Viertes Kapitel.

[117] Beschreibung des Landes. Ein Vorschlag, neuere Landkarten zu verbessern. Der Palast des Königs und einige Berichte über die Hauptstadt. Des Verfassers Art zu reisen. Beschreibung des Haupttempels.


Jetzt will ich dem Leser auch eine kurze Beschreibung von Brobdingnag liefern, soweit ich das Land bereist, das heißt nur im Umkreise von zweitausend Meilen im Bereich der Hauptstadt Lorbrulgrud. Die Königin, die ich stets begleitete, ging nämlich niemals weiter, wenn sie mit dem König reiste, und wartete dort, bis Seine Majestät von der Besichtigung der Grenzen zurückgekehrt war. Die Ausdehnung der Besitzungen dieses Fürsten beträgt sechstausend Meilen in der Länge und drei- bis fünftausend Meilen in der Breite. Hieraus zog ich den Schluß, daß unsere Geographen in Europa vollkommen im Irrtum sind, wenn sie vermuten, nur das Meer liege zwischen Kalifornien und Japan. Es war stets meine Meinung, ein großer Landstrich müsse dazwischenliegen, um das Gleichgewicht gegen das Festland der großen Tartarei herzustellen. Deshalb sollten die Geographen ihre Karten verbessern und diesen großen Landstrich an den Nordwesten von Amerika anhängen, wobei ich gern bereit wäre, ihnen zu helfen.

Das Königreich besteht aus einer Halbinsel, die nordöstlich durch eine Bergkette von dreißig Meilen Höhe begrenzt wird. Diese ist aber, wegen der Vulkane auf den Berggipfeln, nicht zu überschreiten. Auch sind die gelehrtesten Männer mit der Menschenrasse gänzlich unbekannt, die vielleicht jenseits der Berge wohnt, wenn jenes Land überhaupt bewohnt ist. An den drei anderen Himmelsrichtungen wird das Königreich vom Ozean begrenzt; die Mündungen der Flüsse sind von so spitzen Felsen angefüllt, und die See ist dort außerdem so rauh, daß auch nicht das kleinste Boot der Einwohner von Brobdingnag hindurchkommen kann. Somit bleibt die Nation von der übrigen Welt ganz abgeschlossen. Allein die großen Flüsse[118] sind stets mit Schiffen angefüllt und haben Überfluß an ausgezeichneten Fischen. Nur selten werden Seefische von den Eingeborenen verspeist, weil sie nur dieselbe Größe wie in Europa haben und deshalb die Mühe des Fangens nicht lohnen. Daraus aber ist klar zu ersehen, die Natur habe bei der Hervorbringung von Pflanzen und Tieren in so außerordentlicher Größe sich ausschließlich auf dieses Festland beschränkt. Den Grund dieser Erscheinung mögen die Philosophen ausfindig machen. Bisweilen auch erbeuten die Bewohner einen Walfisch, der an den Felsen zerschellt war; das gemeine Volk pflegt ihn dann mit dem größten Appetit zu verzehren. Ich habe dergleichen Walfische von so ungeheurer Größe erblickt, daß ein einzelner Mensch ein einzelnes Tier kaum auf den Schultern tragen konnte; bisweilen werden sie als Merkwürdigkeit nach Lorbrulgrud gebracht. Einen Walfisch sah ich auf der Tafel des Königs als Seltenheit, jedoch ich bemerkte nicht, daß Seine Majestät die Speise liebte. Ich glaubte beinahe, die Größe war dem König zuwider, obgleich ich in Grönland bei weitem größere Walfische gesehen habe.

Das Land ist sehr bevölkert, denn es enthält einundfünfzig Hauptstädte, hundert befestigte Städte und eine große Anzahl Dörfer. Um die Neugier des Lesers zu befriedigen, wird eine Beschreibung von Lorbrulgrud genügen. Diese Hauptstadt besteht aus zwei ganz gleichen Stadtteilen, in die sie der Fluß scheidet. Sie enthält ungefähr achttausend Häuser und hunderttausend Einwohner. Die Länge beträgt drei Glomglung (ungefähr vierundfünfzig englische Meilen), die Breite dritthalb Glomglung. Ich habe den Umfang nämlich selbst nach einer auf Befehl des Königs verfertigten Karte gemessen, die ich zu diesem Zweck auf dem Boden ausbreitete und die beinahe hundert Fuß darauf einnahm. Ich durchschritt den Durchmesser und Umfang mehreremal mit bloßen Füßen, rechnete nach diesem Maßstabe, und habe somit das Resultat ziemlich genau herausgebracht.

Der Palast des Königs ist kein regelmäßiges Gebäude, sondern eine Anhäufung von mehreren. Er beträgt ziemlich[119] sieben Meilen in der Runde, die Hauptsäle sind ungefähr zweihundertundvierzig Fuß hoch und in demselben Verhältnisse lang und breit. Mir und meiner Wärterin stand dauernd eine Kutsche zur Verfügung. Die Gouvernante der Glumdalclitch fuhr darin häufig mit mir aus, um die Stadt zu besichtigen oder die verschiedenen Kaufläden zu besuchen. Dann war ich jedesmal in meiner Schachtel zugegen, wenn das Mädchen mich auf meinen Wunsch auch oft herausnahm und auf der Hand hielt, damit ich die Gebäude und das Volk, während wir durch die Straßen fuhren, um so bequemer sehen könnte. Unsere Kutsche war ungefähr so breit wie der Platz von Westminsterhall, allein nicht so hoch wie der Westminster Dom; hierüber aber kann ich keine ganz genauen Angaben machen. Eines Tages befahl die Erzieherin dem Kutscher, an mehreren Läden anzuhalten, worauf die Bettler die Gelegenheit benutzten, sich auf beiden Seiten an die Kutsche zu drängen, um mir den scheußlichsten Anblick zu gewähren, den jemals ein europäisches Auge erschaut hat. Unter diesen Menschen befand sich ein Weib mit einem Krebs in der Brust, die furchtbar geschwollen und voll von Löchern war. In zwei oder drei davon hätte ich vollkommen hineinkriechen und meinen ganzen Körper verstecken können. Ein Mann war ferner darunter, mit einem Kopf so dick wie fünf Wollsäcke; ein anderer hatte ein Paar hölzerne Beine von ungefähr zwanzig Fuß Höhe. Der ekelhafteste Anblick von allen bestand aber in den auf den Kleidern herumkriechenden Läusen. Ich konnte die Glieder dieses Ungeziefers mit unbewaffneten Augen viel besser sehen als die der europäischen Läuse durch ein Mikroskop, sowie ihre dem Schweinsrüssel ähnlichen Schnauzen. Es waren die ersten, die ich erblickte, und ich hätte eine davon gern seziert, wenn ich die dazu notwendigen Instrumente nicht unglücklicherweise im Schiffe zurückgelassen hätte; der Anblick war jedoch so ekelhaft, daß ich, wirklich Übelkeiten bekam.

Außer der großen Schachtel, worin ich gewöhnlich getragen wurde, ließ die Königin für mich auch eine kleinere[120] anfertigen von ungefähr zwölf Quadratfuß im Umfange und zehn Fuß Höhe, die auf Reisen bequemer war. Die andere war nämlich zu groß für den Schoß der Glumdalclitch und außerdem in der Kutsche etwas lästig. Sie wurde von demselben Handwerker gebaut, dem ich die Herstellung der ersteren angegeben hatte. Dieses Reisegemach war ein regelmäßiges Viereck, mit Fenstern an drei Wänden. Jedes Fenster aber war gehörig mit eisernen Gittern versehen, um ein Unglück auf langen Reisen zu verhüten. An der vierten fensterlosen Wand befanden sich zwei starke Krampen, durch welche die Person, die mich trug, wenn sie gehen wollte, einen ledernen Riemen zog, den sie sich dann um den Leib schnallte. Dies war immer das Amt eines ernsten und treuen Dieners, auf den ich vertrauen konnte, wenn ich den König oder die Königin begleiten mußte oder wenn ich die Gärten besehen oder eine vornehme Dame oder einen Staatsminister bei Hofe besuchen wollte, im Falle Glumdalclitch sich nicht wohl befand; denn bald wurde ich bekannt und von den höchsten Beamten sehr geschätzt, wahrscheinlich aber mehr wegen der Gunst Seiner Majestät als wegen meiner Verdienste. Wenn ich auf Reisen das Fahren nicht mehr ertragen konnte, schnallte ein Bedienter zu Pferde meine Schachtel an und stellte sie auf ein Kissen vor sich hin. Von dort genoß ich durch meine drei Fenster die Ansicht der Gegend. In dieser Schachtel hatte ich ein Federbett und eine von der Decke herabhängende Hängematte, ferner zwei Stühle und einen Tisch, die sehr geschickt an den Boden geschraubt waren, damit sie durch die Bewegung des Pferdes oder der Kutsche nicht umhergeworfen würden; da ich auch schon lange an Seereisen gewöhnt war, so zog mir diese Bewegung durchaus keine Unannehmlichkeiten zu.

