68. Wie man in inneren Entblößungen sich Gott überlassen müsse

[484] Mel.: Wie kündlich groß ...


1.

Aus Untreu, Trägheit und Zerstreuen

Wächst falsches Kreuz und Leiden viel:

Sonst ist nur Licht und Trost das Ziel,

Wenn Seelen innre Leiden scheuen.

Ein andrer wär' gern schleunig groß,

Der setzt sich selbst wohl dürr und bloß;

Die Einfalt macht kein Kreuz noch Freuden,

Sie nimmt's und liebt nur Gott in beiden.


2.

Wenn dein Gebet dich nicht vergnüget,

Vergnüge Gott dann durch Geduld;

Verbirgt er dir auch seine Huld,

Daß Licht, Geschmack und Trost versieget,[484]

Glaub ohne Seh'n und liebe rein,

Mit Gott zufrieden in der Pein!

Schön ist's, sich sammeln und erheben,

Schön ist's, im Kreuz gelassen leben.


3.

Will Gott dir alle Zierde nehmen,

Entblößt er dich von Kraft und Mut,

Scheinst du ohn' Tugend, ohne Gut,

Ei, lerne dich nach ihm bequemen!

Dein Gut's muß nicht die Stütze sein,

Gott ist dein Grund, dein Gut allein;

Kannst du dein Eignes dabei wagen,

Dann end't sich all dein Weh und Klagen.


4.

Ach, spricht das treugesinnte Herze,

Vielleicht hat's Untreu wo versehn,

Vielleicht ist's irgend grob geschehn,

Und ich bin selber schuld am Schmerze.

Glaub dein Vielleicht ununtersucht,

Verpfui die Sünd' und lieb die Frucht,

Durchs Pförtchen süßer Herzenskleinheit

Sink aus dir selbst in Jesu Reinheit!


5.

Ja, fährt das Herz wohl fort zu klagen,

Ich werd' versucht und stehe bloß,

Mein Elend und Gefahr ist groß.

Allein dein Umsehn, Sorgen, Zagen,

Das aus der Eigenlieb' entspringt,[485]

Kein'n Schutz, noch Sieg, noch Rettung bringt;

Lern dich nur ruhig Gott vertrauen,

Und weder dich noch Feind anschauen!


6.

Im Tun hast du dich treu bewiesen,

Zeig nun im Leiden deine Kunst!

Du hast mit Mut und Stärke sonst

Die Feind' erlegt zu deinen Füßen,

Dein Glück, dein Fortgang schien gar groß;

Jetzt ist es Zeit, daß du so bloß

Dich alles des um Gott beraubest

Und, daß er's sei allein, recht glaubest.


7.

Zwar ja, von Sünd' und Eigenheiten,

Die schrecklich tief gedrungen ein,

Wir müssen ganz erlöset sein;

Nur kannst du nicht dies Werk bestreiten,

Dies meinen, wär' schon Greuel g'nug;

So werde denn durch Armut klug,

Dein Selbsttun ist, Gott widerstreben,

Lern dich zu Grunde ihm ergeben!


8.

Zwar ja, ohn' Heiligkeit wird keiner

Das Angesicht des Reinen sehn;

Aus dir kann nur nichts Guts entstehn,

Dein Schmücken macht vor Gott nicht reiner.

Ja, wenn du Schönheit siehst in dir,

Bist du vor Gott ein häßlich Tier;[486]

Laß gern dein Heiligsein verschwinden,

In Gott mußt du's nur wollen finden!


9.

Warum sich immer fest gehalten,

Warum auf dies und das geschaut

Und sich nicht völlig Gott vertraut?

Laß ihn freimächtig mit dir schalten,

Laß fahren, was du hattest sonst!

Die Liebe durch geheime Kunst

Kann alles haben im Verlieren

Und, wenn sie nichts will, nichts berühren.


10.

Für wen bist du besorgt und bange,

Ist's für dein eignes Leben nicht,

Weil in dir alle Stütze bricht?

Man will 'was sein, man hält sich lange;

Wenn man sich geben soll und muß,

Kommt Unruh, Schwermut und Verdruß;

Selbstliebe fürcht't ihr Untergehen –

Sie geh' zugrund', dann ist's geschehen!


11.

Daß niemand gut als Gott alleine,

Wird leicht gesagt und schwer geglaubt;

Er nehm' es, was du dir geraubt!

Das Nichts, das Elend ist nur deine.

Was suchst, was quälst, was fürchtest du?

Stimm dieser Wahrheit gründlich zu:

Wirst du ins Nichts dich überlassen,

Bald wird Gott zärtlich dich umfassen.
[487]

12.

Verlier dein Los in seine Hände

Und unbedingt dich ihm vertrau,

Für dich nicht sorg, nach dir nicht schau,

Dann sorgt, dann liebt er ohne Ende,

Dann kriegst du Raum, dann will er sein

Dein Leben, Tun und Heil allein!

Laß, ohne für dich selbst zu denken,

Ihn mit dir machen und dich lenken!


13.

Wer so in sich und keinem Werke

Kein'n Aufenthalt noch Stütze hat,

Lebt kindlich hin auf Gottes Gnad';

In Schwachheit findet er die Stärke,

Nichts habend, ist er überreich,

Hoch oder niedrig, gilt ihm gleich,

Er will so sein, wie Gott ihn stellet,

Gott ist's allein, der ihm gefället.


14.

Herr, alles Mein werd' ganz vergessen,

Ich überlass' mich ewig dir,

Du liebest uns ja mehr als wir

Mit Liebe, die ganz unermessen;

Sobald ich mich recht gebe dran,

Dann hast du all mein Werk getan,

Ich lerne da dich lieben reine,

Mein Alles ruft: Gott ist's alleine!

Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 484-488.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Geistliches Blumengärtlein
Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen; Oder kurtze Schluß-Reimen, Betrachtungen und Lieder uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums ...: [Reprint of the Original from 1735]

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon