16. Zenit des Glückes

[132] Ich langte frühmorgens in Paris an. Herr Nobel kam mir zur Bahn entgegen und führte mich ins Grand Hotel am Boulevard des Capucines, wo für mich Zimmer bestellt waren. Beim Tor verließ er mich und sagte seinen Besuch für einige Stunden später an, bis ich ausgeruht wäre. In sein kleines Palais in der Rue[132] Malakoff konnte ich noch nicht einziehen, da der Trakt, den ich bewohnen sollte, erst tapeziert und eingerichtet wurde. Vorläufig hatte ich also im Hotel zu bleiben. Alfred Nobel machte einen sehr sympathischen Eindruck. Ein »alter Herr«, wie es in der Annonce und wie wir alle uns ihn vorgestellt hatten, grauhaarig, gebrechlich: das war er nicht, geboren 1833, war er damals dreiundvierzig Jahre alt, von Gestalt unter Mittelgröße, dunkler Vollbart, weder häßliche, noch schöne Züge, etwas düsteren Ausdruck, nur gemildert durch sanfte blaue Augen; in der Stimme ein melancholischer oder abwechselnd satirischer-Klang. Traurig und spöttisch, das war ja auch seine Art. War Byron darum sein Lieblingsdichter?

Nach einigen Stunden also, nachdem ich ausgeruht und erfrischt war und schon eine Depesche nach Harmannsdorf expediert hatte, kam er zu mir. Unsere vorher getauschten Briefe bewirkten, daß wir uns nicht mehr als ganz Fremde gegenüberstanden, und die Unterhaltung wurde gleich auf eine lebhafte und anregende Weise geführt. Nach dem Dejeuner, das wir unten im Speisesaal genommen, setzten wir uns in seinen Wagen, und wir fuhren durch die Champs-Elysees spazieren. Dann zeigte er mir sein Haus und die mir darin bestimmten Zimmer.

Diese habe ich aber nie bezogen. Ehe sie fertig waren, hatte ich Paris wieder verlassen. Das kam so. Ich war unglücklich. Einfach steinunglücklich. Ein Heimweh, ein Sehnsuchtsweh, ein Trennungsweh machte mich leiden, wie ich nicht glaubte, daß man leiden kann. Depeschen von Artur und Briefe von ihm und den Schwestern kamen mir täglich zugeflogen. Die Schwestern schrieben, daß Artur nicht zu kennen sei, er spreche kein Wort, er sei wie in Trübsinn verfallen. Wenn ich allein war, konnte ich nur weinen, oder nach Hause schreiben, oder vor Herzeleid stöhnen. In Gesellschaft Alfred Nobels war ich momentan abgelenkt, denn er wußte so fesselnd zu plaudern, zu erzählen, zu philosophieren, daß seine Unterhaltung den Geist ganz gefangennahm. Mit ihm über Welt und Menschen, über Kunst und Leben, über die Probleme von Zeit und Ewigkeit zu reden, war ein geistiger Hochgenuß. Vom gesellschaftlichen Leben hielt er sich ferne – gewisse Formen der Schalheit, der Falschheit, der Frivolität flößten ihm zornigen Ekel ein. Er war voll Vertrauen in das abstrakte Ideal einer kommenden höheren Menschheit – »wenn einmal die Leute mit höher entwickelten Gehirnen zur Welt kommen werden« – aber voll des Mißtrauens gegen die meisten gegenwärtigen Menschen, denn er hatte Gelegenheit gehabt, so viele niedrige, selbstsüchtige, unaufrichtige Charaktere kennen zu lernen. Mißtrauisch[133] war er auch gegen sich selbst, und scheu bis zur Schüchternheit. Er hielt sich für abstoßend, glaubte keine Sympathie einflößen zu können; fürchtete immer, daß man ihn nur seines ungeheuern Reichtums wegen umschmeichelte. Darum hatte er wohl auch nicht geheiratet. Seine Studien, seine Bücher, seine Experimente – das füllte sein Leben aus. Er war auch Schriftsteller und Dichter, aber hat niemals etwas von seinen poetischen Arbeiten veröffentlicht. Ein hundert Seiten langes Poem philosophischen Inhaltes, in englischer Sprache abgefaßt, gab er mir im Manuskript zu lesen – ich fand es einfach prachtvoll.

