Sechste Szene

[350] STRÖBEL. Nehmen Sie doch Platz, Herr Beermann!


Beermann setzt sich auf das Sofa; Ströbel nimmt gegenüber auf einem Stuhle Platz.


BEERMANN trocknet sich die Stirne. Eine Frage, Herr Assessor: Sind Sie verheiratet?

STRÖBEL. Nein.

BEERMANN. Ich dachte mir's. Wenn Sie Familie hätten, würden Sie nicht so von Egalsein reden.

STRÖBEL. Wenn ich Familie hätte, würde ich mich zunächst nicht kompromittieren.

BEERMANN. Aber ...

STRÖBEL. Ich stünde nicht in dem Tagebuch der Frau Hochstetter.[350]

BEERMANN. Das kann man nie wissen.

STRÖBEL. Erlauben Sie mir! Wo ist da überhaupt noch 'n Familienleben, wenn solche Geschichten passieren?

BEERMANN. Wieso? Wenn es niemand erfährt?

STRÖBEL. Man lebt doch nicht fortwährend unter Lügen!

BEERMANN. Herr Assessor, wenn in der Ehe die Lügen aufhören, dann geht sie auseinander.

STRÖBEL. Nanu!

BEERMANN eindringlich. Glauben Sie mir! In jeder glücklichen Ehe lügt man einander vor, daß sich die Gefühle nicht verwandeln.

STRÖBEL. Aber man bleibt sich treu.

BEERMANN. Keine Idee!

STRÖBEL. Na, hören Sie, das ist doch selbstverständlich!

BEERMANN. Aber keine Idee! Wenigstens nicht buchstäblich! Ein Mann ist treu, auch wenn er ... und so weiter.

STRÖBEL. Ihre Ansichten überraschen mich ...

BEERMANN. Ich meine, er ist treu in seiner Art. Er bleibt immer noch wohlwollend gegen seine Frau, er sorgt für die Familie, und das ist die Hauptsache. Das andere, was Sie meinen, das ist bloß 'n Ideal.

STRÖBEL. Und Ideale befolgt man.

BEERMANN. M–ja! Aber wenn man sie nicht befolgt, schont man Sie wenigstens.

STRÖBEL. Ich muß schon sagen, ich wundere mich. Sie sind doch Vorstand des Sittlichkeitsvereins?

BEERMANN. Was konnte ich machen, wenn man mich wählt?

STRÖBEL. Aber jedenfalls vertreten Sie die Ansichten Ihres Vereins, und ich dachte, Sie seien deshalb hierhergekommen?

BEERMANN. Weshalb?

STRÖBEL. Um Ihrer Befriedigung Ausdruck zu geben, daß wir das Treiben dieser Person aufgedeckt haben.

BEERMANN. Deshalb bin ich hierhergekommen?

STRÖBEL. Nicht?

BEERMANN hält sich das Taschentuch vor die Stirne. Verzeihen Sie, Herr Assessor, ich bin noch angegriffen von dem vielen Treppensteigen. Ich kann Ihnen nur nicht so schnell folgen. Nicht wahr, Sie erwähnten doch vorhin ein Tagebuch?

STRÖBEL. Ja.[351]

BEERMANN. Und das Tagebuch, das haben Sie gelesen?

STRÖBEL. Nein; ich habe noch keine Zeit gehabt.

BEERMANN. Aber Sie sagten doch etwas von scherzhaften Bemerkungen, die darin stehen?

STRÖBEL. Was ich so beim Durchblättern gesehen habe.

BEERMANN erleichtert. So?

STRÖBEL. Übrigens, der Inhalt des Tagebuchs wird Ihnen ein Geheimnis bleiben, Herr Beermann. Ich darf Ihnen nichts darüber sagen.

BEERMANN. Nein, nein, ich will nichts davon wissen.

STRÖBEL. Sie erfahren später alles, wenn die Gerichtsverhandlung ist.

BEERMANN bestürzt. Ja, wird es da verlesen?

STRÖBEL. Selbstverständlich. Heute kann ich Ihnen nicht mehr sagen, als daß wir rücksichtslos vorgehen werden. Darüber kann Ihr Verein beruhigt sein.

BEERMANN aufstehend. Ich bin aber gar nicht beruhigt, wenn ich an die Folgen denke.

STRÖBEL ebenso. Was kümmern Sie die Folgen? Sie haben sich ein hohes Ziel gesteckt in Ihrem Verein. In Ihrem Programm heißt es, daß Sie mit eiserner Energie die Auswüchse beseitigen wollen. Jetzt erleben Sie die Genugtuung.

BEERMANN. In unserm Programm heißt es, daß wir für die Erhaltung der Ehe eintreten unter nationalen, sittlichen und sozialen Gesichtspunkten. Und die Ehe wird untergraben, wenn das alles bekannt wird!

STRÖBEL. Was sind das für sittliche Gesichtspunkte?

BEERMANN. Aber soziale! Weil gerade die besitzende Klasse kompromittiert wird!

STRÖBEL. Das wird sich die selbst zuschreiben.

BEERMANN. Es ist einfach unmöglich! Es muß sich ein Ausweg finden lassen.

STRÖBEL. Aus dem Bereiche des Gesetzes gibt es keine Auswege.

BEERMANN. Wem sagen Sie das? Dann gibt es eben Umwege.

STRÖBEL verweisend. Herr Beermann!

BEERMANN. Jawohl! Ich bin alt genug, um das zu wissen. Die Polizei hat – weiß Gott! – nicht die Aufgabe, einen solchen Riesenskandal zu provozieren. Da geht Autorität verloren. Da wird bei den Massen der Respekt erschüttert.[352]

STRÖBEL. Den Skandal haben diese Herren, Auf das Tagebuch klopfend. provoziert.

BEERMANN. Das ist kein Skandal, wenn zwischen vier Wänden sich einer mal gehen läßt. Ein Skandal wird es erst, wenn man die Geschichte vor Krethi und Plethi breit tritt. Aber – das geht einfach nicht!

STRÖBEL. Herr Beermann, ich ehre die humane Idee, welche Sie offenbar leitet. Sie müssen jedoch zugeben, daß wir vollständig im Einklang handeln mit den Klassen, von denen Sie sprechen.

BEERMANN. Aber nein!

STRÖBEL. Aber ja! Die gute Gesellschaft hat hier vor zwei Wochen einen Verein gegründet, weil sie eine größere Strenge gegen die Unsittlichkeit für notwendig hält.

BEERMANN. Gegen die Unsittlichkeit in den unteren Schichten, wo sie leicht in Zügellosigkeit ausartet. Als Präsident muß ich am Ende wissen, was wir wollen.

STRÖBEL. Auch die Frau Hochstetter gehört zu den unteren Schichten. Wenn jetzt Berührungspunkte zutage treten, so tut's mir leid.

BEERMANN. Die Polizei soll nichts tun, was ihr leid tut. Herrgott! Wenn mich nur der Präsident angehört hätte! So was behandelt man doch nicht bloß geschäftsmäßig!

STRÖBEL. Der Herr Präsident hätte das nämliche gesagt. Er kann auch nichts ändern.

BEERMANN. Man kann alles.

STRÖBEL. Hier liegen die Beweise. Deutet auf das Tagebuch. Kein Mensch kann sie mehr aus der Welt schaffen. Auch der Herr Präsident nicht.

BEERMANN. Und was geschieht damit?

STRÖBEL. Sie gehen an den Staatsanwalt. Die Lawine ist im Rollen.

BEERMANN. Und was sie erschlagen wird, das sollen wir einfach abwarten? Es läutet am Telephon.

STRÖBEL. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick. Geht nach rechts zum Telephon.


Während Ströbel am Telephon spricht und ihm den Rücken kehrt, geht Beermann zum Schreibtisch und versucht, in das Tagebuch einen Blick zu werfen. Er öffnet es furchtsam und schließt es mehrmals, wenn er glaubt, daß sich Ströbel umwendet.
[353]

STRÖBEL am Telephon. Hier Amtszimmer des Assessor Ströbel ... Wer dort ... Hier Amtszimmer ... Jawohl ... Assessor Ströbel ... ach, Pardon, Herr Präsident ... Pause. ich habe verstanden, gewiß. Ich werde im Bureau bleiben ... Pause. ich habe die Hochstetter vernommen ... die Frau Hauteville ja ... Pause. ich bleibe im Bureau, bis Herr Präsident kommen, ich habe die Ehre. Ströbel läutet ab. Beermann schließt hastig das Buch und bemüht sich, gleichgültig auszusehen.

STRÖBEL. Da sehen Sie selbst, Herr Beermann, daß der Präsident die Sache im Gang hält. Er will heute noch mal mit mir darüber konferieren.

BEERMANN. Man muß also hilflos zusehen, wie das Unglück kommt?

STRÖBEL. Sie müssen konsequent sein ...

BEERMANN. Da können Bekannte dabei sein, Verwandte.

STRÖBEL. Sie müssen konsequent sein. Die Gründung Ihres Vereins ist doch jetzt glänzend gerechtfertigt.

BEERMANN wütend. Ach, lassen Sie mich in Ruhe mit dem dummen Sittlichkeitsverein! Man bleibt doch 'n Mensch!

STRÖBEL. Ich begreife Sie nicht.

BEERMANN. Sehen Sie, ich habe die schwersten Gewissensbisse. Heute nacht, wie ich mir das so vorstellte, was kommen wird, dieses Familienunglück, da habe ich mich gefragt, was ist wichtiger: daß man Moral besitzt, oder daß man an unsere Moral glaubt?

STRÖBEL. Und Sie haben die Antwort nicht gefunden?

BEERMANN. Doch, ich bin mir vollständig klar darüber geworden, daß es viel wichtiger ist, wenn das Volk an unsere Moral glaubt.

STRÖBEL. Dazu hätten Sie keinen Verein gebraucht.

BEERMANN. Erst recht. Moralisch sein, das bringe ich in meinem Zimmer allein fertig, aber das hat keinen erzieherischen Wert. Die Hauptsache ist, daß man sich öffentlich zu moralischen Grundsätzen bekennt. Das wirkt günstig auf die Familie, auf den Staat.

STRÖBEL. Ich muß sagen, von der Seite habe ich die Sache noch nicht betrachtet.

BEERMANN. Denken Sie bloß nach! Mit der Moral ist es genau wie mit der Religion. Man muß immer den Eindruck haben, daß es eine gibt, und einer muß vom andern glauben, daß er eine[354] hat. Meinen Sie denn, daß es noch eine Religion geben würde, wenn die Kirche unsere Sünden öffentlich verhandeln würde? Aber sie vergibt sie im stillen, und so schlau sollte der Staat auch sein.

STRÖBEL. Es klingt manches richtig von dem, was Sie sagen.

BEERMANN. Es ist richtig. Sie können sich darauf verlassen.

STRÖBEL. Theoretisch vielleicht. Aber das hilft uns nichts. Solange das Gesetz es vorschreibt, werden diese Sünden, Auf das Tagebuch klopfend. öffentlich verhandelt.

BEERMANN. Auch wenn man weiß, daß der Staat Schaden leidet?

STRÖBEL zuckt die Achseln. Tja!

BEERMANN. Nehmen wir an – ich weiß es ja nicht – aber nehmen wir an, nur ein angesehener Mensch hätte mal 'ne schwache Stunde gehabt und stünde in dem Buch ...

STRÖBEL energisch. Dann wird er vorgeladen, ohne Gnade und Barmherzigkeit.

BEERMANN schreit. Aber das ist ja der helle Blödsinn!

STRÖBEL verweisend. Es ist Pflichterfüllung. Lehrhaft. Sehen Sie, Herr Beermann, Sie sind Laie. Bei Ihnen darf das Gefühl eine Rolle spielen. Wir Beamte dagegen stoßen mit unsern Empfindungen an die eherne Mauer der Pflicht.