Sobald ich Lust hatte, die Stadt zu sehen, geschah dies immer in meiner Reiseschachtel, die Glumdalclitch auf dem Schoß hielt, während sie selbst in einer nach der Sitte des Landes offenen Sänfte saß, die von vier Männern getragen und von zwei anderen mit der Livree der Königin[121] begleitet wurde. Das Volk, das oft von mir gehört hatte, pflegte sich um die Sänfte zu drängen, und das Mädchen war dann so artig, die Sänftenträger halten zu lassen und mich auf ihre Hand zu nehmen, damit ich besser gesehen werden könne.

Ich war sehr neugierig, den Haupttempel und den dazugehörigen Turm zu sehen, der zu den schönsten des Königreichs gehört. Deshalb trug mich meine Wärterin dorthin, allein ich kann mit Recht sagen, daß ich mich in meiner Erwartung getäuscht sah, denn die Höhe des Turmes beträgt vom Boden bis zur Turmspitze nur dreitausend Fuß. Vergleicht man nämlich die Größe dieser Leute mit unsrer, so steht der Kirchturm in durchaus keinem Verhältnis zu dem von Salisbury. Da ich aber eine Nation nicht heruntersetzen will, der ich mein ganzes Leben hindurch außerordentliche Dankbarkeit schuldig sein werde, so muß ich gestehen, daß der Mangel an Höhe bei diesem berühmten Turm vollkommen durch dessen Schönheit und Stärke ausgeglichen wird. Die Mauern sind nämlich hundert Fuß dick, aus gehauenen Steinen erbaut, von denen ein jeder vierzig Quadratfuß beträgt, und von allen Seiten mit Statuen der Götter und Kaiser ausgeschmückt, die, aus Marmor verfertigt, als Kolosse in den Nischen stehen. Ich maß einen kleinen Finger, der von einer dieser Statuen abgefallen war und unter einem Schutthaufen unbemerkt dalag, und fand, daß er genau vier Fuß und einen Zoll lang war. Glumdalclitch wickelte ihn in ihr Schnupftuch, brachte ihn in ihrer Tasche mit nach Hause und verwahrte ihn unter anderem Spielzeug, woran sie so viel Vergnügen fand, wie dies bei Mädchen ihres Alters der Fall zu sein pflegt.

Die Küche ist wirklich ein prächtiges Gebäude, an der Decke gewölbt und ungefähr sechshundert Fuß hoch. Der größte Kachelofen enthält zehn Schritt weniger als die Kuppel der St.-Pauls-Kirche zu London im Umfange. Ich habe nämlich die letztere nach meiner Rückkehr, bloß zum Zwecke eines Vergleichs, gemessen. Sollte ich aber den Küchenrost, die ungeheuren Töpfe und Kessel, die[122] Fleischstücke, die an den Spießen gedreht wurden, und viele andere Einzelheiten beschreiben, so würde man mir schwerlich Glauben schenken. Ein strenger Kritiker würde wenigstens zu der Meinung geneigt sein, ich pflege ebenso zu vergrößern, wie man dies bei Reisenden oft zu bemerken gewohnt ist. Ich fürchte nur, daß ich aus Furcht vor diesem Tadel in das Extrem verfallen bin; daß ferner dem König von Brobdingnag und seinem Volke, im Fall dieses Buch in die Landessprache übersetzt und dorthin versandt werden sollte, genügender Grund zu der Beschwerde geboten werde, ich habe hier und da der Nation durch falsche und verkleinerte Darstellung unrecht getan.

Der König hält selten mehr als sechshundert Pferde in seinen Ställen; diese Pferde sind gewöhnlich fünfzig bis sechzig Fuß hoch; reist er aber an Feiertagen außerhalb der Stadt, so wird er des fürstlichen Glanzes wegen von fünfhundert Mann Kavallerie aus der Milizgarde begleitet. Ich glaube, diese Truppe gewährt den prächtigsten Anblick, den ich jemals gehabt hatte, bis ich einen Teil der Armee in Schlachtordnung aufgestellt erblickte, wovon ich später sprechen werde.

Quelle:
Swift, Jonathan: Gullivers Reisen zu mehreren Völkern der Welt. Leipzig [o. J.], S. 117-123.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gullivers Reisen
Gullivers Reisen: Roman
Gullivers Reisen: Kinderbuchklassiker zum Vorlesen
Gullivers Reisen: Arena Klassiker für Erstleser
Gullivers Reisen (insel taschenbuch)
Gullivers Reisen

Buchempfehlung

Anonym

Historia von D. Johann Fausten

Historia von D. Johann Fausten

1587 erscheint anonym im Verlag des Frankfurter Druckers Johann Spies die Geschichte von Johann Georg Faust, die die Hauptquelle der späteren Faustdichtung werden wird.

94 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon