59. Die erste Haager Friedenskonferenz (Fortsetzung)

[455] 28. Mai. Novicow angekommen. Wie denkt man sich den Verfasser von soziologisch-philosophischen Werken von je 700 Seiten Großoktav, mit Titeln wie: »Les luttes entre sociétés humaines et leurs phases successives«, »La Théorie organique des Sociétés« und dergleichen mehr? Die Bücher habe ich gelesen und mir den Verfasser ungefähr so gedacht: Weißbärtig, mit Brille, in der äußeren Erscheinung vielleicht ein bißchen vernachlässigt – denn wenn man den ganzen Tag in gelehrten Büchern steckt und im Kopf die sozialesten Probleme herumträgt, kann man doch kaum sich mit den kleinen Eitelkeiten der Toilette befassen; sehr ernst – zwar ohne Stich ins Pedantische, denn die Schreibweise ist frisch und funkelnd – und vielleicht etwas düster, denn wenn man so tiefen Einblick in das Getriebe der Welt macht, sich so eingehend mit den Erscheinungen des Elends und des Leidens beschäftigt hat, so mag dies wohl zur Schwermut stimmen.

Und der wirkliche Novicow? Ein eleganter Weltmann, der lustigste Gesellschafter, mit (für seine neunundvierzig Jahre) viel zu jugendlichem Aussehen, voll Witz und »entrain« in der Unterhaltung. Ich glaube, diese Eigenschaften, so liebenswürdig sie sind, schaden ihm einigermaßen. Wer seine Bücher nicht gelesen hat, der wird sie ihm nicht zumuten, der wird sich nicht mit jenem scheuen Respekt an die Lektüre machen, mit dem man sich in wissenschaftliche Werke vertiefen soll.

Vormittag Empfang bei der Baronin Grovestins. Fast alle[455] Delegierten finden sich hier ein. Auf der Stiege begegne ich dem Grafen Münster mit seiner Tochter. Im Salon bildet den Mittelpunkt einer zahlreichen Gruppe die Familie des chinesischen Delegierten. Madame Yang trägt denselben Kopfputz wie bei Hofe, dieselben Papierblumen längs der Schläfe und ist bei Tag ebenso larvenmäßig geschminkt wie bei Kronleuchterlicht. Dabei aber doch ein Zug von Lieblichkeit in dem hübschen Gesichtchen. Ihre Geste, wenn sie die Hand reicht, hat etwas Holzpuppenmäßiges; dann aber schüttelt sie die Hand des anderen so herzhaft, als bedeute es: »Fürs Leben, alter Kamerad!« Sohn und Töchterchen, zwölf und acht Jahre alt, auch im chinesischen Kostüm, sind mitgenommen, und sie führen die Hauptunterhaltung, denn sie sprechen Englisch und Französisch.

Diese Kinder werden auch nicht mehr als echte unverfälschte Chinesen aufwachsen. Hinter ihrer Mauer liegt fortan für sie ein Stück Welt – eine Welt noch dazu, in der alle Nationen sich zusammentun, um im Namen des Völkerfriedens zu verhandeln ... diese Idee wird ihnen zeitlebens mit der Erinnerung an die Süßigkeiten verbunden bleiben, die ihnen mit zierlichen Worten Fräulein von Grovestins auf einem Delftteller reicht ... Nach und nach werden alle chinesischen Mauern – es gibt deren noch ganz andere, als die um das Reich der Mitte – fallen. Abbröckeln sehen wir sie schon.

Neue Bekanntschaft: Dr. Holls, der zweite amerikanische Delegierte. Setzt sich zu mir auf ein kleines Eckkanapee. Wir sprechen Deutsch. Dr. Holls ist seines Zeichens Advokat in Neuyork, stammt aus deutsch-amerikanischer Familie. Große vierschrötige Gestalt, dreieckige, hoch in die Stirne gezeichnete Augenbrauen – wie Accents circonflexes. Er bestätigt mir die Nachrichten, die ich von Stead erfahren habe. Er erzählt, daß das öffentliche Interesse an der Konferenz nirgend so lebhaft ist wie in seinem Land. Täglich laufen Kabeltelegramme ein; Beschlüsse, Sympathiebriefe aus allen Staaten der Union und aus den verschiedensten Kreisen. Jede dieser Botschaften wird dankend bestätigt, und sie tragen nicht nur dazu bei, die amerikanischen Delegierten zu stärken, sondern machen auch diesen Eindruck auf die Abgesandten anderer Länder, welche in dem Interesse der westlichen Republik ein bedeutungsvolles Zeichen der Zeit erblicken mußten. Ich drücke mein Bedauern aus, daß diese Nachricht nicht sofort die Runde bei der europäischen Presse mache.

»Ja,« bestätigt Holls, »der Ausschluß der Journalisten war ein großer Mißgriff. Die meisten europäischen Staaten sind hier durch Diplomaten vertreten, welche in Heimlichkeit und Geheimtuerei Faktoren[456] erfolgreicher Diplomatie erblicken. Wir Amerikaner und noch ein paar andere waren dagegen – aber die Mehrheit entschied. Jetzt kann es geschehen – einige haben es schon getan –, daß die Vertreter der großen Blätter sich beleidigt fühlen und wieder abreisen. Ihre Redaktionen werden sich dadurch rächen, daß sie die Konferenz selber verkleinern oder ignorieren.«

29. Mai. Ausnahmsweise kein Rout. Verbringen den Abend im Freundeskreis zu Hause. Fried, das Grelixpaar, der Maler ten Kate und Novicow. Ein zornerfülltes Vergnügen bereiten wir uns durch die laute Lektüre eines Päckchens von Zeitungsausschnitten aus der deutschen nationalistischen Presse.

Wie die verschiedenen »Neuesten Nachrichten« und verschiedenen »Lokalanzeiger« in Berlin, Leipzig, Dresden, München u.s.w. über die Konferenz schreiben, das ist unqualifizierbar: »Das widerwärtige Schauspiel im Haag«, »Die Konferenz der Absurditäten«, »Der gegenwärtig betriebene heillose Unfug, der bei allen klar denkenden und deutsch empfindenden Männern ehrliche Entrüstung erregen muß«, »Für den Gang der Weltgeschichte wird die Komödie im Haag fast dasselbe bedeuten, wie für das Leben der einzelnen ein Besuch von ›Charleys Tante‹.« Und der »Vorwärts« (auch du, Brutus!), der nicht nationalistisch ist, aber die Konferenz verpönt, weil sie von einem Autokraten einberufen und mit Aristokraten und Bourgeois beschickt ist, der »Vorwärts« schreibt: »Wie lange werden die Auguren es noch aushalten, bis sie in homerisches Gelächter ausbrechen und unter dem Gelächter der Welt auseinander gehen!«

Gebt nur acht, ihr Zeitgenossen! Wenn ihr es versäumt, so ernste Glücksarbeit ernst zu nehmen und diejenigen, die sie verrichten – mögen auch Widerwillige darunter sein –, an den Ernst ihrer Aufgabe zu mahnen, sie zu deren Erfüllung zu verhalten, sie beim Wort zu nehmen, gebt acht, daß ihr das – nicht unter dem Gelächter, sondern unter den Tränen der Welt zu bereuen habt!

30. Mai. Spazierfahrt nach Scheveningen.

Von der Stadt, die ja selber in einem Garten liegt, fährt man eine halbe Stunde ununterbrochen durch Parkalleen zum Meeresstrand. Am Wege rechts und links hinter blühenden Vorgärtchen Villa an Villa. In Scheveningen selber längs des Strandes Hotel an Hotel. Doch ist das alles noch leer. Von der Nordsee, welche unter grauem Himmel graue Fluten wälzt, weht kalte, salzige Luft. Noch sind die Strandkörbe nicht aufgestellt, noch die Badewagen nicht an Ort und Stelle. Auf der weiten Terrasse des Kurhauses stehen zwar schon, um den stummen Musikpavillon herum, zahllose[457] Reihen von Tischen und Stühlen, aber alles unbesetzt. Auf dem Meere sieht man keine Schiffe noch Boote, nicht einmal für die Möwen scheint die Badesaison eröffnet.

Nur eine Anzahl von Wagen und von Fußgängern belebt den Strand und die Straßen. Scheveningen ist ja für alle Haager und jetzt namentlich für die Mitglieder der Konferenz allgemeines Promenadenziel. Mit vielen Bekannten tauschen wir Grüße. Unser Landsmann Graf Welsersheimb ist auf dem Bicycle gekommen und radelt eine Strecke plaudernd neben unserem Wagenschlag. Herr von Okoliczany in Begleitung einer schlanken Tochter reitet vorüber. Vom Hotel Oranje sieht man die chinesische Flagge wehen. Yang-Yü mit seiner Familie ist der einzige Delegierte, der schon aus dem Haag nach Scheveningen übersiedelt ist.

Alle diese Dämme, diese Bauten ... Wie mühsam und tapfer hat doch das holländische Volk sein Land dem Wasser abgerungen! Das sind menschenwürdige Kämpfe – gegen die Wucht und Wut der Elemente.

Sollte allein der Dammbau gegen Mitmenschenwut nicht ausführbar sein?

Kleines Diner bei uns. Kammerpräsident Rahusen; der österreichische militärische Delegierte von Khuepach, der zweite russische Delegierte Basily, Novicow, Bloch und wir drei; ein kleiner Kreis um einen runden Tisch – die vorteilhafteste Voraussetzung für allgemeines und angeregtes Tischgespräch. Zum schwarzen Kaffee gesellt sich zu uns der Korrespondent der »Neuen Freien Presse«, Dr. Frischauer, den ich auch eingeladen, der aber verhindert war zu kommen. Nach dem Diner noch Soiree im Hause Karnebeek. Frau von Staal erzählt mir im Gespräch, wie sehr ihr Mann täglich mit Adressen, Memoranden, Broschüren und Deputationen aus aller Welt bestürmt wird.

»Wohl auch mit unzähligen Briefen,« frage ich, »und mitunter recht verrückten?«

»O ja, sogar Drohbriefe. Anonyme Warnungen, daß gegen ihn ein Mordanschlag geplant wird.«

»Das ist ja entsetzlich! Wie nimmt Herr von Staal das auf?«

»Er lächelt dazu.«

In dem Hotel »Twe Steeden«, das ten Kate während seines Haager Aufenthaltes bewohnt – sein eigentliches Heim ist der Landsitz Epé –, hat uns der Künstler heute ein heiteres Diner gegeben, dessen Honneurs seine liebenswürdige Frau macht. Die Damen von Waszklewicz und Selenka waren unter den Gästen, Herr von Bloch,[458] Novicow, Dr. Trueblood und A. H. Fried; kurz, der richtige kleine Friedenskongreß.

Noch mehr Friedenskongreß, als nach dem Diner die Tür aufgeht und Chevalier Descamps eintritt.

»Verzeihen Sie den Ueberfall ... meine Zimmer liegen über diesem Speisesaal – Ihre fröhlichen Stimmen drangen zu mir herauf, und als ich frug, wer da unten Hochzeit feiere, erfuhr ich, wer hier versammelt sei, und da komme ich – uneingeladen – aber als Ueberbringer guter Nachrichten; wir hatten eine prächtige Sitzung heute.«

Nun ward Herr von Descamps umringt und ausgefragt. Die dritte Kommission hatte an diesem Nachmittag über die Schiedsgerichtsfrage verhandelt. Und zwar, wie Descamps versichert, in sehr befriedigender Weise. Der im bekannten »Memorandum an die Regierungen« niedergelegte Plan wurde als Grundlage des Neuzuschaffenden genommen, und der feste Wille bei der Mehrzahl der Kommissionsmitglieder, die Angelegenheit zu einem positiven Resultat zu bringen, habe sich in dieser Sitzung dokumentiert. Descamps selber ist mit dem Referat über das Projekt betraut. Da ist die Sache allerdings in guten Händen.

Besuch von Beernaert und seiner Frau. Teilt mir befriedigt das Ergebnis der Sitzung mit, aus der er kommt. Die zweite Kommission, deren Vorsitz er führt, hat die Ausführung des Brüsseler Vertrages (Erweiterung der Genfer Konvention) beschlossen.

»Es freut mich, daß Sie sich freuen,« antworte ich; »aber ich sage Ihnen aufrichtig, daß mich die Frage der Humanisierung des Krieges – namentlich in einer Friedenskonferenz – nicht interessieren kann. Es handelt sich ja doch um die Kodifizierung des Friedens. Der heilige Georg ritt aus, den Drachen zu töten, nicht ihm die Klauen zu stutzen. Oder, wie Frédéric Passy sagt: ›On n'humanise pas le carnage, on le condamne, parce qu'on s'humanise.‹«

»Vous êtes une intransigeante,« lächelt Herr von Beernaert und tröstet mich mit dem gleichzeitigen Vorschreiten der Konferenz in der Schiedsgerichtsfrage, als deren überzeugten Förderer ich ihn übrigens kenne.

Vom Redakteur des »Berliner Tageblatt«, dem ich mein bedauerndes Befremden darüber ausgedrückt, daß in einer so weitverbreiteten Zeitung keine Korrespondenz zu finden sei, erhielt ich folgende Antwort:


Berlin, 31. Mai 1899.


Sehr geehrte Frau Baronin!


Ihre freundliche Zuschrift vom gestrigen Tage zwingt mich, Ihnen mitzuteilen, daß wir erstens nicht ohne Vertretung auf[459] dem Haager Kongreß sind, so daß wir von allem Notwendigen und Wissenswerten unterrichtet werden, und zweitens, daß ich bei der feindseligen Haltung, welche die Kongreßmitglieder gegen die Presse einzuschlagen für gut befunden haben, es für richtig halte, die Journalistik nicht durch Antichambrieren bei den verschiedenen Staatsmännern zu entwürdigen.

Da die Herren ohnedies nur mit Hilfe der Oeffentlichkeit sich ein Zeugnis für ihren Fleiß und ihr Wohlverhalten ausstellen lassen können – ein Zeugnis, auf das sie auch ihren Auftraggebern gegenüber angewiesen sind –, so lasse ich die Dinge ruhig an mich herankommen und teile nur das eben Wissenswerte meinen Lesern mit.

Wenn sogar ein Mann wie Mr. Stead sich darüber beklagt, daß man ihm nichts sagen will, so werden Sie es begreiflich finden, daß Leute, die nicht die Gewohnheit haben, vom Zaren empfangen zu werden, dem Gebaren der Diplomatie kühl bis ans Herz hinan gegenüberstehen.

Alles das soll mich nicht hindern, selbst den kleinsten Fortschritt zum Besseren, der etwa aus den Kongreßberatungen hervorgehen sollte, freudig anzuerkennen, aber ich halte mein Blatt und meine Leser für zu gut, um nach den Brosamen zu schnappen, die von dem Nachrichtentische der Kongreßmitglieder herabfallen könnten.

Sie werden, wie ich hoffe, dieses Verhalten eines unabhängigen und freisinnigen Blattes zu würdigen wissen und nach diesen Darlegungen in unserer Stellungnahme nichts Seltsames finden.

Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung habe ich die Ehre zu verharren als

Ihr ergebenster

Dr. Artur Levysohn.


Ein unverantwortlicher Standpunkt. Die Zeitereignisse haben je nach ihrer Bedeutung von der Presse mitgeteilt zu werden und nicht je nach den Empfindlichkeiten der Journalisten. Die Rücksicht auf das Publikum hat wohl den Ausschlag zu geben.

Heute wurde die Badesaison und das Kurhaus in Scheveningen eröffnet. Herr von Bloch hat uns zum Diner ins Kurhaus eingeladen. Anwesend die Journalisten Dillon und Dr. Frischauer. Er erzählt uns – Professor Martens hat es ihm mitgeteilt –, daß das Prinzip der Mediation in den Text der Konvention aufgenommen worden sei. Namentlich die Verpflichtung der neutralen Staaten, bei Drohung oder auch nach Ausbruch eines Krieges gute Dienste anzutragen, was von vornherein niemals als »unfreundlicher Akt« angesehen werden dürfe. Dieser letzte Paragraph ist dem Grafen Nigra zu danken.[460]

2. Juni. Dr. Frischauer reist ab. Er verabschiedet sich bei uns und überläßt mir den Auftrag, alles Interessante, was hier vorfällt, der »Neuen Freien Presse« in Telegrammen und Korrespondenzen mitzuteilen. Abends der gewöhnliche Freitagsempfang bei Beaufort. Mache mehrere neue Bekanntschaften:

Turkhan-Pascha. Erinnert mich in der eleganten äußeren Erscheinung an Rudolf Hoyos; ist mehrere Jahre Minister des Aeußern gewesen und führt den Titel Wesir. Hatte das zweifelhafte Glück, Militärgouverneur der Insel Kreta gewesen zu sein. In seiner Unterhaltung – er spricht das reinste Französisch – verbindlich, liebenswürdig, dominiert ein leiser satirischer Ton.

Noury-Bey, der zweite türkische Delegierte. Höchstens vierzig, sehr feine Züge, rötlicher Vollbart; Inspektor im Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Wohnte voriges Jahr als Delegierter der Türkei dem Kongreß gegen die Anarchisten in Rom bei. Die beiden ottomanischen Würdenträger machen mir nicht den Eindruck, als ob ihnen das Gelingen der hiesigen Arbeit besonders glaubwürdig und wünschenswert erschiene.

Chedomille Myatovic, gewesener serbischer Minister des Aeußern, jetzt bevollmächtigter Minister in London, ist hingegen ein begeisterter Anhänger der Konferenzziele.

Augustin d'Ornellos Vasconsellos, Delegierter Portugals, erzählt mir, daß er Goethes »Faust« in seine Muttersprache übersetzte.

De Mier, mexikanischer Gesandter in Paris. Außer den Vereinigten Staaten ist kein anderer amerikanischer Staat hier vertreten als Mexiko.

3. Juni. Vortragsabend von Bloch. Geladenes Publikum. Anwesend fast sämtliche Delegierte. Viele Journalisten, holländische und fremde. Thema: »Die Entwicklung der Schußwaffen«. Hinter dem Pult des Vortragenden eine weiße Fläche für die Lichtbilder. Bloch spricht mit großer Natürlichkeit und Einfachheit. Niemals sucht er oratorische Effekte. Man sieht, nicht »Reden halten« will er, sondern sagen, was er zu sagen hat. Er will das Bild des Zukunftskrieges zeigen. Und wo fände er ein geeigneteres Publikum dafür als die hier Versammelten? Diplomaten und Militärs, die berufen wären, über einen etwaigen solchen Krieg zu verhandeln oder ihn zu führen, jetzt aber einberufen sind, ihn zu vermeiden.

Die historische Entwicklung der Schußwaffen, von den ersten Feuersteingewehren an bis zu den letzten Modellen, wird an der Hand von Abbildungen und Tabellen dem Publikum vorgeführt. Das Projektil des neuen Infanteriegewehres fegt alles weg, was es[461] bis auf 600 Meter streift. Aber es winken größere Fortschritte: In allen Armeen werden Versuche angestellt mit noch kleinerem Kaliber. Man berechnet, daß wenn im Deutsch-Französischen Kriege die jetzt ein geführten Gewehre benutzt worden wären, so wären die Verluste viermal größer gewesen; führte man die allerneuesten Modelle ein, so wären die Verluste dreizehnmal größer. Freilich würde eine solche Umgestaltung der Heere des Dreibundes und des Zweibundes vier Milliarden Franken kosten.

(Nun, angesichts eines so schönen Resultats – man denke doch: dreizehnmal mehr Tote und Verstümmelte als mit dem primitiven Schußprügel – da wären doch vier Milliarden nicht zuviel – und die bringt man leicht auf, wenn man dem arbeitenden Volk die Lebensmittel etwas verteuert.)

Die Parenthese ist von mir, nicht von Bloch. Sein Vortrag ist ganz objektiv; er macht keine bitteren Ausfälle, er bringt Ziffern und Daten; die Schlußfolgerungen überläßt er der Vernunft und dem Gewissen der Hörer.

Der Vortrag wird durch eine halbstündige Pause unterbrochen. In einem Nebensaal sind reichbesetzte Büfette aufgestellt und Erfrischungen werden gereicht. Bloch ist der Hausherr, und die Vortragsräume sind in Salons umgewandelt, wo man einander begrüßt, neue Bekanntschaften macht und über das Gehörte Gedanken austauscht.

5. Juni. Der Herausgeber des »Dagblad« hat Stead die ersten Seiten seines Blattes zur Veröffentlichung einer täglichen Chronik der Konferenz überlassen. Heute erschien die erste Nummer. Vortrefflich redigiert. Wird von großem Nutzen sein. Prächtiger Mensch, dieser Stead! Zuerst seine neunmonatige Kampagne in Schrift und Wort, und jetzt diese Arbeit!

Ein siebzehnjähriger Sohn Basilys besucht mich. Bringt ein Album, auf dessen Deckel in Relieflettern das Wort »Pax« steht, in das er alle Mitglieder der Konferenz und alle hier anwesenden Friedensfreunde ihre Namen eintragen läßt. Wie viele hohe militärische Chargen werden sich in diesem Paxalbum verewigen! – Und dieser Jugendeindruck verwischt sich gewiß nicht mehr. Wie ganz anders wird doch die uns folgende Generation dem Begriffe Weltfrieden gegenüberstehen, sie, die Zeugin gewesen sein wird von dem Auftauchen und Vordringen dieses Begriffs in offizielle Kreise, in den Vordergrund der Tagesgeschichte. In unserer Jugend war solches entweder ganz unbekannt oder verlacht. Wenn dieser Jüngling, der sich unter der Rubrik »Pax« eine Sammlung von zeitgenössischen[462] Autogrammen anlegt, einmal Amt und Würden bekleidet, vielleicht ein gewichtiges Wort in den politischen Fragen der Zukunft zu sprechen haben wird – so wird er wohl anders als unsere ergrauten Politiker über die Sache der Völkerjustiz denken, und sollte dann eine neue offizielle Friedenskonferenz einberufen werden, in der er und seinesgleichen ihr Votum abzugeben hätten, da würden die Verhandlungen wohl mit viel weniger Zweifeln und Schwierigkeiten vor sich gehen, als dies in der gegenwärtigen Konferenz, der ersten ihrer Gattung, der Fall sein kann.

6. Juni. Wir übersiedeln nach Scheveningen – Hotel Kurhaus. Die Installation dauert nicht lang. Nach zwei Stunden sieht unser großer Ecksalon schon so gemütlich aus, als wäre er seit zwei Jahren bewohnt – dank der Liebenswürdigkeit des Direktors, Herrn Goldbeck, der uns in unseren Zimmern alles hinein- und hinausstellen läßt, wie wir's wollen. Die hübschesten Möbel des noch ziemlich leeren Hotels werden uns zur Verfügung gestellt. Große Atelierfenster nehmen beinahe zwei ganze Wände ein. Das eine Fenster, der Eingangstür gegenüber, rahmt das Bild des Meeres ein; beim anderen sind die roten Seidenrollvorhänge heruntergelassen, wodurch das ganze Zimmer in rötlichen Schein getaucht ist. Blumen in Vasen, in Jardinieren und in Töpfen; herrliche Fruchtkörbe – Ananas, Melonen, Trauben (letzteres eine Aufmerksamkeit des Herrn von Bloch), Bücher, Broschüren, Mappen, Zeitungen.

In der gestrigen Sitzung erstattete Herr von Descamps Bericht über die Arbeit des Komitees. Léon Bourgeois präsidierte. Wie angenehm, daß jetzt Steads Chronik alle diese Sitzungsberichte und die authentischen Texte der vorgelegten Artikel bringt. Da kann man nun den Fortgang genau verfolgen. Ueber mehrere Artikel des russischen Vorschlags über gute Dienste und Vermittlung hat man sich also schon geeinigt.

Nur steht in den Artikeln die fatale Floskel: »Wenn die Umstände es erlauben.« Deutlich sieht man da das Ergebnis der Kompromisselei, die in den Resolutionstexten solcher Komitees gewöhnlich enthalten ist, die sich aus Anhängern und Gegnern einer Sache zusammensetzen. Nur unter der Bedingung eines Zusatzes, der dem Hauptsatz die allgemeine Gültigkeit nimmt, geben die Opponenten ihren Widerspruch auf. Die Hintertür ist gerettet, das ist ihnen die Hauptsache.

Ankunft des Baron Pirquet. Er war in Brüssel, wo der Rat der Interparlamentarischen Union eine Sitzung abgehalten, um die Tagesordnung der im August in Christiania stattfindenden Konferenz[463] festzusetzen, und bringt den im Haag tagenden Kollegen ein Schreiben der Union. Pirquet erzählt, daß vor wenigen Tagen mein Vetter Christian Kinsky, in dessen Hause wir so viele frohe Stunden verlebt, plötzlich gestorben ist.

Abends zweiter Vortrag Blochs. Er schildert die Schwierigkeiten, die bei den modernen Millionenheeren die Mobilisation begleiten würden. Nach den ersten zwei Wochen eines Zukunftskrieges würde der zehnte Teil der Heere – ohne die Verwundeten zu zählen – in den Spitälern sein. Er zitiert auch einen Satz, den General Haeseler gesprochen: »Wenn die Verbesserung der Schießwaffen so fortgeht, so werden nicht genug Ueberlebende sein, die Toten zu begraben.«

Der Vortrag wurde wieder, wie vorgestern, von einer Plauderpause am Büfett unterbrochen. Mit Léon Bourgeois sprachen wir von den Ereignissen in Paris. Es ist nämlich nichts Geringeres dort geschehen, als daß eine Bande junger »Edelleute« (Boni de Castellane u.s.w.) mit ihren Stöcken auf den Hut des Präsidenten einhieben. Léon Bourgeois gibt zu, daß dies empörend sei; »aber«, fügt er hinzu, »nicht gefährlicher als der Schaum am Meeresstrand.«

7. Juni. In der gestrigen Sitzung kamen die Beratungen der Kommission I (Kriegsgesetz, Bewaffnung u. dergl.) zur Sprache. Davon übertrage ich nichts in mein Tagebuch. Die Sicherung und Organisierung des Friedens hat mit der Regelung des Krieges nichts, gar nichts zu tun, im Gegenteil! Man will (d.h. manche wollen) die Gegensätzlichkeit der beiden Ziele verwischen, wollen das eine an Stelle des anderen schieben. Sie treiben den Keil ein, der das Friedenswerk sprengen soll.

Man denke, es hätte ein Kongreß zur Befreiung der Sklaven stattgefunden. Wäre daneben eine Konvention nötig gewesen über die Behandlung der Neger, über die Zahl der Peitschenhiebe, die ihnen zu erteilen sind, wenn sie sich bei der Arbeit in der Zuckerplantage träge zeigen?

Oder die Bewegung gegen die Folterjustiz? Wäre die Vereinbarung, das in die Ohren zu träufelnde Oel, statt siedend, nur mit dreißig Grad Hitze anzuwenden, eine Etappe auf dem Wege zum Ziele gewesen und nicht vielmehr ein Zurückhalten auf jenem anderen Weg, der ja verlassen werden sollte?

9. Juni. Der Meine weckte mich mit einem Kuß und einem warmen: »Ich danke dir!« – »Wofür?« – »Daß du geboren wurdest.« – Ja, richtig – mein Geburtstag ist's. Das interessiert mich nicht – was hier geboren werden sollte: die Völkerjustiz[464] – das nimmt meinen ganzen Sinn gefangen. Gestern Arbeit der dritten Kommission über den Artikel X des Schiedsgerichtsvorschlags. Der Artikel nämlich, der die Fälle bestimmen soll, in welchen der Appell an das Schiedsgericht obligatorisch zu sein habe. Fälle, die »weder die vitalen Interessen noch die Ehre der Staaten berühren«. – Wieder so eine Hintertür – oder vielmehr ein Scheunentor zum Eindringen des Krieges. Er hat hier gute Verteidiger, der rauhe Geselle ...

Großes Diner bei unserem Gesandten Okoliczany. Meine Nachbarn sind der russische Chargé d'affaires und Mr. Pichon von der französischen Delegation mit der Funktion Hilfssekretär – ein junger Leutnant mit keckem Schnurrbärtchen. Hat aber Verständnis und Sympathie für unsere Sache, ist ein großer Bewunderer d'Estournelles'. Er gibt zu, daß die Welt vorwärtsschreitet und daß eine kommende Kultur für den Krieg keinen Raum mehr haben wird, nur den Kolonialkrieg will er noch als berechtigt gelten lassen. Er ist selber im Sudan gewesen.

10. Juni. Es fällt mir schwer, meine Korrespondenz zu bewältigen. So viele Briefe, Telegramme und voluminöse Schriften wie jetzt im Haag habe ich sonst im ganzen Jahre nicht bekommen. Ratschläge, Vorschläge, untrügliche Mittel zur Friedenssicherung. Und das alles soll ich den Delegierten begreiflich machen (!). Erfinder von Luftschiffen und Flugmaschinen übersenden mir ihre Pläne und Prospekte. Durch Eroberung der Luft müßten die Grenzen mit ihren Zollschranken und Festungen schwinden, meinen die aeronautischen Briefschreiber. – Oder aber, es beeilen sich die Kriegsminister, Luftflotten zu bauen? Und fliegende Ulanenregimenter zu bilden? Alle neuen Erfindungen werden ja stets von den Kriegsverwaltungen nutzbar gemacht. Dennoch bin ich überzeugt, daß jede technische Vervollkommnung, besonders alle Verkehrserleichterungen, schließlich doch dem Völkerfrieden vorbauen.

Gestern in der Schiedsgerichtskommission lag der Artikel XIII des russischen Planes vor: sofortige Inangriffnahme der Frage eines ständigen Tribunals. Und zwar eines Tribunals, nicht nur in posse, sondern in esse.

