XXXIII

[310] Martha Tilling an Graf Kolnos.


Grumitz im Juni 1895.


Teuerer Freund.

Innigsten Dank dafür, daß Sie mir Ihre baldige Rückkunft anzeigen und die Adresse ihrer letzten Etappe geben. Da kann ich Ihnen wieder, wie schon einmal, schreiben, was in der langen Zeit Ihrer Abwesenheit in meinen Kreisen vorgefallen.

Es war ein Drama, ein erschütterndes Drama. Sie werden ja alles hören, wenn sie zurückkommen, aber vielleicht mit Übertreibungen und Entstellungen. So sollen Sie zuerst die ganze Wahrheit von mir erfahren.

Wenige Tage, nachdem Ihr – wie nennen Sie's doch? – Ihr »periodischer Reiseraptus« Sie gepackt hatte, Ziel: das Innere Afrikas –, hat sich das Drama abgespielt. Vielleicht ist doch durch die Zeitungen die Kunde davon zu Ihnen gedrungen? Aber Sie lesen ja keine Zeitungen in Ihrem Erholungsexil – und so wissen Sie wohl nichts vom Duell Bresser-Delnitzky. Ja, mein Schwiegersohn hat den jungen Dichter tödlich verwundet: Bresser war – nein, nicht Sylvias Geliebter – er war von Sylvia geliebt. So sehr geliebt, daß sie, unbekümmert um das, was die Welt dazu sagen könnte, an sein Krankenlager eilte – ich mit ihr – und daß sie bei ihm blieb – ich mit ihr – bis zu seinem letzten Seufzer.

Was dann folgte, war herzzerreißend. Mein Gott, ich habe ja in meinem schwergeprüften Leben viele[310] Schauerszenen durchgemacht, die der unbarmherzige Tragödiendichter Tod zu schaffen weiß: die Agonien in den böhmischen Lazaretten, die Cholerawoche in Grumitz, die Hinrichtung meines Liebsten ... zuletzt die Verluste, die meinen Rudolf betroffen – aber ich dachte nicht, daß ich noch einmal einer Sterbestunde beiwohnen sollte, die mir eine ganz neue Art des Schmerzes offenbaren würde. Es ist ja nun vorüber, Gott sei Dank – also kann ich's sagen. In der Stunde, die ihr den Geliebten ihres Herzens entriß, ist meine arme Sylvia in so wahnsinnige Verzweiflung verfallen – daß die anderen es kurzweg Wahnsinn nannten; sie mußte in eine Nervenheilanstalt gebracht werden, wo man sie durch sechs Monate unter strengster Bewachung hielt, denn sie versuchte es mehr als einmal, zum Fenster hinauszuspringen, oder den Kopf an die Mauer zu schlagen. Nicht als bewußten Selbstmordversuch, sondern in Anfällen von Fieberdelirium. Nach und nach wich die Umnachtung ihres Geistes und die Schmerzparoxismen machten einer sanfteren Schwermut Platz; stundenlang weinte sie an meiner Brust – ich besuchte sie natürlich täglich. Nach weiteren zwei Monaten konnte die Anstalt sie als geheilt entlassen und seither lebt sie bei mir. Immer noch tief melancholisch. – Aber, sie ist ja noch jung, ich rechne auf die Heilkraft der Zeit; vielleicht bietet ihr das Schicksal doch noch Trost ...

Die Scheidung ihrer Ehe ist vollzogen. Leider in einer Weise, als hätte nur sie alle Schuld. Anton hat vor kurzem seine Sängerin zur Gräfin Delnitzky gemacht. Diese hat das Theater verlassen und die beiden leben in dem Landhaus, das Anton ihr schon vor Jahren geschenkt.

Und Rudolf? Diese Frage hätten Sie jetzt sicher an mich gestellt, wenn ich Ihnen alles obige mündlich erzählt hätte; denn Sie wissen ja, daß in meinen Gedanken und Sorgen stets meine beiden Kinder den gleichen[311] Platz einnehmen. Sie lesen überhaupt in meiner Seele, Kolnos, und haben mich immer so gut verstanden, – selbst damals, als Sie einem kurzen Irrtum sich hingegeben hatten – haben Sie schnell begriffen, warum es nicht sein konnte ... doch davon reden wir eigentlich niemals. Verzeihen Sie, daß ich da an einer Erinnerung rührte, die ihnen vielleicht peinlich ist ... mir gehört sie eben zu den lieben Erinnerungen ...

Also Rudolf? Er war am Vorabend jenes Duells von Wien abgereist und erfuhr davon erst nach einigen Tagen durch die Blätter. Vom Zustande Sylvias wußte er nichts. Ich wollte ihn nicht benachrichtigen, weil ich wußte, das er eingegangene Verpflichtungen erfüllen mußte und ich wollte ihm diese Aufgabe nicht erschweren. Aber von anderer Seite erhielt er Mitteilung: da löste er seine Engagements und eilte zu mir. Der Mutter und der Schwester in Unglück und Bedrängnis beizustehen: das erkannte er als seine nächste Pflicht. – Und wahrlich, seine Nähe hat mir wohlgetan.

Noch ein anderes liebes Wesen hat sich um mich bemüht – so viel Trost und Aufrichtung als möglich zu bringen getrachtet: Cajetane Ranegg. So oft ich allein war, kam sie zu mir; nur wenn Rudolf mir Gesellschaft leistete, ging sie fort. Sogar in auffallender Weise; sie mied ihn, so gut sie konnte. Daß sie ihn lieb hat, weiß ich schon lange ... ich habe es Ihnen ja auch gesagt, und meinen Wunsch dazu, daß er sie heimführe, aber er will von Wiederverheiratung nichts hören.

Als Sylvia vollständig genesen war, übersiedelten wir nach meinem alten Grumitz, dem ich für Brunnhof untreu geworden war. Ach, wie ist der Ort so bevölkert von den Gespenstern meiner Jugend ... Rudolf brachte mich hierher und reiste dann wieder ab – er mußte das Versäumte nachholen. Was er tut und denkt und plant – das erzähle ich Ihnen mündlich. Ich bin ja noch immer[312] mit ganzer Seele bei den großen Aufgaben, die mein Gatte hinterlassen und mein Sohn übernommen hat. So sehr der eigene Kummer – um meine unglückliche Sylvia – mich auch bedrückt, so sehr ich selber leidend war, alle diese Sachen haben mein Herz stark hergenommen (Herz nicht im bildlichen Sinne, sondern als Organ), und meine Gesundheit ist arg erschüttert – so habe ich doch nie aufgehört, für jene Ideale – die meine Religion sind – zu sinnen und zu sorgen. Im Unglück flüchtet ja jeder zu seiner Religion.

Was soll ich Ihnen noch erzählen? Max und Elisabeth Dotzky, die seelenvergnügt auf Brunnhof residieren (ob Rudolf da nicht übereilt gehandelt hat? ... er wollte Ketten abstreifen, und doch: wie viele schleppt er noch hinter sich!) also diese beiden glücklichen Leutchen haben – pour comble – auch noch einen Thronerben bekommen – – Armes, kleines Fritzi ... es war ein gar so lieber Bub'! Auch etwas, was ich nie recht verschmerzen kann. In der »Kunst, Großmutter zu sein«, war ich eine so frohe Künstlerin ...

Von Lori Griesbach höre ich schon lange nichts. Sie soll eine große Betschwester geworden sein: tägliche Frühmesse, Paramentensticken, Sammlung für Kirchenbaufonds, Protektion katholischer Vereine, Unterstützung der Missionen, Verkehr mit dem hohen Klerus u.s.w. Den Tod ihrer Tochter und ihres Enkels betrachtet sie – so sagte sie neulich einem gemeinsamen Freunde – als ein göttliches Strafgericht für die Familie Dotzky, weil die Dotzkys nicht von echter Gläubigkeit durchdrungen sind. Nun ja – es war ein harter Schlag für die Arme. Möge auch sie in ihrer Religion Trost und Stütze finden ... Vorausgesetzt, daß dieses fromme Gehaben nicht nur das Mitmachen einer eleganten Mode ist; denn es wird ja in unseren Kreisen täglich mehr und mehr als bon ton betrachtet, sich recht kirchlich zu zeigen – nach dem von oben gegebenen Beispiel.[313]

Hier in Grumitz leben wir drei Frauen äußerst still und freuen uns nur der sommerlichen Natur – »es ist die Zeit der Rosenpracht«. Wir drei, sagte ich. Cajetane Ranegg ist nämlich mein Gast. Ich bin ihr unendlich dankbar dafür, denn ihre Gesellschaft ist für meine traurige Sylvia eine Wohltat, ein wahrer Segen. Cajetane ist jung – und obwohl sie auch einen Herzenskummer hat – heiterer, sonniger Gemütsart. Das ist ein Umgang, der für meine Rekonvaleszentin doch viel ersprießlicher ist, als der einer selber leidenden und wahrlich recht gedrückten alten Frau.

Nicht, daß ich mich gar so alt fühlte ... Aber in den Augen junger Leute ... Es muß ein Naturgesetz sein, daß der Jugend wieder nur Jugend als vollgültig erscheint. –

Ob meine Freundin Ranegg damit einverstanden ist, daß ihre Tochter hierher kam und sich der meinen so sehr angeschlossen hat, weiß ich nicht. Die Scheidung, die Duellaffäre, die auf Bressers Tod folgende »Nervenkrankheit«: alles das sind Dinge, die einer so korrekten Frau wie Gräfin Ranegg gewiß Skrupel einflößen; dagegen ist diese Frau doch auch wieder viel zu weitherzig, um etwa ihrer Tochter verbieten zu wollen, uns beide mit ihrer lieben Nähe zu trösten. Auch mir ist Cajetane eine wahre Aufrichtung. Ich liebe sie einfach. Und sie mich – das fühl' ich genau. Wenn ich auch weiß, daß ich ihr nur per procura teuer bin, das tut nichts. Im Gegenteil: ich bin ihr dankbar für das, was sie für meinen Sohn empfindet. Ich kann mit ihr über seine Pläne sprechen – sie folgt mit liebevollstem Verständnis. Von ihm erscheint ihr alles erhaben und schön. Vielleicht würde sie, wenn er das Gegenteil von dem verträte, was er vertritt, dies ebenso bewundern – ich weiß es nicht; aber es tut mir wohl, zu wissen, daß für meinen einsamen Rudolf ein so liebendes Herz schlägt ... Wer weiß, wenn ihn einst die Einsamkeit, die Heimlosigkeit[314] drückt, so wird er – – Lachen Sie mich nicht aus, Kolnos, daß ich mich so als Heiratsstifterin entpuppe ... man kann nicht ungestraft so glücklich in der Ehe gewesen sein, wie ich es war – genug, dieser Brief ist ungebührlich lang geworden. Auf Wiedersehen – ich rechne auf Ihren Besuch.[315]

Quelle:
Bertha von Suttner: Martha’s Kinder. Dresden [um 1920], S. 310-316.
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