BEERMANN hält sich die Ohren zu. Hören Sie auf!

STRÖBEL. Darüber weg tragen uns keine Schwingen.

BEERMANN zornig. Wenn man schon Federvieh ist, soll man auch fliegen können. Ich will Ihnen was sagen. Wissen Sie, was wir seit drei Wochen tun? Die Zungen reden wir uns aus den Hälsen, um eine regierungsfreundliche Wahl zu ermöglichen. Nichts wie Vaterland und Staat und Religion seit drei Wochen! Und das ist der Dank! Ins Teufels Namen, stellen Sie sich vor, es würde einer kompromittiert, der in dreißig Versammlungen staatsfeindliche Ideen bekämpft hat!

STRÖBEL zuckt die Achseln. Tja!

BEERMANN. Liefert die Regierung ihren eigenen Gegnern den Mann aus?

STRÖBEL. Wir würden ihn bedauern, aber wir würden ihn vorladen.

BEERMANN. Ohne Gnade und Barmherzigkeit – Am Telephon läutet es sehr heftig.

STRÖBEL. Entschuldigen Sie einen Augenblick! Ströbel geht[355] zum Telephon und wendet Beermann den Rücken zu. Hier Amtszimmer – – jawohl, Herr Präsident, ich bin selbst am Telephon, Kleine Pause. ... bei der Verhaftung? ... bei der Verhaftung war der Kommissär anwesend und ein Schutzmann ... Kleine Pause. und ein Schutzmann ... Pause. gewiß, Herr Präsident, ich habe verstanden ... ich soll den Kommissär Schmuttermaier, Kurze Unterbrechung. ... ich soll den Esel Schmuttermaier sofort hierher zitieren ... Pause. und soll selbst warten ... jawohl, Herr Präsident.


Während des Telephongespräches ist Beermann wieder an den Schreibtisch getreten. Er nimmt mit zitternder Hand das Tagebuch, legt es wieder hin, nimmt es wieder und schiebt es hastig mit energischem Ruck in die Brusttasche. Ströbel geht in deprimierter Stimmung vom Telephon weg. Beermann stellt sich so vor den Schreibtisch, daß ihn Ströbel nicht überblicken kann. Er ist verstört und hustet, um seine Unruhe zu verbergen. Ströbel drückt auf eine Glocke, die auf Reisachers Tisch steht.


BEERMANN unter Hustenanfällen. Ich sehe ein, daß nichts mehr zu machen ist, und will Sie nicht länger stören.

STRÖBEL hastig. Nein, bitte, bleiben Sie! Im Augenblick kommt der Präsident, da können Sie mit ihm selbst sprechen.

BEERMANN. Sie sagten doch, daß es nichts hilft ... Reisacher kommt durch die Mitteltüre.

STRÖBEL dringlich. Reisacher, suchen Sie sofort den Kommissär Schmuttermaier! Wenn er nicht im Hause ist, schicken Sie nach ihm! Oder telephonieren Sie! Er muß sofort hierher kommen.

REISACHER. Jawoll, Herr Assessor. Rasch ab durch die Mitteltüre.

BEERMANN. Sie sagten selbst, daß es nichts hilft, und ich empfehle mich Ihnen.

STRÖBEL unruhig. So warten Sie doch auf den Präsidenten!

BEERMANN. Es hat keinen Zweck. Ich ... ich habe getan, was ich konnte ... und wenn es nichts nützt ... also ... adieu! Will ab nach links. Die Türe wird jedoch heftig aufgerissen; der Polizeipräsident erscheint, läßt Baron Schmettau eintreten und zieht die Türe zu.[356]


Quelle:
Ludwig Thoma: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Band 2, München 1968, S. 350-357.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Moral
Moral: Komödie in 3 Akten: Komödie in drei Akten
Moral
Moral

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.

188 Seiten, 6.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon