ich lasse sie ziehen und warte auf das nächste Mal.«
Eben wollte er das Pferd wieder in die Stränge legen, da schoß es ihm durch den Kopf, daß er ja der Mutter geschworen habe, sie umzubringen.
»Ich wußt's ja, daß ich ein elender Feigling bin,« dachte er bei sich, »und nimmermehr die Courage dazu haben würde. – Nicht einmal zum Morden bin ich gut genug.«[192]
»Aber jetzt tu' ich's doch!« murmelte er, trat zwei Schritt zurück und zielte scharf auf Ulrichs Brust, aber den Hahn spannte er nicht, denn innerlich fürchtete er, er könnte den Schlafenden verletzen.
»Ob ich's doch wohl tun werde?« dachte er, als er eine Weile in dieser Stellung gestanden hatte. Und darauf begann er sich auszumalen, was geschehen würde, wenn er's getan hätte und die beiden da tot vor ihm lägen. »Entweder ich erschieße mich dann selber und lasse den Vater und die Schwestern im Elend zurück, oder ich erschieße mich nicht, sondern liefere mich morgen den Gerichten aus, dann ist das Elend zu Hause ebenso groß. – Wahnsinn ist es auf alle Fälle,« so schloß er seine Überlegungen, – »aber ich tu's doch.«
Und plötzlich gewahrte er unter dem Pelze Ulrichs, der sich über der Brust ein wenig zurückgeschlagen hatte, einen funkelnden Panzer von Ordenssternen, wie sie beim Kotillontanz die Damen den Herren anzuheften pflegen.
»Also von andern lassen sie sich mit Orden zieren,« dachte er, »und die Schwestern sitzen derweilen im Elend!«
Da fing es in ihm an zu kochen, und er begann zu fühlen, daß er's doch am Ende tun würde.
»Aber erst will ich ein Wort Deutsch mit ihnen reden,« murmelte er, packte Ulrich, der an seiner Seite saß, bei der Schulter und schüttelte ihn heftig, so daß sein Kopf hin und her flog.
Ulrich fuhr sofort aus dem Schlaf empor, und als er die dunkle Gestalt Pauls mit dem Revolver in der Hand dicht vor sich stehen sah, fing er laut und jämmerlich zu schreien an. Auch der andere erwachte nun, und beide streckten ihm in kläglicher Abwehr die Arme entgegen.
»Was willst du tun?« schrie der eine.
»Morde uns nicht!« schrie der andre.
»Steck den Revolver fort. Erbarm dich unser, – erbarm dich!«
Sie falteten die Hände und wären auf die Knie gefallen, wenn die Pelzdecken sie nicht gehindert hätten.
Paul maß sie voll Verwunderung. Er hatte sie sein[193] Leben lang nur keck und kampflustig gesehen, so daß sie ihm jetzt in ihrem Jammern wie wildfremde Leute erschienen. Im Innern wünschte er, daß sie die Messer gegen ihn ziehen möchten, damit er in ehrlichem Kampfe von seinem Revolver Gebrauch machen könnte. Und dann plötzlich kam ihm der Gedanke: »Hättest du sie als Junge ein einzig Mal so behandelt wie heute, dir wäre manche schwere Kränkung erspart geblieben – und den Schwestern vor allem.«
Ulrich suchte inzwischen seine Knie zu umklammern, und Fritz schrie in einem fort: »Erbarm dich unser – erbarm dich!«
»Ihr wißt sehr gut, was ich von euch will,« erwiderte Paul, der sich nun von allem Schwanken erlöst fühlte und mit kalter Entschlossenheit sein Ziel verfolgte.
»Was willst du, sag, was willst du? Wir tun alles, was du willst,« rief Ulrich, und Fritz, der sich hinter dem Bruder zu verstecken suchte, schien plötzlich ganz der Sprache beraubt.
»Ihr sollt euer Wort halten, wie ich das meine halten werde,« sagte Paul. »Ich wollte, ihr fändet den Mut, euch zu wehren, damit wir endlich einmal miteinander ins reine kämen ... Aber vielleicht ist es besser so ... und jetzt sprecht mir nach, was ich euch vorsprechen werde: ›Wir schwören bei Gott und dem Andenken unserer Mutter, daß wir binnen drei Tagen das Versprechen einlösen werden, das wir deinen Schwestern gegeben haben.‹«
Zitternd und lallend sprachen sie ihm die Worte nach.
»Und ich schwöre euch bei Gott und dem Andenken meiner Mutter,« erwiderte er, »daß ich euch niederschießen werde, wie und wo ich euch treffe, falls ihr euren Eid nicht heilighalten wolltet. So, jetzt könnt ihr fahren – bleibt sitzen! Ich werde das Pferd selbst ansträngen ... Sitzen bleiben!« – wiederholte er, als sie ihm trotzdem hilfreiche Hand leisten wollten.
Sie rührten sich nicht mehr, so gehorsam waren sie nun. Und als er fertig geworden war, sagten sie ihm[194] mit großer Höflichkeit »Guten Abend!« und fuhren von dannen.
»Also so wird's gemacht!« murmelte er, indem er die Pistole in den Schnee warf und dem Schlitten mit gefalteten Händen nachschaute. »Baust du auf Recht und Ehrgefühl und willst im Guten alles zum Guten wenden, so nennt man dich feige, und du wirst behandelt wie ein Hund. – Behandelst du aber die andern wie Hunde, gleich von vornherein, ohne zu bedenken, ob du im Recht bist oder nicht, so nennt man dich mutig, und alles gelingt dir, und du wirst ein Held. Also so wird's gemacht – – so wird's gemacht!«
Und er schüttelte sich, und ein Ekel erfaßte ihn vor sich und der ganzen Welt. So schmutzig erschien er sich, als ob nichts auf Erden ihn wieder reinwaschen könnte.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Am nächsten Vormittag stand er hinter dem Schuppen im Schnee und sah nach Helenental hinüber, wo ein dunkler Leichenzug zum traurigen Gang sich rüstete. – Zweimal war er in den Stall gegangen, den Knechten zu sagen, daß sie den Schlitten anspannen möchten, und beide Male war ihm das Wort in der Kehle stecken geblieben.
Nun stand er da, hielt die Hände gefaltet und sah zu, wie auf der weißschillernden Heide eine lange schwarze Schlangenlinie dahinkroch, die kleiner und kleiner wurde und schließlich hinter dem Walde verschwand, denn der Kirchhof von Helenental lag weitab auf dem Weg zur Stadt hin.
»Wie schön wär's,« dachte er, »wenn sie sich auch unter den drei Fichten begraben möchten! – Dann würde die Mutter gute Nachbarschaft haben und – –«
Er schrak zusammen, denn blitzschnell hatte sein Hirn sich ausgemalt, wie er dann an einem schönen Frühlingsabend alldort mit Elsbeth hätte zusammentreffen können, die da käme, an dem Grab zu sitzen, das ihr gehörte, wie er zu dem seinen.
»Aber es ist gut so, wie es ist,« sprach er vor sich hin, »wie könnte ich je den Mut finden, ihr wieder ins Auge[195] zu sehen? – – ich, der ich des Nachts am Wege lagere, um meinen liederlichen Schwestern Männer zu besorgen!«
Da plötzlich kamen die Zwillinge atemlos dahergelaufen – sie zitterten am ganzen Leibe und rangen nach Worten.
»Was habt ihr, Kinder?«
Grete verbarg den Kopf an seiner Schulter, und Käthe zog die Luft durch die Nase aus und ein wie ein Kind, welches das Weinen verbeißt.
»Sie sind da,« stammelte sie, und dann fingen beide zu schluchzen an.
»'s ist gut,« erwiderte Paul und küßte sie.
»Kommst du nicht ins Haus?« fragte Käthe, an ihrer Schürze saugend.
»Wo habt ihr sie denn gelassen?«
»Sie reden mit dem Vater.«
»Aha – das hört sich schon anders an. – Lauft in eure Kammer – ich komme gleich.«
»Und das um welchen Preis!« murmelte er, indem er ihnen nachschaute, dann warf er noch einen Blick nach Helenental hinüber und schritt in den Schuppen, wo die »schwarze Suse« stand. – »Es ist Zeit, daß du lebendig wirst,« sagte er, ihren schwarzen Leib streichelnd, »wir werden wacker schuften müssen, du und ich, wenn wir den Margellen die Mitgift schaffen wollen.«
Als er das Haus betrat, hörte er die lautschallende Stimme des Vaters sich entgegendringen.
»Bin doch neugierig, wie sie sich benehmen,« sagte er und lauschte.
»Ja, ein Pinsel ist er und ein Pinsel bleibt er, meine Herren! Was ich im großen ausgedacht habe, vollführt er nun in seiner kleinlichen, krämerhaften Manier. Mir hat sich das Herz im Leibe umkehren wollen, wenn ich ihn an der Maschine herumbasteln sah, als wär' es eine Weidenpfeife. Und dabei geht die Wirtschaft immer weiter rückwärts. – Oh, meine Herren, Sie sehen mich hier als Krüppel, als elenden, zugrunde gerichteten Krüppel, aber wenn ich noch das Szepter führte, meine Herren, Tausende[196] wollt' ich aus der Erde stampfen, nicht minder wie Vanderbilt, der Amerikaner, dessen Lebenslauf in diesem Kalender so lehrreich beschrieben steht.«
»Können Sie die Leitung der Geschäfte nicht von ihrem Stuhl aus besorgen?« fragte die Stimme Ulrichs.
»Oh, meine Herren, sehen Sie meine Tränen! – ich vergieße sie über das undankbarste, ungeratenste Kind, welches die Erde trägt. In diesem Kalender ist die Geschichte eines Sohnes geschrieben, der seinen in der Wüste verschmachtenden Eltern mit Gefahr seines Lebens einen Trunk Wasser aus Räuberhänden holt ... aber was tut er? Wie ich hier sitze, meine Herren, bin ich nicht imstande, Ihnen auch nur ein Schnäpschen anzubieten, ein Kümmel- und Ingwerschnäpschen, wie ich es so gerne trinke.«
»Wir werden es Ihnen künftig mitbringen,« versicherte Fritz.
»Oh, warum hat Gott mir nicht zwei solche Söhne geschenkt, wie Sie es sind? Und denken Sie, nie fragt er mich, die Küche verschließt er vor mir – es wundert mich, daß ich nicht schon Hungers gestorben bin. – Nun, Sie kennen ihn ja von Kindesbeinen an – war er nicht immer ein roher, tückischer Patron?«
»O ja, er hatte stets etwas Gewalttätiges an sich,« meinte Ulrich.
»Und mit Pistolen und Peitschen hantierte er besonders hinterrücks,« fügte Fritz hinzu.
»Besonders hinterrücks – – hahaha, das trifft ihn, das ist seine Art. Oh, meine Herren, ›geheime Tücke führt nimmer zum Glücke‹, so heißt ein Sprüchlein in diesem Kalender, und wenn der Himmel mich noch einmal gesund werden läßt, dann sollen Sie sehen, wie ich Rache nehme, zuerst an dem Schurken, dem Brandstifter, dem gemeinen Kerl, dem ich mein ganzes Elend verdanke, und dann auch an dem Herrn Sohn, der seinen Vater so schlecht behandelt. Enterben tu' ich ihn! Vom Hof jag' ich ihn! – hab' ich Recht, wenn ich das tue, meine Herren?«
»Ganz Recht,« erklärten beide.
»Guten Tag auch!« sagte Paul hervortretend. – – –[197]
Die drei schraken zusammen. Der Vater duckte sich scheu in seinem Sessel, wie ein Hund, der Schläge fürchtet, die Brüder streckten ihm sehr verlegen und sehr demütig die Hände entgegen und baten, er möchte alles vergessen sein lassen.
»Warum nicht?« erwiderte er, seinen Widerwillen bezwingend, »ihr wißt ja nun den richtigen Weg.«
Als die beiden ihre Werbung vorbrachten, erwachte in dem Alten die Großmannssucht stärker denn je. »Meine Herren,« sagte er, die Stimme in der Kehle quetschend, damit sie würdiger klinge, »Ihr Antrag ehrt mich selbstverständlich, aber ich bin nicht in der Lage, ihn mit ja zu beantworten. Erst bitte ich um vollgültige Bürgschaft, damit ich weiß, welches die Zukunft meiner Töchter ist, welche durch Schönheit und Liebenswürdigkeit wie auch durch fleckenlose Tugend für ein glänzendes Schicksal geschaffen sind. Ich habe sie so sorgfältig erzogen und so liebevoll über sie gewacht, daß mein väterliches Herz sich nicht entschließen kann, sie ohne weiteres fortzugeben.«
In diesem Tone schwadronierte er weiter, bis Paul ruhig sagte: »Laß nur, Vater, die Sache ist bereits abgemacht.« – Da schwieg er, innerlich hochbefriedigt, eine so glänzende Rede an den Mann gebracht zu haben. – – –
Nachmittags ging Paul in die Kammer der Schwestern und sagte: »Kinder, betet ein Vaterunser, – Frau Douglas wurde heute begraben.«
Sie sahen ihn mit großen, freudeglänzenden Augen an, und um ihre Lippen glitt ein verträumtes Lächeln.
»Habt ihr mich nicht verstanden?«
»Ja,« sagten sie leise und erschrocken und drückten sich aneinander, als fürchteten sie die Rute. – Er ließ sie allein in ihrem Glück und schritt in den klaren, kalten Wintertag hinaus. »Wie kommt es nur,« dachte er, »daß jetzt ein jeder Angst vor mir hat und keiner versteht, wie ich's meine?«
An demselben Tage jagte er die Knechte davon und schrieb an den Meister, er möge morgen kommen, die Arbeit wieder aufzunehmen. – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[198]
Noch in derselben Woche trat Tauwetter ein, rasch ward nun das Werk gefördert, und eines Freitagabends, zu Anfang März, stand die »schwarze Suse« blitzblank in ihrem neugeflickten Gewande da. – Am nächsten Morgen sollte der Kessel probiert werden, und Holz und Kohlen lagen bereits aufgeschichtet an den Wänden des Schuppens.
Schlaflos wälzte sich Paul in seinem Bette. Träge schlichen die Stunden dahin – eine Ewigkeit qualvollster Erwartung lag zwischen Mitternacht und Morgen grauen ...
»Wird sie lebendig werden? Wird sie ...?«
Die Uhr schlug eins – da hielt er sich nicht länger, kleidete sich an und schlich, die flackernde Laterne in der Hand, in die naßkalte Märznacht hinaus. Der Wind fing sich in seinen Kleidern, und der eisige Sprühregen schlug ihm seine Geißeln ins Gesicht.
Aus dem dunkeln Schuppen glotzte die »schwarze Suse« ihm mürrisch entgegen, als wolle sie nicht dulden, daß man ihre letzte Nachtruhe störe ... Die Laterne warf einen gespensterhaften Schein über den unwirtlichen Raum, und die Schatten der Maschine tanzten bei jeglichem Flackern in grotesken Sprüngen auf der gelben Bretterwand.
»Ob ich den Meister wecke?« dachte Paul. »Nein, mag er schlafen, ich will den Schmerz oder die erste Freude für mich allein haben.«
Prasselnd flogen die Kohlenhaufen in den schwarzen Schlund ... Ein blaues Flämmchen zuckte auf, züngelte ringsumher, und bald erfüllte rötliche Glut den finsteren Raum ... Trübe blinzelte die Laterne von der Wand hernieder, als sei sie neidisch auf den warmen, frohen Feuerschein.
Paul setzte sich auf einen Kohlenhaufen und schaute dem Spiel der Flammen zu ... Die Tür der Feuerung begann sich rötlich zu färben, und durch den Rost sanken, funkensprühend, halb ausgeglühte Schlacken.
Paul hörte sein Herz klopfen, und wie er seine Hand beruhigend daraufpreßte, fühlte er in der Brusttasche Elsbeths Flöte. Er hatte sie an dem Tage, da die Arbeit wieder aufgenommen wurde, auf der Lokomobile liegen gefunden und seitdem bei sich getragen.[199]
»Ob ich auch das wohl noch lernen werde?« fragte er in banger Freudigkeit über das bisher Errungene. – Er setzte die Flöte an den Mund und versuchte zu blasen – die Minuten schlichen langsam, er mußte sich die Zeit vertreiben. – Aber die Töne, die er hervorrief, klangen hohl und gequetscht – eine Melodie ließ sich noch weniger zusammensetzen.
»Ich lern's doch nicht mehr,« dachte er. »Was ich für mich selber tue, mißlingt – das ist nun einmal Gesetz in meinem Leben. Für andere muß ich säen, wenn ich ernten will.«
Aber trotzdem setzte er die Flöte wiederum an die Lippen. »Es wäre schön,« dachte er, »wenn ich ein Künstler geworden wäre, wie Elsbeth es mir prophezeite, anstatt daß ich hier Maschinen anheize.« – Ein Schauer der Erregung durchrieselte ihn.
»Wird sie lebendig werden? Wird sie?« ...
Ein neuer quäkender Ton entrang sich der Flöte. »Brr,« sagte er, »das geht durch Mark und Bein. Lieben und Flötespielen werd' ich wohl andern überlassen müssen.«
Und in diesem Augenblick erhob sich im Innern der schwarzen Suse jenes geheimnisvolle Singen, das ihm all die Jahre hindurch treu in der Erinnerung geblieben war. Es klang, als sängen die Schicksalsschwestern unter dem Eschenbaum.
»Hei, das ist 'ne schönre Musik!« rief er aufspringend und schleuderte die Flöte von sich ... Die eiserne Tür klirrte ... Neue Kohlenhaufen verschlang der glühende Rachen ... Die Schaufel flog rasselnd auf den Boden.
»Sie werden im Haus erwachen,« dachte er, für einen Augenblick erschrocken, »aber mögen sie, mögen sie!« fuhr er fort, »es gilt ja ihr Glück, ihre Zukunft.«
Lauter und lauter wurde das Singen, da faßte ihn plötzlich der Übermut, daß er hell zu pfeifen begann.–»Wie gut das klingt! Ja, wir verstehen uns auf das Musikemachen – wir sind stramme Musikanten, Suse – was?«
Der Schlot gab mächtige Wolken schwarzen Qualmes[200] von sich, die wie ein Baldachin sich unter der Decke verbreiteten, wogend und schwellend, als führe ein Sturmwind durch die Falten ... Das eine der Ventile ließ einen leisen, zischenden Ton vernehmen, und ein weißes Dampfwölkchen spritzte empor, das sich rasch mit dem schwarzen Rauch vermischte ... Lauter und lauter wurde das Zischen, weiter und weiter rückte der Zeiger im Manometer ...
»Jetzt ist's Zeit!« ...
Mit zitternden Händen tastete er nach dem Hebel ... ein Ruck ... ein Schwung ... und wirbelnd, wie von Geisterhänden gejagt, kreiste das Rad in die Runde.
»Viktoria – sie lebt – sie lebt!«
Nun mögen sie hören, mögen kommen! Seine Hand zerrt an der Klappe der Dampfpfeife, und gellend ruft ihr Schrei in die Nacht hinaus: »Ich leb', ich lebe!«
Da faltete er die Hände und murmelte leise: »O Mutter, das hätt'st du noch erleben müssen.« Und wie er das sagte, kam es plötzlich über ihn, als wäre auch dieses vergebens, als säße auch ihm der Tod im Nacken und schrie' ihm ins Ohr: »Du stirbst, du stirbst – ohne gelebt zu haben.«
»Noch hab' ich zu schaffen,« sagte er mit feuchtem Auge, »erst will ich die Schwestern glücklich wissen – denn bleiben sie arm, so werden sie roh behandelt – erst will ich den Hof in Pracht erstehen sehen, dann mag er kommen.«
Und wie die schwarzen Wolken ringsum, so türmten sich aufs neue Jahre der Knechtschaft, Jahre des Ringens, des Sorgens vor seinem Blick empor.
Mit verschlafenen Gesichtern tauchte die Hausgenossenschaft im Tore des Schuppens auf, auch die Schwestern fanden sich ein und standen in dem Qualm und dem Feuerschein ängstlich aneinandergeschmiegt, in ihren weißen Nachtkleidchen anzuschauen wie zwei blasse Rosen an demselben Stengel.
»Hier wird eure Zukunft bereitet, ihr armen Dinger,« murmelte er, indem er ihnen zunickte.
Als der Meister zur Stelle war, ging Paul in das[201] Schlafzimmer des Vaters, der ihm aus dem Bette verstört entgegenstarrte.
»Vater,« sagte er bescheiden, wiewohl sein Herz vor Stolz sich schwellte, »die Lokomobile ist instand gesetzt; sobald der Grund aufgetaut ist, können die Arbeiten auf dem Moor beginnen.«
Der Alte sagte: »Laß mich in Ruh'!« und drehte den Kopf nach der Wand.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Als am andern Morgen die Lokomobile ins Freie gezogen wurde, ertönte auf der Schwelle des Schuppens ein eigentümlich prasselnder, quetschender Laut.
»Es ist etwas unter die Räder gekommen,« sagte der Meister.
Paul sah nach. Da lag als ein Häuflein Trümmer, mitten durchgebrochen und plattgedrückt – Elsbeths Flöte.
Ein bitteres Lächeln zog über sein Gesicht, als wollte er sagen: »Nun hab' ich dir auch mein Letztes geopfert, nun kannst du doch zufrieden sein, Frau Sorge?«
Seit diesem Tage war ihm zumute, als sei das letzte Band zwischen ihm und Elsbeth zerrissen. Er hatte sie verloren wie sein Träumen, sein Hoffen, seine Würde, sein Selbst ...
Mit Hallo wanderte die »schwarze Suse« ins Moor hinaus. –
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Frau Sorge
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