Während sie hier über Schiedsgericht theoretisch verhandeln, heißt es, daß es wieder einmal praktisch angerufen werden soll. Präsident Krüger hat dem Sir Milner vorgeschlagen, daß etwaige Meinungsdifferenzen dem Schiedsgericht unterbreitet werden mögen. Sir Milner wendete ein, daß ein solches Verfahren die Suzeränität Englands in Frage stellen würde.[465]

11. Juni. Beim Sonntagsempfang Grovestins' passierte mir etwas Amüsantes. Eine spanische Dame, Señora Perez, fragte mich, was ich vom Frieden halte. Ich muß wohl ein zweifelhaftes Gesicht gemacht haben, denn sie kommt meiner Antwort hastig zuvor:

»Urteilen Sie nicht, ich bitte, ehe Sie ein Buch gelesen haben, betitelt ›Die Waffen nieder‹. – Haben Sie davon gehört?«

»O ja, bis zum Ueberdruß.«

»Nein, nein, lesen Sie es nur, und dann sprechen Sie; – die Autorin soll im Haag sein.«

»Die Autorin sitzt neben Ihnen.« –

Wie das sooft geschieht, hatte Señora Perez meinen Namen bei der Vorstellung überhört.

Bloch gibt ein kleines Diner im Hotel Royal. Nach dem Diner fahren wir zu seiner dritten Vorlesung. Thema: »Der Seekrieg«.

Das Schicksal der Kriege entscheidet sich nicht zur See, sondern zu Lande. Zwischen zwei gleichwertigen Flotten kein entschiedener Sieg, sondern gegenseitige Vernichtung der Flotte.

Die Unmöglichkeit, den Seehandel in Kriegszeiten zu schützen. Vergleich der Ausgaben für die Flotte mit dem Wert des Handels: der angebliche Schutz kostet hundertmal mehr, als das Geschützte wert ist.

Neben mir sitzt Graf Nigra. Die Ausführungen Blochs interessieren ihn sehr. Wir sprechen von den zu erwartenden Resultaten.

»Die Welt wird nur schwer verstehen,« sagte Nigra, »wie bedeutungsvoll auf den hier gelegten Grundlagen das Zukunftsgebäude sich gestalten kann; versteht sie ja auch nicht, daß die Einberufung der Konferenz an sich schon ein Ereignis von überwältigender Wichtigkeit ist.«

Während der Pause zirkuliert im Saale ein alarmierendes Gerücht: In der Schiedsgerichtsdebatte soll man zu einem toten Punkt gelangt sein ... ein entschiedener Widerspruch von seiten einer Großmacht ...

12. Juni. Des Morgens unser stiller Ausflug zur Feier des dreiundzwanzigsten Hochzeitstages. Abends einige Gäste zu Tisch: Bihourd, der französische Gesandte im Haag; Kapitän Scheine von der russischen Marine; Léon Bourgeois; Bloch; Theodor Herzl.

Einen interessanteren Tischnachbarn als Bourgeois habe ich kaum jemals gehabt. Was mir unser Gespräch so besonders genußreich machte, ist die tiefe Uebereinstimmung in Friedenssachen. Der gewesene und – wer weiß – künftige französische Ministerpräsident[466] ist für die Ziele der Konferenz begeistert. Die Aufgabe, die er hier zu erfüllen hat, erscheint ihm viel lohnender und wichtiger als die Bildung eines Kabinetts. In Paris steht eine Ministerkrise bevor, und Bourgeois wird wahrscheinlich dahin berufen werden; er nimmt sich aber fest vor, zurückzukommen, um die hiesige Arbeit – »die der Welt und damit auch seinem Vaterlande nutzen soll« – nach Kräften zu Ende zu führen.

Wir sprechen unter anderem von der französischen nationalistischen Presse. Ich klage über den hetzerischen Ton, namentlich in jener Presse, die das Volk liest.

»Das ist nicht so schlimm. Nirgends liest das Volk – namentlich die Arbeiter – so viel Zeitungen wie bei uns, aber man glaubt nicht an sie. Der französische Arbeiter kauft ein Blatt, liest es, blaguiert es, schwört aber nicht darauf. Sein Sinn ist offen, geweckt und dürstet nach allem, was frei und gerecht ist. Die Rassenhetze ekelt ihn an. Ich weiß doch, wie man in Arbeiterkreisen denkt und fühlt – ich stamme ja selber daraus.«

Ich frage über den toten Punkt in der Schiedsgerichtsfrage.

»Ich darf jetzt nichts sagen,« antwortet Bourgeois, »aber seien Sie ruhig – es wird nichts unversucht bleiben ...«

Wir beschließen den Abend im großen Musiksaal, wo ein von Direktor Goldbeck zu Ehren der Delegierten veranstaltetes Konzert stattfindet. Von unseren Gästen verläßt uns Bourgeois – er müsse noch in die Stadt, bemerkte er entschuldigend.

Nach einer Weile kommt Graf Nigra auf mich zu: »Wissen Sie schon die Nachricht? Das französische Ministerium ist vor einigen Stunden gefallen. Herr Bourgeois ist soeben telegraphisch nach Paris abberufen worden.«

13. Juni. Das »Neue Wiener Tagblatt« enthält eine Depesche aus dem Haag: »Die Verhandlungen über das Schiedsgericht sind, wie uns von Brüssel telegraphiert wird, vollständig gescheitert.« Ich richte eine Zeile an Chevalier Descamps mit der Bitte, auf obige Nachricht, wenn sie falsch ist, ein Dementi zu schreiben, das ich sofort an das Blatt schicken wolle. Descamps kommt selbst, mir die Antwort zu bringen. Die Nachricht ist falsch, und er übergibt mir die erbetene Berichtigung. Zugleich ersucht er mich, noch heute an Emile Arnaud zu schreiben, er möge aufhören, in der »Indépendance belge« das projektierte System des permanenten Bureaus zu bekämpfen und an dessen Stelle für permanente Verträge zu plädieren. Ein Fernstehender könne nicht beurteilen, was im Moment zu erreichen ist und was für ein Hemmnis es für die hiesigen Arbeiter[467] sei, wenn das, was man mit Mühe errungen, auf den Widerspruch der eigenen Freunde stößt.

14. Juni. Bis jetzt ist die Rüstungsfrage in der Konferenz nur nach einer Seite betrachtet worden, nämlich, daß Vereinbarungen getroffen werden mögen, auf weitere Vervollkommnung der Waffen zu verzichten. Doch die Idee wurde als unausführbar erkannt. Trotz eines sehr beredten Plädoyers des Generals den Beer Poortugael, welcher vorschlug, daß alle Heere bei dem gegenwärtigen Gewehrtypus verharren sollen, ist die Kommission übereingekommen, daß es unmöglich wäre, eine solche Maßregel zu kontrollieren. Von dem eigentlichen Vorschlag des Kaisers Nikolaus: Einhalt in den Rüstungen, ist noch nicht gesprochen worden. Darüber stehen die Debatten noch aus. Ein günstiges Ergebnis wäre da um so wünschenswerter, als neulich Admiral Goschen im englischen Unterhaus erklärt hat, daß die beschlossene Vermehrung der englischen Flotte sofort rückgängig gemacht würde, wenn auf der Haager Konferenz der Rüstungsstillstand beschlossen werden sollte.

Stead erzählt mir, was ihm Kaiser Nikolaus vor vier Wochen gesagt:

»Warum spricht man immer von Abrüstung? Ich habe den Ausdruck niemals gebraucht; er steht nicht im Reskript. Ich weiß nur zu gut, daß die sofortige Abrüstung ausgeschlossen ist. Es ist sogar schwierig, von Herabsetzung der Rüstungen zu sprechen. Sicherlich der praktischste Schritt und der erste, den man machen sollte, wäre der Versuch zu einem Einvernehmen, in der Rüstungssteigerung einige Jahre innezuhalten. Nach vier oder fünf Jahren hätten wir gelernt, einer dem anderen zu trauen und Wort zu halten. Dadurch wäre die Basis zu einem Vorschlag der Rüstungsverminderung geschaffen.«

Nach diesen Worten zu schließen, werden die russischen Delegierten wohl einen Antrag auf Rüstungsstillstand vor die Konferenz bringen.

Unterdessen verbreitet sich immer weiter das Gerücht, daß die Schiedsgerichtsfrage ins Stocken geriet durch die Erklärungen der deutschen Delegierten, daß das Prinzip der Schiedsgerichte gegen das Prinzip der Staatensouveränität – auf welche Deutschland zu verzichten unter keinen Umständen gewillt wäre – direkt verstoße.

Aus Berlin erhalte ich eine telegraphische Anfrage: »Wie verhält es sich mit der Rede Zorns?«

Ich schicke die Depesche dem genannten Professor, der auch im Kurhaus wohnt, mit der Bitte um Aufschluß und erhalte zur Antwort: »Von einer Rede Zorns ist mir nichts bekannt.«[468]

Stead dementiert in seiner heutigen Chronik die alarmierenden Gerüchte und schreibt: »Was immer die Haltung sei, welche die deutsche Regierung in der Folge annehmen wird, so kann es nichts Korrekteres geben als die Haltung der deutschen Delegierten. Sie arbeiten mit ihren Kollegen an dem, was, wie wir hoffen, eine große Einrichtung werden kann, um den Völkerfrieden zu sichern, und es ist sehr zu bedauern, daß ihre Mitwirkung so entstellt worden ist, wie es in den letzten Tagen geschehen.«

Abends Blochs letzte Vorlesung: Der Zukunftskrieg vom ökonomischen Standpunkt. – Fast alle Delegierten, auch der Präsident Staal anwesend. – Ich erfahre, daß einige russische militärische Konferenzmitglieder über Blochs Vorträge sehr ungehalten waren und seine Gefangennahme verlangten.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 455-469.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Bertha von Suttner: Memoiren
Memoiren

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Papinianus

Papinianus

Am Hofe des kaiserlichen Brüder Caracalla und Geta dient der angesehene Jurist Papinian als Reichshofmeister. Im Streit um die Macht tötet ein Bruder den anderen und verlangt von Papinian die Rechtfertigung seines Mordes, doch dieser beugt weder das Recht noch sich selbst und stirbt schließlich den Märtyrertod.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon