Kurze Vorerinnerung

Lieber Leser,


Ich weiß nicht, ob dein Gemüt zuweilen so gestimmt ist, daß du dich gern und willig in die Zeit deiner Kindheit zurückversetzest, dich aller damaligen Eindrücke erinnerst, und ohne Bedauern vergissest, was du seitdem gelernt und erfahren hast. Es gewährt einen eignen sonderbaren Genuß, dein Jahrhundert und die Gegenstände um dich her aus dem Gedächtnisse zu verlieren. Du bist vielleicht irgendeinmal krank gewesen, geliebter Leser, oder hast dich einige Stunden hindurch in einer unvermuteten Einsamkeit befunden von allen Zerstreuungen verlassen, kann man dann zuweilen an alten wunderlichen Zeichnungen oder Holzstichen ein Vergnügen finden und sich in ihnen verlieren; man betrachtet dann wohl aufmerksam ein unzusammenhängendes und fast unverständiges Bild, wo vorn eine Ratsversammlung im königlichen Palaste sitzt und man hinten das Meer mit Schiffen und Wolken, ohne alle perspektivische Kunst, wahrnimmt. Möchtest du doch, o mein Lieber, ein solches und kein andres Vergnügen in gegenwärtigen altfränkischen Bildern erwarten, die wir dir jetzt vor die Augen führen wollen. – Lebe wohl! –[193]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 193-194.
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