9. Seufzen eines Gefangenen nach der Erlösung durch Christus

[335] Mel.: Freilich bin ich arm und bloß ... oder: Jesus, meine Zuversicht ... oder: Meinen Jesus lass' ich nicht ...


1.

Mein Erlöser, schaue doch,

Wie mein armer Geist verstricket,[335]

Mit geheimen Banden noch

Ganz bedränget und bedrücket!

Will ich los, so sinkt mein Herz

Bald in Ohnmacht niederwärts.


2.

Meine Bande mannigfalt

Tiefe Seufzer aus mir zwingen;

Zions Hilfe, komm doch bald,

Laß es mir durch dich gelingen,

Mache mich einst völlig frei

Von der Lüste Sklaverei!


3.

Zwar es hat mich deine Gnad'

Groben Sünden längst entrissen,

Ich hab' auch nach deinem Rat

Schon zu wandeln mich beflissen,

Daß vielleicht ein andrer wohl

Mich für fromm schon halten soll.


4.

Aber dein genaues Licht

Zeigt mir tiefer mein Verderben

Und wie ich nach meiner Pflicht

Muß mir selbst und allem sterben

Und in wahrer Heiligkeit

Vor dir leben allezeit.


5.

Dies ist auch mein Wille wohl,

Aber ach, es fehlt Vollbringen;

Was ich auch verrichten soll,

Tu ich noch mit Last und Zwingen.[336]

Seh' ich dann mein Bestes an,

So ist's doch nicht rein getan.


6.

Schau, wie ich entblößet bin,

Wie mein Geist im Kerker stöhnet,

Wie so inniglich mein Sinn

Sich nach deiner Freiheit sehnet;

Ach zerreiß den Himmel doch,

Ach zerbrich des Treibers Joch!


7.

Ach, wo ist der neue Geist,

Den du wolltst den Deinen geben,

Der den Sünden uns entreißt

Und uns bringt dein reines Leben,

Der mit Herzenslust und Kraft

Alles in und durch uns schafft?


8.

Jesu, ach erbarm dich mein,

Laß mich nicht im Elend hangen,

Mach mich gründlich frei und rein,

Nimm mein Herz dir ganz gefangen,

Komm, und werd mir innig nah,

Du hast mich erkaufet ja!


9.

Ach, wann wird mein Herze frei

Über alles sich erheben

Und in reiner Liebestreu

Nur von dir abhängig leben,[337]

Abgeschieden, willenlos,

Von mir selbst und allem bloß?


10.

Komm, du lang verlangte Stund',

Komm, du Lebensgeist von oben!

Ach, wie soll mein froher Mund,

Jesu, deine Treue loben,

Wenn mich deine Liebesmacht,

Dir zu dienen, frei gemacht!


11.

Laß dein Evangelium

Mir Gefangnem Freiheit schenken!

Ich will als dein Eigentum

Mich in dein Erbarmen senken,

Ich will hoffen, warten, ruhn,

Du wollst alles in mir tun.


12.

Eignes Wirken reicht nicht zu,

Du mußt selbst die Hand anlegen;

Ich will still sein, wirke du,

Dämpfe, was sich sonst will regen,

Kehr zu meiner Seele ein,

So wird mir geholfen sein!


Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 335-338.
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