Daß ich einen verborgenen Kummer mit mir trage, hatte er wohl bald durchschaut.

»Sind Sie freien Herzens?« fragte er mich einmal.

»Nein,« antwortete ich aufrichtig.

Er drang weiter in mich, und ich erzählte die ganze Geschichte meiner Liebe und meiner Entsagung.

»Sie haben tapfer gehandelt; aber seien Sie ganz mutig, brechen Sie auch den Briefwechsel ab – dann lassen Sie nur einige Zeit vergehen ... ein neues Leben, neue Eindrücke – und Sie werden beide vergessen – er vielleicht noch früher als Sie.«

Den Briefwechsel abbrechen? Das konnte ich nicht; er war mein Trost. Was sollte ich in meinen einsamen Stunden tun, wenn nicht dem Teuren schreiben – ihm haarklein alles sagen, was ich erlebte und was ich fühlte?

Alfred Nobel konnte mir nur eine bis zwei Stunden des Tages widmen, denn die Arbeit hielt ihn fest. Er hatte wieder eine neue Erfindung im Sinn.

»Ich möchte einen Stoff oder eine Maschine schaffen können,« sagte er mir, »von so fürchterlicher, massenhaft verheerender Wirkung, daß dadurch Kriege überhaupt unmöglich würden.«

Ungefähr eine Woche nach meiner Ankunft mußte Herr Nobel auf kurze Zeit nach Schweden reisen, wo eine Dynamitfabrik angelegt wurde; der König selber hatte ihn berufen.

Ich war nun ganz allein. Die Sehnsucht nach dem Manne meines Herzens wuchs bis zur Unerträglichkeit. Da erhielt ich zwei Depeschen. Die eine aus Stockholm: »Glücklich angekommen, bin in acht Tagen wieder in Paris.« Und die andere aus Wien: »Kann ohne dich nicht leben!« – »Und ich nicht ohne dich!« schrie es in meinem Innern auf, und danach mußte ich handeln. Noch eine schlaflose Nacht, in der ein Aktionsplan reifte, und am nächsten Tag schrieb ich nach Stockholm, daß es mir doch unmöglich sei, unter den[134] Umständen die Stelle in der Rue Malakoff anzutreten – ich dankte für alles erwiesene Vertrauen und Freundlichkeit – aber ich müsse zurück nach Wien. –

Ich besaß ein wertvolles Diamantkreuz, ein Erbstück meines Vormunds Fürstenberg; dieses ging ich veräußern, und der Erlös genügte, um die Hotelrechnung zu begleichen, eine Fahrkarte für den nächsten Schnellzug nach Wien zu lösen und noch eine Barsumme zu erübrigen. Ich handelte wie im Traum, wie unter unwiderstehlichem Zwang. Daß es Torheit sei, daß ich vielleicht von einem Glück davon und einem Unglück in die Arme renne, das blitzte mir wohl durch das Bewußtsein, aber ich konnte, konnte nicht anders, und die Seligkeit, die ich von dem Augenblicke des Wiedersehens erwartete, wog alles auf, was sonst noch kommen mochte – und sei's der Tod.

Ich hatte meine Ankunft nicht angesagt – überraschen wollte ich. Von der Eisenbahn fuhr ich in ein Hotel; schickte ein Billettchen in die Canovagasse, worin ich mit verstellter Schrift den Herrn Baron Artur bat, in das Hotel Metropole, Zimmer Nr. 20, zu kommen, wo eine Dame aus Paris ihm eine Botschaft der Gräfin Bertha zu überbringen hatte.

In einer halben Stunde konnte er dasein. Klopfen den Herzens lauschte ich auf jeden Schritt im Korridor. Ich hatte nicht lange zu lauschen, da erkannte ich den geliebten Schritt; an der Tür wurde gepocht und – »herein« wollte ich rufen, aber die Stimme versagte. Dennoch ging die Tür auf und – er war's!

Ich stürzte ihm mit einem Freudenschrei entgegen.

»Du, du selber!« rief er, und wieder lagen wir einander schluchzend in den Armen wie an jenem Abschiedsabend, aber diesmal nicht in Schmerz-, sondern in unbegrenztem Glücksgefühl.

»Hab' ich dich, hab' ich dich wieder – nimmer laß ich von dir!«

»Nein, nie mehr!«

Jetzt setzten wir uns auf das Sofa, eng aneinander geschmiegt, und es ging ans Erzählen. Was er gelitten, was ich gelitten ... wie er schon Selbstmordgedanken gehabt ... »Nein, nein, wir gehören zusammen, nichts soll uns mehr auseinander reißen ...«

Aber was nun? – Was tun? –

»Das Plänemachen laß auf später,« bat ich. Ich fühlte mich so vollkommen glücksgesättigt durch dieses Wiedersehensfest, daß ich für Fragen und Zweifel und Projektieren nicht zu haben war. Von allen zärtlichen Ansprachen, die von Liebenden und Dichtern angewendet werden: Du bist ein Engel – du bist mein alles – und[135] dergleichen ist die schönste und ausdrucksvollste doch: »Du bist die Ruh!« ...

Er aber weckte mich wieder aus »der Ruh«:

»Wir müssen von der Zukunft sprechen,« sagte er. »Das eine ist klar – so darf es nicht mehr kommen, daß man uns trennt, oder daß wir gar selber auseinander gehen, um elender weltlicher Klugheitsrücksichten willen. Wir heiraten – das steht fest.«

Ja, das stand fest. Wir hatten redlich versucht, auseinander zu gehen und gesehen, daß es unmöglich, einfach unmöglich war. Einander haben für immer – das war unsägliches Glück – auf einander verzichten für immer, das war gleichbedeutend mit sterben. Vor diese Wahl gestellt, gab es kein Zögern mehr. – Leben, leben und selig sein!

Und so ging's doch ans Plänemachen. Wir würden uns trauen lassen – im geheimen – und dann in die Welt hinaus! Durchschlagen könnten wir uns schon: Arbeiten, unsere Talente verwerten – eine Stelle finden ... Nach dem Kaukasus! – – schlug ich vor. Dort hatte ich mächtige Freunde. Die Dedopali hat mir ja vor Jahren schon das Versprechen abgenommen, sie mit meinem Manne zu besuchen. Also dorthin soll die Hochzeitsreise gehen! Durch die Beziehungen zum russischen Kaiser würde es möglich sein, eine Anstellung in russischen Hof- oder Staatsdiensten zu finden ...

Der Plan ward ausgeführt. Niemand durfte etwas von meiner Rückkunft aus Paris erfahren; ich versteckte mich auf einige Wochen bei einer Familie in Lundenburg, sehr liebe Menschen; der Meine (ich nannte ihn niemals Artur, sondern »Meiner«, also will ich auch in diesen Erinnerungen ihn so bezeichnen) besorgte unterdessen das Aufgebot, verschaffte sich vertraute, verschwiegene Zeugen, brachte alles Erforderliche: Papiere, Reisegeld, Gepäck u.s.w. in Ordnung. Das Glück wollte uns wohl; von dem Aufgebot in einer entlegenen Vorstadtkirche kam der Familie nichts zu Ohren – und eines schönen Morgens, es war am 12. Juni 1876, fuhr ich, im Reisekleid und Hut, zur Gumpoldskirchner Pfarrkirche; mein Verlobter erwartete mich dort mit seinen und meinen Zeugen, und in einer Seitenkapelle sprach uns ein uralter Priester zusammen. Wir waren Mann und Frau.[136]

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 132-137.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Memoiren
Bertha von Suttner: Memoiren
Memoiren

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Unsühnbar

Unsühnbar

Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

140 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon