[207] »Was mag der Vater da haben?« sagte Frau Käthe Erdmann zu Frau Grete Erdmann, die beide des Wegs dahergefahren kamen, um die Heimat zu besuchen und bei dieser Gelegenheit dem Bruder das Herz auszuschütten.
Der Alte stand geduckt in einem Winkel hinter der Scheune und machte sich in den Strohhaufen zu schaffen, die dort aufgeschichtet lagen. Als er den Wagen rasseln hörte, hielt er erschrocken inne und rieb sich die Hände wie einer, der sich Mühe gibt, unbefangen zu erscheinen.
Die beiden Schwestern sahen sich an, und Grete meinte: »Man müßte Paul einen Wink zukommen lassen.«
Oh, sie waren sehr vernünftig geworden, die beiden Wildlinge, innen nicht minder als außen; ihre wirren, braunen Locken drückten sich glatt gekämmt an den Ohren vorbei, und die glühenden Augen trugen einen müden Schimmer, als wüßten sie nun, wie's tut, wenn man in stiller Kammer sich satt weint. Frau Käthe hatte freilich auch drei stramme Jungen, bei Frau Grete zeigten sich gar schon Hoffnungen auf etwas viertes, und jeder weiß: Mutterschaft macht müde!
Paul arbeitete draußen im Moor, aber der Vater kam mit verschmitztem Lachen daher, und seine Krücke schwenkend, rief er: »Lauf' ich nicht wieder wie 'n Junger?«
Frau Käthe sprach ihre Bewunderung aus, und Frau Grete stimmte ihr bei.
»Es geht wie geschmiert,« lachte er, »vorgestern hab' ich sogar einen Spaziergang nach Helenental gemacht.«
Erstaunt, fast erschrocken sahen sie ihn an, denn er war seit seinem Auszuge nicht mehr dort gewesen.
»Wie hat man dich empfangen?« fragte Frau Grete.
»Wer? Wie? – Ach, ihr dachtet wohl, ich hab' 'ne Nachbarsvisite gemacht? Ihr seid mir die Rechten! Eher ging' ich bei eurem Hofhund zu Gaste und fräß' ihm die Hammelknochen weg!«
»Aber was tatst du denn dort?«[208]
»Durchs Hoftor hab' ich geguckt und hab' nach der Uhr gesehen und bin dann wieder heimgegangen. Wie lange, glaubt ihr wohl, daß ich brauche, um hinzukommen –? Ratet einmal!«
Sie hatten keine Ahnung.
»Anderthalb Stunden, akkurat wie ein Schnelläufer ... Freilich,« – er schaute sinnend vor sich hin –, »wenn man noch was trägt, kann's an die zweie dauern.«
»Und bloß, um das auszurechnen, bist du ...?«
»Bloß deshalb, mein Schatz, bloß deshalb!« Und seine Augen funkelten unheimlich.
Alsdann setzte man sich in die Veranda, die Paul nach dem Muster des »weißen Hauses« vor der Tür hatte errichten lassen. Die alte Haushälterin, die früher den Erdmanns die Wirtschaft geführt hatte und nach der Heirat von dort zum Heidehof übergesiedelt war, mußte in die Küche wandern, um Kaffee zu kochen und Waffeln zu backen, und da der Vater mit seinen Töchtern nichts Besseres zu reden wußte, so schimpfte er auf Paul und die Schwiegersöhne. Er tat es heute weniger aus Liebe zur Sache, wie aus alter Gewohnheit, seine Gedanken schienen ganz woanders zu weilen, und während er sprach, rückte er mit unheimlicher Geschäftigkeit auf seinem Stuhl hin und her.
»Laß uns hineingehen!« sagte Käthe, »wir müssen uns ein wenig in der Wirtschaft umsehen, auch fliegen wir hier beinahe auf, so weht uns der Wind unter die Röcke.«
»Es wird Sturm geben zur Nacht,« meinte Grete. Und dann plötzlich wandten beide sich erschrocken um, denn das Lachen, das der Alte hören ließ, hatte so gar seltsam geklungen.
»Laß es nur Sturm geben,« meinte er, ein wenig verlegen, »das schadet rein gar nichts. Gibt's bei euch in der Ehe nicht auch manchmal Sturm?«
In Käthes Antlitz blitzte es auf wie von alter Schelmerei, aber Grete zog die Mundwinkel herunter, als wollte sie weinen. Bei ihr schien der letzte noch nicht ganz verwunden.[209]
»Ja, es wird früh Herbst dieses Jahr,« meinte sie mit einem Anfall von Melancholie.
Der Alte blies: »Wenn die Schwalben heimwärts ziehn,« und Käthe meinte: »Laß es Herbst werden, die Scheunen sind ja voll.«
»Gott sei Dank,« kicherte der Alte, »sie sind voll.«
Die Schwestern hatten sich umschlungen und schauten, die Stirnen gegen die Scheiben gelehnt, auf den sonnbeglänzten Hof hinaus, auf dem die Sandwolken in hohen Tromben zum Himmel wirbelten ...
Mit Dunkelwerden kam Paul nach Hause, schwarz wie ein Mohr, denn der Torfstaub, der vom Winde umhergetrieben wurde, hatte sich ihm in Bart und Antlitz festgesetzt.
Er reichte den Schwestern stumm die Hand, blickte ihnen scharf in die Augen und sagte: »Hernach werdet ihr mir klagen.«
Grete sah Käthe an, und Käthe sah Grete an, dann lachten sie plötzlich hell auf, ergriffen ihn bei beiden Schultern und tanzten mit ihm in der Stube herum.
»Ihr werdet euch schwarz machen, Kinder,« sagte er.
»Mein Liebster ist ein Schornsteinfeger,« trällerte Grete, und Käthe sang den zweiten Vers: »Mein Liebster ist aus Mohrenland.«
Darauf küßten sie ihn und liefen vor den Spiegel, um zu sehen, ob der Kuß abgefärbt hatte.
Als er hinausgegangen war, sich zu säubern, meinte Grete: »Drollig, er braucht einen bloß anzusehen, und alles ist wieder gut.«
Und Käthe fügte hinzu: »Aber er selber ist heute schweigsamer als je.«
»Paul, sei gut!« schmeichelten sie, als sie alle zusammen beim Abendbrottisch saßen, »wir dürfen nur alle Jubeljahr einmal hierher ...! Mach uns ein freundlich Gesicht.«
»Habt ihr vergessen, welch ein Tag heute ist?« erwiderte er, indem er ihre Haare streichelte.
Sie erschraken, denn sie dachten zuerst an den Todestag der Mutter, aber erleichtert atmeten sie auf – der fiel ja in die Johanniszeit.[210]
»Nun?« fragten sie.
»Heute vor acht Jahren brannte unsere Scheune!«
Alle schwiegen – nur der Vater grollte und lachte in sich hinein. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Es fing an, finster zu werden, über die Heide her glomm noch ein glühroter Streif, der einen Feuerschein über den weißgedeckten Tisch hinwarf ... An den Fensterläden rüttelte der Sturm.
Gut, daß die Haushälterin jetzt ins Zimmer trat. Eine geschwätzige Alte, die stets mit Neuigkeiten aufzuwarten wußte.
»Na, Frau Jankus, was gibt's Gutes?« rief Käthe ihr entgegen, froh, den Alp der Erinnerung los zu werden.
»Oh, Madamchen,« rief die alte Person, »wissen Se's denn noch nicht? – In der Kirche geht's heute hoch her. Das ganze Dorf windet Kränze – über dem Altar haben se 'ne Jirlande angebracht von lauter Remontantenrosen, und zu beiden Seiten stehn die scheensten Olejanderbeime.«
»Was ist denn los?«
»Hochzeit ist los! Das Fräulein Douglas macht morgen Hochzeit!«
Die beiden Schwestern schraken zusammen, warfen sich einen raschen Blick zu und schauten dann auf Paul. – Der aber drehte eine Brotkrume zwischen den Fingern und tat, als ob ihn die Geschichte nicht im mindesten anginge.
Die Schwestern warfen sich einen neuen Blick zu und nickten verständnissinnig. Dann ergriffen sie in gleichem Impulse seine beiden Hände.
»Kinder, ihr zerreißt mich ja!« sagte er mit einem schwachen Lächeln.
»So, dann gibt's ja heute Polterabend drüben?« fragte der Vater, der plötzlich sehr lebendig geworden war.
»Wahrscheinlich, wahrscheinlich!« antwortete die Wirtschafterin. »Vorhin sah ich 'nen Haufen von Kindern vorübergehn, die waren ganz beladen mit alten Töpfen und sonstigem Gekrassel.«
»Bei unserer Hochzeit haben sie's glimpflich gemacht,«[211] meinte Grete, und beide Schwestern sahen sich an und lächelten träumerisch.
»Das trifft sich ja prächtig,« raunte der Alte und rieb sich die Hände.
»Warum prächtig?« fragte Paul.
»Ach, ich meine nur so ... Zufall – derselbe Tag, wo sie unsere Scheune niederbrannten. Sag mal – du, Paul, du warst ja wach – was war wohl die Uhr, als du die Flamme aufsteigen sahst?«
»Eins kann es gewesen sein.«
»Na, du mußt's ja wissen. Was du in Helenental eigentlich zu suchen hatt'st, ist mir zwar noch heute unklar, aber es ist gut – ganz gut so –, ich weiß nun ganz genau, um wieviel Uhr es war!«
»Dann weißt du was Recht's,« sagte Grete lachend.
»Weiß ich auch!« erwiderte er trotzig. »Wirst schon sehen, mein Töchterchen, wirst schon sehen!«
Käthe wollte der Schwester zu Hilfe kommen, aber Paul winkte ihnen heimlich zu, daß sie den Alten in Ruhe ließen.
Bald darauf nahmen die Schwestern Abschied.
»Du wolltest Paul ja sagen, daß der Vater hinter der Scheune Heimlichkeiten hat,« sagte Käthe, als sie beide auf dem Wagen saßen.
»Ja, richtig!« erwiderte diese, ließ den Kutscher halten und winkte Paul zu sich heran. Aber der Alte, der in seinem Mißtrauen überall hinzuhorchen pflegte, drängte sich dazwischen, und so mußte es unterbleiben.
Als Paul bei seinem allabendlichen Rundgang in die Küche kam, gewahrte er, wie der Vater mit der Wirtschafterin um einen irdenen Topf unterhandelte.
»Wozu brauchen Sie den Topf, Herr Meyhöfer?« fragte die Alte.
»Ich will auch Polterabend feiern gehen, Frau Jankus!« erwiderte er mit einem hohlen Gelächter. »Vielleicht schenken sie mir dort was vom Hochzeitskuchen.«
Die Alte wollte sich schier zuschanden lachen, und der Vater humpelte mit seinem Topf in das Schlafzimmer, dessen Tür er sorgfältig hinter sich verschloß ...[212]
Das Haus war zur Ruhe gegangen, nur Paul trieb sich noch auf dem dunkeln Hofe umher.
»Also morgen macht sie Hochzeit,« sagte er, die Hände faltend. »Wenn ich ein guter Christ wäre, müßte ich nun für ihr Glück ein Vaterunser beten ... Aber so ein schlapper Geselle bin ich doch noch lange nicht ... Ich glaub', ich hab' sie mal sehr liebgehabt, mehr lieb, wie ich selber wußte ... Wie mag es nur gekommen sein, daß ich ihr so fremd geworden bin?« Er sann und sann, konnte aber zu keinem rechten Schlusse kommen.
Der Mond ging über der Heide auf – eine große, blutrote Scheibe, die einen ungewissen Glanz über den Hof hinbreitete ... Der Sturm schien sich verstärkt zu haben ... Er pfiff in den Ecken und brauste durch die Wipfel ...
»Wenn heute eine Feuersbrunst ausbräche, so würde sie mit der Scheune wohl nicht zufrieden sein,« dachte Paul, und dabei fiel ihm ein, daß er dem Agenten ein Monitum schicken müßte, damit er die Versicherung beschleunige. »Denn man kann nicht wissen, was über Nacht geschieht ... Ich will schlafen gehn,« schloß er seine Überlegungen, »morgen ist auch ein Tag und – ein Hochzeitstag dazu.«
Auf Zehenspitzen schlich er sich in sein Schlafzimmer, das er sich neben dem des Vaters eingerichtet hatte, um hilfreich beispringen zu können, wenn dem alten Mann irgend etwas passierte. Er zündete kein Licht an, denn der höhersteigende Vollmond schien bereits hell in das Gemach.
»Ob du wohl heute noch einschlafen wirst?« dachte er eine Stunde später. – Die Schatten der sturmbewegten Blätter tanzten auf der Bettdecke einen wilden Reigen, und zwischendurch tanzten die Mondlichter wie weiße Flämmchen.
»In jener Johannisnacht schien der Mond ebenso hell,« dachte er, und dabei fiel ihm ein, wie weiß das Nachtkleid Elsbeths unter dem dunkeln Mantel hervorgeleuchtet hatte.
»Das war doch die schönste Nacht in meinem Leben,«[213] murmelte er mit einem Seufzer, und darauf beschloß er, einzuschlafen, und zog sich zur Bekräftigung die Bettdecke über die Ohren ...
Eine Weile darauf war es ihm, als hörte er im Nebenzimmer den Vater leise aufstehen und zur Tür hinaushumpeln ... Deutlich hörte er, wie die Krücke auf den Steinfliesen des Hausflurs klapperte.
»Er wird wohl gleich wiederkommen,« dachte er, denn es geschah öfters, daß der Vater in der Nacht noch einmal aufstand.
Hierauf überfiel ihn ein unruhiger Halbschlaf, in dem allerhand schreckhafte Träume einander jagten. Als er vollends wieder erwachte, stand der Mond schon hoch am Himmel, kaum daß noch ein Strahl ins Zimmer fiel. Doch Garten und Hof lagen gebadet in seinem Lichte.
»Seltsam – mir ist doch, als hab' ich den Vater nicht wiederkommen hören,« sagte er vor sich hin. Er richtete sich auf und sah nach der Taschenuhr, die über seinem Bette hing.
Acht Minuten bis eins! ... Zwei Stunden waren inzwischen verflossen.
»Ich werde wohl fest geschlafen haben,« dachte er und wollte sich wieder aufs Ohr legen, da schlug, vom Sturm geschüttelt, die Haustür klirrend ins Schloß, so daß das ganze Haus in seinen Fugen erbebte.
Erschrocken fuhr er empor ... »Was ist das? ... die Haustür offen ... der Vater noch nicht zurück?« Im nächsten Augenblick hatte er Rock und Beinkleid übergeworfen, und barfuß, barhäuptig stürzte er hinaus ...
Die Tür, die von des Vaters Schlafzimmer nach dem Hausflur führte, stand weit geöffnet. – Bleich vor Angst trat er an das Bett ... Es lag unberührt, nur zu Fußenden war in der bauschigen Bettdecke eine Lücke eingedrückt. – Da also hatte der Vater gesessen, ohne ein Glied zu rühren, länger als anderthalb Stunden – augenscheinlich, um zu warten, bis er selber im Schlafe liege.
Was um des Himmels willen bedeutet das alles? –
Suchend irrte sein Blick im Zimmer umher ... Dort[214] im Winkel lagen umhergeworfen die wollenen Schuhe, in denen der Vater sonst den ganzen Tag über umherschlürfte, aber die Stiefel, die seit Monaten ungebraucht dort standen – die waren fort ...
Wie – wollte der lahme Vater zur Nachtzeit auf die Wanderschaft? Sein Herz drohte stille zu stehen ... Er stürzte auf den Hof hinaus.
Taghell lag er vor seinen Blicken, nur so weit der Schatten der Scheune reichte, herrschte Nacht ...
Der Sturm brauste in den Bäumen – der Sand wirbelte leuchtend empor, sonst alles still, alles leer ...
Er durcheilte den Garten – keine Spur – hinter dem Stall – keine Spur ... Was ist das? Das Haustor offen? – Wo ist er hin? ...
An seiner Seite winselte der Hund ihm entgegen – rasch befreite er ihn. –
»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«
Der Hund schnüffelte am Boden entlang und rannte nach dem Giebelende der Scheune, dorthin, wo die Strohhaufen lagen, die sich wie fahle Sandberge rings um die Mauern auftürmten ... Blendend lag das Mondenlicht auf der weißen Tünche der Wand und schillerte auf dem hellgelben Boden ... Man hätte eine Stecknadel finden können ... Nichts war zu bemerken, nur an einer Stelle schien das Stroh zerwühlt ...
Aber halt! – Wie kommt die Leiter hierher, die an der Wand lehnt? Die Leiter, die noch vor zwei Stunden an der Innenseite des Zaunes platt auf dem Boden gelegen?
Wer hat sie von ihrem Platz genommen?
Und – beim Himmel, was ist das? – – – – – Wer hat die Luke des Giebels geöffnet? Die Luke, die er selbst von innen verriegelt hat, ehe die Garben das Fachwerk füllten? – – –
Unten am Fuße der Leiter schimmerte der Boden feucht, als habe man eine Flüssigkeit verschüttet ... Ein Dunst von Petroleum stieg aus der Lache empor.
Mit zitternden Händen griff er in die Halme hinein,[215] die den Boden bedeckten. Ja, sie waren naß, und der üble Geruch teilte sich den Fingern mit, die sie berührt hatten.
Er fühlte seine Knie wanken, eine dumpfe, fürchterliche Ahnung umnebelte seine Sinne – mit Mühe raffte er sich auf und stieg die Leiter hinan, bis er die Luke erreicht hatte.
Unten winselte der Hund ...
»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«
Das Tier brach in freudiges Heulen aus und rannte schnüffelnd im Kreise umher, bis es die Fährte gefunden zu haben schien.
Paul starrte ihm nach. Sein Leib zitterte fiebrisch in qualvoller Erwartung.
Zum Hoftor ging des Tieres Weg. – Also wirklich! Der Vater war's gewesen, der es geöffnet hatte!
Aber dann – dann! Wohin wird er sich wenden?
»Such den Herrn, Turk, den Herrn!«
Der Hund heulte noch einmal kurz auf und rannte dann spornstreichs auf dem Weg nach – Helenental von dannen.
Nach Helenental – was will der Vater in Helenental? Ja, hat er nicht jüngst davon gesprochen, er sei nachmittags dort gewesen, »probeweise,« wie er sagte. – Probeweise! – Und wie seltsam, wie unheimlich er dazu gelacht.
Und heute noch – wie rätselhaft war sein Gebaren! Und als vom Scheunenbrande die Rede war, was wollten da seine Worte, daß es sich prächtig träfe heute? – warum gerade heute?
Nun gilt's des Rätsels Lösung zu finden, eh's zu spät ist!
Hilfesuchend starrte er um sich.
Seine Hand tastete unwillkürlich in das Dunkel der Lukenöffnung hinein und ergriff – den Henkel einer Blechkanne, die dort versteckt unter den Garben stand ... Es war der Petroleumbehälter, den er gestern frisch hatte füllen lassen. Und auf wessen Rat? Wer war gekommen und hatte gesagt – – –?[216]
»Vater, Vater, um Jesu willen, was willst du in Helenental?«
Und jetzt – wieviel ist noch drinnen? Kaum halb voll ist sie, kaum halb voll!
Und wie er sinnlos um sich weiter tastete, fand er Pakete mit Streichhölzern, die rings um die Kanne verstreut lagen ...
Da sank die Binde von seinen Augen! Ein qualvoller Schrei – »Er ist dabei, Helenental anzuzünden.«
Alles rings um ihn wirbelte und wogte, seine Hände umklammerten krampfhaft das Randbrett, sonst wär' er rücklings herniedergestürzt.
Nun lag alles klar ... des Vaters wirres Reden, sein Lachen, sein Drohen!
Aber noch war es Zeit. – Der Alte kroch ja nur an seiner Krücke. – Wenn er selber sich zu Pferde warf – ihm nachgaloppierte ...
»Ein Pferd aus dem Stall!« schrie er in den Sturm hinein und sprang an der Leiter hinab ... Da plötzlich zuckte es durch sein Hirn: »Warum fragte der Vater so genau nach der Zeit, da vor jenen Jahren – –? Soll etwa zu derselben Minute das Rachewerk sich vollziehen? Jesus, dann ist alles verloren. Eins war die Stunde, die ich ihm nannte, – und die Uhr ist eins ...«
Eine wahnsinnige Angst packte ihn – wiederum flog er die Leiter hinan.
Im nächsten Augenblick mußte die Flamme drüben emporsteigen.
Flammt es da nicht schon? Nein, nur der Mond ist's, der in den Fenstern des »weißen Hauses« glitzert ... Vater im Himmel, gibt es keine Rettung, kein Erbarmen? Wenn ein Gebet, wenn ein Fluch die Kraft besäße, daß die erhobene Hand erstarre! ... Wer warnt ihn, wer gibt ihm ein Zeichen, daß er umkehre auf seinem Wege? ...
Aber da flammt's! – Nein ... Noch eine Sekunde vielleicht, dann wird der Feuergleisch am Himmel stehen ...
»Elsbeth, wach auf!« ...
Ebenso wird es flammen wie damals vor acht Jahren,[217] als ihm, der im Helenentaler Garten lauerte, der blutige Schein die Glieder lähmte! – Wenn heute wie damals über der Heide ein Gleisch aufstiege! Damit des Vaters Hand erstarre, mitten im verbrecherischen Werke!
Gott im Himmel, laß ein Wunder geschehen! – Laß einen Gleisch aufsteigen über der Heide, wie damals – wie damals!
Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen! Ein Blitz müßte niederfahren, damit die Lohe zum Vater hinüberschriee: »Halt ein, halt ein!« – Und liegt denn alles klar und sternenhell? steigt keine Gewitterwolke über der Heide auf? – Vielleicht reckt er sich jetzt schon zum Strohdach empor! Vielleicht reibt er jetzt schon an den Hölzern! Im nächsten Augenblick kommt jede Warnung zu spät.
Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen!
Und ist keine Fackel da, die ich schwingen könnte, ihn zu warnen?
Flammen müßt' es – hier müßt' es flammen!
Und wie er mit stieren, vorgequollenen Augen, ringend nach Rettung, um sich starrte, da loderte es plötzlich hell wie jene Flamme, die ersehnte, durch sein irres Hirn.
Er jauchzte laut auf. –
»Ja, das ist's! Der Schreck wird ihn erstarren machen.«
Rettung! Rettung um jeden Preis!
Mit beiden Händen ergriff er die Kanne, und in weitem Schwunge goß er den Inhalt über die aufgestapelten Garben ...
Ein Griff nach den Streichhölzern – ein leises Zischen – der Sturm braust hohl in die Öffnung – und – hochauf spritzt die Flamme und faucht ihm ins Gesicht ...
Ein wilder, gellender Schrei ... Ihm wird es dunkel vor den Augen ... er sucht einen Halt und greift blindlings in das Feuer hinein ... doch was er erfaßt, gibt nach, und – in dem nächsten Augenblick stürzt er, eine flammende Gabe krampfthaft umklammernd, in weitem Bogen mitsamt der Leiter rücklings in das Stroh ...
Schon lodert sein Lager hellauf – noch hat er so viel[218] Kraft, sich seitwärts hinabzukollern – im nächsten Augenblick schon steht alles ringsum in Flammen ...
Und der Sturm bläst hinein, da erhebt sich ein Pfeifen, ein Zischen, ein Singen hoch in den Lüften ..., schon leckt es feurig am Firste hinan.
Er stürzt auf den Hof zurück, der noch schweigend vor ihm liegt.
»Feuer – Feuer – Feuer!« geht gellend sein Ruf, die Schlafenden zu wecken ...
In den Ställen, wo die Knechte liegen, wird es lebendig, aus den Kammern tönt ein Kreischen ...
Schon ist das Dach in einen feurigen Mantel gehüllt. Die Dachpfannen beginnen zu platzen und stürzen prasselnd zur Erde. Wo eine Lücke entsteht, spritzt sofort eine Flammengarbe gen Himmel.
Bis dahin hatte er mutterseelenallein auf dem Hof gestanden und mit gefalteten Händen dem grausenvollen Werk zugeschaut, nun wurden die Türen aufgerissen, Knechte und Mägde stürzten schreiend auf den Hof.
Da seufzte er tief und erleichtert auf, wie nach vollbrachtem Tagewerk, und schritt langsam nach dem Garten, ehe daß einer ihm begegnete ... »Hab' lange genug gearbeitet,« murmelte er, die Tür des Zaunes hinter sich ins Schloß werfend, »heut will ich ausruhen.«
Mit schleppenden Schritten ging er den Kiespfad hinab wie ein Todmüder, und unaufhörlich sprach er vor sich hin: »Ausruhen – Ausruhen.«
Sein Blick glitt matt in die Runde ... Von Mondenglanz und Flammenschein in ein Meer des Lichts getaucht, lag rings um ihn der Garten da, und die Schatten der sturmgepeitschten Blätter liefen gespenstisch vor ihm her. Hie und da fiel ein Funke, wie ein Leuchtkäferchen anzuschauen, auf seinen Weg. Er suchte sich die dunkelste Laube aus und verkroch sich in ihrem hintersten Winkel. Dort setzte er sich auf die Rasenbank und schlug die Hände vors Gesicht. Er wollte nichts mehr sehen und hören ...
Aber ein stumpfes Gefühl der Neugierde hieß ihn nach einer Weile wieder aufschauen. Und wie er die Augen erhob,[219] sah er die Lohe wie einen purpurnen, weißumsäumten Baldachin sich über dem Wohnhause wölben, denn dorthin stand der Sturm.
Da wußte er, daß alles dahin war.
Er faltete die Hände. Ihm war, als müsse er beten.
»Mutter, Mutter!« rief er, Tränen in den Augen, und reckte die Arme zum Himmel. –
Und plötzlich ging eine merkwürdige Veränderung in ihm vor. Ihm wurde ganz frei und leicht zu Sinn, der dumpfe Druck, der all' die Jahre lang in seinem Kopf gelastet hatte, schwand, und hochaufatmend strich er sich über Schultern und Arme, als wollte er sinkende Ketten abstreifen ...
»So,« sagte er, wie einer, dem eine Last vom Herzen fällt, »jetzt hab' ich nichts mehr, jetzt brauch' ich auch nicht mehr zu sorgen! Frei bin ich, frei wie der Vogel in der Luft!«
Er schlug sich mit den Fäusten vor die Stirn, er weinte, er lachte. Ihm war zumute, als sei ein unverdientes, unerhörtes Glück plötzlich vom Himmel auf ihn herabgefallen. –
»Mutter! Mutter!« rief er in wildem Jubel. »Jetzt weiß ich, wie dein Märchen endet. – Erlöst bin ich – erlöst bin ich!«
In diesem Augenblick drang angstvolles Tiergebrüll an sein Ohr und brachte ihn wieder zur Besinnung – »Nein, ihr armen Viecher sollt nicht umkommen um meinetwillen!« rief er aufspringend, »eher will ich selbst dran glauben ...«
Er eilte zurück nach der Hintertür des Hauses, wo Knechte und Mägde eifrig Möbel ins Freie schleppten.
»Seht den Herrn!« riefen sie weinend und wiesen einer dem andern seine nackten Füße ...
»Laßt liegen!« schrie er, »rettet das Vieh!«
Eine Axt liegt am Wege. Mit ihr sprengt er die Hintertüren des Stalles, die nach den Feldern führen, denn der Hof ist schon ein Flammenmeer.
Wie im Traum sieht er Garten und Wiese mit Menschen[220] sich füllen. Die Dorfspritze rasselt heran, auch auf dem Wege von Helenental wird es lebendig.
Drei-, viermal geht's in die Flammen hinein, die Knechte hinter ihm drein, dann sinkt er, von Schmerzen ohnmächtig, mitten in dem brennenden Stalle zusammen ...
Ein Schrei, ein markerschütternder, aus Weibermunde, ließ ihn noch einmal die Augen öffnen.
Da schien's ihm, als sähe er Elsbeths Angesicht, wie in Nebeln verschwindend, über seinem Haupte, dann ward es wieder Nacht um ihn. – – – – – – – –
Ausgewählte Ausgaben von
Frau Sorge
|
Buchempfehlung
Glückseligkeit, Tugend und Gerechtigkeit sind die Gegenstände seines ethischen Hauptwerkes, das Aristoteles kurz vor seinem Tode abschließt.
228 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro