20. Die ächzende Liebe

[359] Mel.: Gott Lob, ein Schritt zur Ewigkeit ... oder: Wenn mein Stündlein vorhanden ist ... oder: Aus tiefer Not ...


1.

Ich einsam Turteltäubelein

In dürrer Wüste sitze

Ganz matt und müd in Durst und Pein

In keuscher Liebeshitze,

Ich schlag' die Augen hin und her,

Ob ich möcht' sehen ungefähr,

Den meine Seele liebet.


2.

Ein Etwas hat mich innerlich

Gezogen und berühret,

Wonach mein Auge sehnet sich,

Bis es dich selbst verspüret.

Mein Herz dich zwar nicht deutlich kennt,

Mein Mund dich nur ein Etwas nennt,

Das meine Seele liebet.


3.

Wer füllt die große Ledigkeit,

Die ich im Grund empfinde,

Wer stillt des Durstes Peinlichkeit,

Wenn ich dich selbst nicht finde?[359]

Ein höchstes Gut hat mich verwund't,

Ich werd' auch eher nicht gesund,

Bis es sich selbst mir zeiget.


4.

Wer hat in mir gezündet an

Solch durstiges Verlangen?

Du, Jesus, hast es selbst getan

Und bist nun hingegangen.

Mein Gott, mein Gut, wo find' ich dich,

Wo bist du denn, mein ander Ich,

Den meine Seele liebet?


5.

Ich schaue Erd' und Himmel an

Und was sie in sich haben,

Doch nirgends ich erblicken kann

Den, der mich nur kann laben.

Die schönen Werke seiner Hand,

Die stecken mich nur mehr in Brand

Durch ihre Lieblichkeiten.


6.

Nein, ihr Geschöpfe seid es nicht,

Ich bleib' bei euch nicht stehen,

Dich, Schöpfer, selbst muß mein Gesicht

Im Geist und Wahrheit sehen;

Es ist nichts Sinnlichs, das ich mein',

Es muß was Wesentliches sein:

Gott muß sich selbst mir geben.


7.

Du hast gemacht, daß gar nichts mir,

Was sichtbar ist, mehr schmecket,[360]

Du ziehst mich, und ich lauf nach dir,

Und hältst dich noch verdecket;

Du weißt es wohl, du hörest mich,

Ich kann nicht leben ohne dich,

Den meine Seele liebet.


8.

Wie lange soll, mein einzigs Gut,

Wie lange soll's noch währen,

Daß ich in solchem Durst und Glut

Soll schmachtend mich verzehren?

Ich schlag' bald auf- bald niederwärts

Die matten Augen, ach, mein Herz

Kann kaum mehr Atem holen.


9.

O Schönheit, die mich hat verwund't,

Wann willst du dich erbarmen,

Wann werd' ich dich in meinem Grund

Einst wesentlich umarmen?

Du mußt mir werden innig nah,

Sonst kann sich nicht, du weißt es ja,

Mein Herz zufrieden geben.


10.

Zerstör den Grund der Eigenheit,

Der uns noch hält geschieden,

Schmelz ab so viel Unlauterkeit,

Die mir benimmt den Frieden,

Zieh mich aus mir und allem hin,[361]

Bis ich mit dir ganz eines bin

Und du in mir nur lebest!


11.

Ich kann nicht mehr, ich bin zu schwach,

Ich will in Demut schweigen

– Im tiefsten Grund ein stilles Ach

Soll stetig aufwärts steigen –

Und will erwarten in Geduld

Die unverdiente Gnad' und Huld,

Daß du in mir erscheinest.


12.

Nur laß mein'n Geist doch nimmermehr

Sich von dir auswärts kehren,

Sollt' gleich mein Hunger noch so sehr

Mir Leib und Seel' verzehren!

Nichts neben dir, nur du allein,

Du sollst es nun und ewig sein,

Den meine Seele liebet.


Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 359-362.
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