Siebenter Abschnitt

[509] Die ersten schönen Frühlingstage waren wieder gekommen. Mehr als zwei Jahre waren verflossen, seitdem Leonhard in seine Heimat zurückgekehrt war. Immer hatte er auf seinen Freund Elsheim gehofft, dieser aber ward durch eine unerwartet eingetretene bedeutende Krankheit seiner Mutter auf jenem fern liegenden Gute zurückgehalten. Es schien dem jungen Mann Sünde, die letzten Lebenstage seiner teuren Mutter, deren einziges Glück er war, nicht zu erheitern, und so war es natürlich, da sich keine Hoffnung zur Genesung zeigte, daß er ihren Tod abwartete, der erst bei der Annäherung des Frühlings erfolgte. Er hatte ihr noch die Freude machen können, ihren längst gehegten Wunsch zu erfüllen, daß er sich nämlich mit Albertinen vermählte. Ein Enkelchen, einen Knaben, hatte die alte Frau auch noch vor ihrem Hinscheiden gesehen, und so starb sie denn froh und zufrieden, da sie den einzigen Sohn glücklich wußte.

Elsheim hatte in dem langen Zeitraume nur selten geschrieben; auch waren seine Briefe nur kurz und flüchtig, so daß Leonhard diese Vorfälle nur summarisch erfahren hatte, ohne die Motive und Veranlassungen näher zu kennen.

Jetzt aber war Elsheim mit Frau und Kind angekommen; Dorothea, die sich von ihrer innigst geliebten Freundin nicht trennen wollte, war mit ihnen; der Knabe, welcher, zu Ehren Leonhards, Wilhelm getauft worden war, befand sich wohl und munter, und so waren alle zugegen, die Leonhard als Taufzeugen für sein Töchterchen schon ziemlich lange erwartet hatte.

Elsheim, welcher einige Tage früher ankam, war nicht wenig erfreut und überrascht, seinen Freund so glücklich und heiter zu finden; jenes sinnige Nachdenken, das ihn sonst oft in den heitersten Stunden überraschte, und welches zuweilen in ein finsteres Träumen ausartete, schien völlig von ihm gewichen zu sein. Er war so natürlich froh, so ganz in sich befriedigt, so völlig Mann geworden, daß Elsheim im wahren und festgegründeten Glücke seines Freundes sich selber glücklich fühlte. So war auch seine Gattin, Friedrike, noch selbständiger, als ehemals. Da man die Taufe bis zur Ankunft der Freunde aufgeschoben, so konnte die[509] junge Mutter schon wieder aus dem Bette sein. Es war natürlich, daß die beiden Eheleute, denen jetzt zum erstenmal ein Kind geschenkt war, sich liebender erwiesen, daß der Mann der Frau zärtlich und schonend begegnete; aber der scharfsichtige Elsheim erblickte in dieser wechselseitigen Hingebung noch etwas Innigeres, welches er nicht ganz verstand, jedoch bald einmal die Erklärung desselben von seinem Freunde zu hören hoffte.

War Elsheim verwundert, so erstaunte Leonhard in einem weit höheren Grade über die Verwandlung des Barons. Jene Munterkeit, die ihn so liebenswürdig machte, war ihm geblieben, ja, man konnte sagen, sie war erhöht, aber gewissermaßen geläutert und verklärt; denn jenes Schroffe und Herbe, was den Freund in manchen Augenblicken der Übertreibung wegen gestört hatte, war Leichtigkeit und Anmut geworden. Wenn Leonhard es hätte beschreiben sollen, würde er vielleicht gesagt haben, das Wesen seines glücklichen Freundes sei jungfräulicher, unschuldiger geworden; denn, daß er glücklich sei, zeigte sich in jedem Blick und jeder Miene. Friedrike war sehr vergnügt darüber, die Freunde nach einem so langen Zwischenraum wiedervereinigt zu sehen, und zeigte nichts von jener Empfindlichkeit oder Eifersucht, durch welche Leonhard in früherer Zeit sich wohl verletzt fühlen mochte.

Das Fest der Taufe war heiter, und alle erfreuten sich der schönen Aussicht, welche die Zukunft verhieß. Albertine, nach welcher das Töchterchen genannt wurde, hielt es bei der religiösen Zeremonie; Elsheim war zugegen, sowie der Professor Emmrich der sich schon seit einem Jahr in dieser Stadt niedergelassen hatte. Zugleich war der kleine Tischlermeister Krummschuh eingeladen, der sich sehr geehrt fühlte, daß er mit so vornehmen Leuten an dem Feste teilnehmen sollte. Die kleine fröhliche Dorothea war zurückgeblieben, um dem kleinen Wilhelm Gesellschaft zu leisten, der, obgleich erst ein Jahr alt, schon redete, und gern mit seiner Freundin spielte und scherzte.

Beim Mahle war man herzlich froh, und Albertine und Friedrike sagten sich die freundlichsten Worte. Es war vorauszusehen, daß sie in Zukunft vertraut und einander unentbehrlich sein würden. Froher, als gewöhnlich, zeigte sich der Professor, denn er sah Albertinen schöner, als je; alle seine Wunsche für sie waren in Erfüllung gegangen. Auch er fand den jungen Baron ernster, aber edler, und man sprach viel darüber, wie man im schönsten Freundesverein den Sommer zubringen, wie man sich im Winter gemeinsam beschäftigen wolle, was man miteinander lesen, welche[510] Spaziergänge man machen könne. Elsheim gab selbst der Hoffnung Raum, daß sein Freund mit Frau und Kind doch noch einmal sein Gut an der fränkischen Grenze wieder besuchen könne.

Friedrike begab sich, da sie sich etwas angegriffen fühlte, früher zur Ruhe, und Emmrich geleitete Albertinen nach Hause; froh und dankbar verließ Krummschuh die Gesellschaft, und Leonhard und Elsheim befanden sich nun allein miteinander in jener Stube und an dem runden Tisch, an welchem ihnen vor beinahe drei Jahren der alte Magister seine Geschichte erzählt hatte.

Die beiden jungen rüstigen Männer reichten sich die Hände, und sahen sich mit dem Blick der reinen und festen Freundschaft an. »Liebster Bruder«, fing Leonhard an, »du bist wahrhaft glücklich, nicht zum Beneiden, wie man sich immer ausdrückt, denn ich glaube, ich bin es nicht weniger; aber noch immer begreife ich es nicht, wie du dahin gelangt bist. Deiner Briefe waren so wenige, immer nur einige Zeilen, anfangs verdrüßlich, dann zurückhaltend, dann blieben sie einmal ganz aus, dann ward mir kurz deine Vermählung, und nach zehn oder eilf Monaten die Geburt deines Kindes gemeldet- und so bin ich mit dir ohne historischen Zusammenhang: unsere Herzen sind eins, aber ich habe dich und dein Schicksal nicht begriffen. Vielleicht kannst du mir jetzt, in dieser traulichen Stunde, hierüber näheren Aufschluß geben.«

Elsheim lachte herzlich und sagte: »Liebster, wenn ich verdrüßlich bin, schreibe ich ungern Briefe, noch viel weniger aber, wenn ich mich recht glücklich fühle. Ach, und in jenen Tagen, da sich mir das Paradies der Liebe öffnete, wie hätte ich da Worte suchen mögen, wo hätte ich sie auch finden können, dir meine Seligkeit mitzuteilen! Sehen wir uns, sprechen wir uns doch jetzt; warst du es doch selbst, der zuerst den seltenen hohen Wert Albertinens erkannte, als ich noch in meiner Verblendung herumlief und nach Wolkenschatten haschte.«

Er wurde ernst und fuhr fort: »Immerdar habe ich an jene Gespräche denken müssen, die wir auf der Reise miteinander führten. Wer kennt das Leben, wer sich, oder andere Menschen? Auch wer klar zu sein glaubt, fällt wiederum in das Trübe, Widersprechende und Unzusammenhängende, und diese Verirrung war vielleicht notwendig, damit man sich jenseits vollständiger wieder antreffen möchte. Es gibt so viele Romane und Erzählungen, vieles ist geistreich, manches davon gehört zu den Kunstwerken;[511] aber, so viel ich nun auch weiß, ist jenes Thema noch niemals, oder mit wahrer Menschenkenntnis durchgeführt worden. Ja, Freund, dieser Rausch und diese seltsame Leidenschaft für jene reizende Charlotte, die mich eine Zeitlang mir selbst entführte, war zu meinem Leben, die Befriedigung derselben zu meiner Ruhe und meinem Glücke notwendig. Wie schön jenes Wesen ist, welche Gewalt sie über die Sinne und den taumelnden Geist ausüben kann, hast du ja selbst erfahren. Die Menschen brauchen immer das Wort Liebe, und sie wissen selbst nicht, was sie damit ausdrücken wollen. Jene Idealisten nun gar, die sie ohne Gestalt und Farbe malen wollen, und nur die Vernichtung des Gemüts und der Leidenschaft darstellen können! In jedem Menschen, in jeder Situation, in jeder Rede und jedem Blick ist die Liebe, wenn sie wirklich da ist, ein anderes Wesen, ein neues, originelles Individuum, und darum ist dies Thema für den Dichter so unerschöpflich, wenn er ein echter Dichter ist. So liebt ich Charlotten ungestüm, fast wahnsinnig, und ich habe dir schon damals gestanden, wie mich die Eifersucht peinigte, neben dem sonderbaren Kontrast, daß ich dies verführerische Wesen nicht achten, und noch weniger ehren konnte. Sah ich doch täglich ihre Unwahrheit und Verstellung, wie sie nur dem Augenblick lebte, und selbst, wenn sie gewollt hätte, unfähig war, im Geliebten den edlen Menschen zu achten. Und doch war diese ewige Lüge ihrem Leben und selbständigen Geiste keine Unwahrheit: denn nur so, wie sie war, war ihr Witz, ihre Schalkheit, ihr Beherrschen der Menschen möglich. Daß alles Ehrbare, Echte, wahrhaft Menschliche und Treue ihr unzugänglich war, goß diesen wundersamen Zauber über sie, welcher unsere noch jugendlich frischen Herzen so sonderbar berauschte. Hätte man sie achten können oder ehren müssen, so konnte man sie nicht mehr lieben. Aber auch einzig sie konnte diesen Wollustrausch, diesen feinen und seelenbetäubenden Wonnedurst erregen und befriedigen. Du hast dies ebenfalls erlebt, ein anderer würde mich vielleicht nicht verstehen.

Als meine Seele und meine Sinne nun befriedigt worden, als ich das Glück genossen hatte, welches mir damals das höchste, wenigstens ein unerläßliches erschien: wie war nun mein Gefühl? Meine erste Besonnenheit war, daß ich dich, Geliebtester, unendlich vermißte; ich klagte es buchstäblich den Wäldern und Fluren, daß ich dich jetzt schon hatte abreisen lassen, obgleich mich damals dein Abschied erfreute, und deine Reise mir einen Stein vom Herzen nahm. Noch zu einigen Zusammenkünften fand ich[512] mich ein in jenem einsamen Häuschen dort am Buchenwalde; aber der Zauber, der mich so golden umsponnen hatte, war zerbrochen und zerrissen, wie von Armida oder Alcinda war die Täuschung abgefallen, und wenn man unter diesen Gefühlen erwacht, so ist die Wirklichkeit gar zu arm und nüchtern, weil der Traum zu wonnereich war.

Emmrich hatte es durch seinen Enthusiasmus dennoch möglich gemacht, daß wir Shakespeare ›Wie es euch gefällt‹ aufführen konnten. Statt deiner, wie er es erst willens war, mußte ich nun jenen kindlichen, ungebildeten und in seiner Natürlichkeit so braven und edlen Orlando spielen. In den Liebeszenen, welche Albertine so heiter und lieblich gab, fiel es mir jetzt erst auf, wie schön dies Wesen sei, wie edel gebaut, welche Töne in ihrer Brust wohnten, mit welchem Gefühl sie sprach. Da wirkte eine frühere Ermahnung Emmrichs nach, und seine Worte fielen mit neuer Kraft auf mein Herz, wie ich mich eine Zeitlang wirklich ungezogen gegen sie betragen hatte. Ich erschien mir wie ein alberner Knabe, daß ich, um meiner guten Mutter nur zu widersprechen, mich so willkürlich gegen alle Vorzüge dieses Mädchens verblendet hatte. Ich kam ihr näher, war freundlicher, redete sie nach beendigtem Stück fast mit Zärtlichkeit an, und niemals, niemals werde ich den Blick vergessen können, mit welchem sie mich ansah. Wie soll, wie kann ich ihn beschreiben? Er drang mir durch Mark und Bein. Ein zarter, holder Vorwurf lag darin, ein unendliches Mitleid mit mir, daß ich sie habe verkennen mögen, und doch ein unsäglicher Schmerz ihres eignen Herzens; es war als wenn der Blick sagen und mit holdseliger Bitterkeit fragen wollte: Endlich? – Sie wendete sich dann plötzlich ab, und eilte in ihr Zimmer, um sich umzukleiden.

Von dieser Stunde an folgte ich ihren Schritten, und hatte jetzt, im buchstäblichen Verstande, Charlotten völlig vergessen. Diese trieb schon seit einigen Tagen ihr Wesen mit den Virtuosen, was mich gar nicht mehr interessierte; aber unser kleiner Cadet wollte wahnsinnig werden, und es war hohe Zeit, ihn in seine Anstalt zurückzusenden. Meine Sehnsucht nach Albertinen, meine Bewunderung ihrer Schönheit, daß ich sie immerdar vermißte, und ihre Gegenwart suchte, alles dies wuchs mit jedem Tage. In einer schlaflosen Nacht mußte ich es mir bekennen, daß es Liebe sei, was mich so quäle und doch peinigend beselige. Sonderbar! ich hatte nicht den Mut, ihr dies Gefühl zu gestehen, obgleich ich jetzt schon Emmrichs Worten glaubte, daß die Holdseligste eine Leidenschaft für mich empfinde. Endlich, in jener abgelegenen[513] Gartenlaube, wo ich sie einmal allein antraf, wagte ich es. ›Wie, Vetter!‹ rief sie aus, und ihre wunderschöne Stimme zitterte im klingenden Silber vor tiefer Bewegung: ›dies sagen Sie mir? Und es kann Ihr Ernst sein? Woran soll ich das erkennen?‹

›An diesen stürzenden Tränen‹, rief ich, indem ich zu ihren Füßen niedersank. ›Stehen Sie auf!‹ sagte sie ängstlich, ›es könnte uns jemand überraschen.‹ Ich setzte mich zu ihr, sprach, bewies, forderte, wünschte und flehte; sie aber sah schweigend vor sich nieder, und erhob nur von Zeit zu Zeit das schöne Haupt, um mir scharf in die Augen zu sehen. Sie schien mit sich zu kämpfen, sie sann über Gedanken, die sie aussprechen möchte, sie stritt mit Gefühlen – endlich sagte sie; ›Und wenn ich nun an Ihre Liebe glaube, wie Sie es nennen? Die Leidenschaft nehme ich wahr; stammt diese aber auch aus jenem Quell, den ich Liebe nennen möchte? Und selbst, wenn ich Ihnen glauben wollte, kann ich Ihnen jetzt noch keine Antwort geben. Doch, ich erscheine Ihnen, der Sie ganz andere Forderungen machen, vielleicht altklug, oder gar prüde. Nur eins versprechen Sie mir: sagen Sie von dem, was Sie jetzt so heftig zu wünschen scheinen, auch kein Wort Ihrer Mutter. Sie wissen wohl, welche Pläne sie einst hatte, und ich möchte in dieser Sache von niemand, auch dem Besten nicht, überredet werden. Vieles, ach! vieles muß überdies noch anders werden.‹ – Mit diesen Worten entfernte sie sich, nachdem ich ihre Hand, die sie mir freundlich überließ, heftig geküßt hatte.

Man wird oft schlimmer, indem man besser wird. Mein Gemüt war erhoben, ich hatte vieles in mir überwunden, was ich jetzt niedrig nennen mußte, und doch nahm ich jetzt planvoll zur List meine Zuflucht, die ich noch vor wenigen Wochen würde verachtet haben. Ich suchte mir nämlich die kleine Dorothea zu gewinnen, und dieser ein unbedingtes Zutrauen einzuflößen. Das war bei dem guten lieben Kinde nicht gar schwer, obgleich sie mich oft gescholten, oder mir auch empfindliche Wahrheiten gesagt hatte; mein neckender Ton war ihr oft zuwider gewesen und sie hatte sehr oft geäußert, kein Mensch könne Zutrauen zu mir fassen. Wie es mir also gelang, sie recht treuherzig zu machen, entdeckte ich ihr den Zustand meines Gemüts, und da sie überzeugt war, es sei mein Ernst, versprach sie mir alle Hülfe, und wiederholte mir manche Gespräche, die sie mit Albertinen geführt hatte, und was diese an mir, den Leichtsinn, eine gewisse Frechheit, von der ich nichts wußte, und der gleichen mehr, aussetzte. Bei dieser Gelegenheit, Freund, wurde nun dein Lob in allen Tönen gesungen. Du warst Albertinen das Muster eines[514] Mannes, diese Kindlichkeit fehlte mir, sowie diese Unschuld, eine gewisse Redlichkeit und dergleichen Haupttugenden mehr, so daß die Kleine auch früher den irrigen Glauben gehegt hatte, Albertine sei sterblich in dich verliebt. Jetzt teilte sie Emmrichs Meinung, daß sie von einer Leidenschaft gegen einen Undankbaren schon früher sei verzehrt worden, dessen Unart und Frivolität, dessen Verliebtheit in Charlotten, sowie manche Tollheiten, sie immerdar tief verletzten.

Wie gern wollte ich ihr jetzt alle diese Leiden vergüten. Aber sie wich mir aus, sie vermied mich, soviel sie es irgend konnte. Oft mußte ich glauben, daß ihr mein Wesen wirklich unerträglich sei, und dies brachte mich in meiner überspannten Empfindung gar oft der Verzweiflung nahe. In manchen Stunden fiel mir ein, ich wollte fortreisen, und in fernen Ländern, unter anderm Himmelsstrich, mein Gemüt und meine Heiterkeit wiederzufinden suchen. Ein Blick, der etwas freundlicher schien, bannte mich dann wieder in ihre Nähe, und versöhnte mich auf lange mit mir selbst. – Doch, wozu die Freuden und Leiden, die Schwankungen meines Gefühls dir schildern? – Ich sah wohl, wie aufmerksam sie mich prüfte, wie scharf sie mich aus der Ferne, auch wenn sie mit andern lebhaft sprach, beobachtete. Selbst Dorothea machte mir von Zeit zu Zeit einige Hoffnungen, sie meine, ich werde geliebt, nur klagte sie darüber, daß die sonst so zärtliche Freundin sich seit einiger Zeit auch von ihr zurückzöge, und gegen sie verschlossener sei, als jemals.

Wir hatten an einem der schönen Herbsttage einen gemeinschaftlichen Spaziergang in jenen schönen Buchenwald gemacht in welchem du dich auch einmal verirrtest. Ich führte Albertinen, Emmrich ging mit Dorotheen, der begünstigte Bassist mit Charlotten. Dieser zündete mitten im Walde ein Feuer an, und Dorothea kochte mit Hülfe Charlottens den Kaffee in der grünen Wildnis; sie hatten spaßend die Geschirre und allen Bedarf in ihren Körbchen mitgenommen. So veranstaltete sich unvermutet ein kleines ländliches Fest, und es nahm sich artig aus, wie die rote Flamme, die in dem dürren Reisig hoch aufloderte, die Stämme und die belaubten Zweige der Buchen färbte. Nachher spazierte man noch, weit vom Wege ab, rechts und links. Endlich waren wir denn auch völlig verirrt, denn keiner hatte in seinen lebhaften Gesprächen auf den Weg geachtet. Der Bassist schrie laut, aber vergeblich, von nirgendher eine Antwort. Wir fürchteten endlich, die Nacht könne uns überraschen, und wie es in solchen Fällen wohl zu geschehen pflegt, alle strengten sich an, um[515] etwas zu ersinnen, dessen Gelingen immer noch mißlich blieb. Emmrich lief mit Dorothea fort, um Menschen aufzusuchen, der Bassist und Charlotte in derselben Absicht nach einer andern Richtung. Diese fingierten den Rettungsversuch vielleicht nur, um sich noch mehr zu verirren. Man hörte die vier verschiedenen Stimmen noch ein Weilchen, endlich verhallten alle, und ich war mit der schüchternen Albertine ganz allein. Es war einer der seligen Augenblicke unsers Daseins, denn jetzt bekannte sie mir ihre schon längst gehegte Liebe. Den ersten heiligen Kuß, den ich auf ihre Lippen drückte, erwiderte sie herzinnig. So erschüttert, begeistert, zitternd, wagte ich es, damit sie mich ganz kenne, das Geständnis, daß ich mich von Charlotten habe verleiten lassen, meinem bessern Gefühl, der Heiligkeit der Liebe, ungetreu zu werden. O Leonhard, da lächelte sie über meine Heftigkeit, oder Übereilung, wie soll ich es nennen? so milde, so lieblich und herzerobernd, und sagte: ›O Liebster, diese deine Sünde ist mir längst bekannt; ohne daß ich es begehrte, hat mir die plauderhafte Lene dies alles schon damals erzählt, als du noch nach jener Hütte eiltest.‹ – O Herzensfreund, wie war ich gedemütigt und entzückt zugleich! denn niemals, in keinem Augenblick, hat sie dieser Charlotte ihren Zorn, oder nur ihre Unzufriedenheit merken lassen, sowenig sie ihr gefallen konnte, sosehr jene sie auch verletzte und kränkte. Ja, an einem Tage, als Charlotte an Migraine litt, und alle, Dorothea, die Tante und meine Mutter über Land gefahren waren, hat sie sie christlich gepflegt, ihr vorgelesen, sie gewartet, und niemals das kleinste Zeichen gegeben, daß sie von ihr mehr wüßte, oder von ihr gekränkt sei. Oh, wie tief war ich gedemütigt, wie grausam beschämt! Aber wie wuchs auch seit diesem Augenblick meine Liebe und Verehrung zu diesem einzigen Wesen!

Ja, es ist mir so gut geworden, wie ich es mir immer wünschte. Diese stille Laube, dieser Platz im wilden Walde, jede Stelle wo ich mit ihr wandelte, die Bäume, an denen ich stand, und sie erwartete, alle diese Plätze sind mir Heiligtümer geworden, und werden mich noch im hohen Alter prophetisch anreden, und mich mit unsterblichem Zauber locken. Dort also ist mein Orient und mein Wunderland. Und glaubst du wohl, Freund, daß, seit Albertine meine Gattin ist, ich in gewissem Sinn verliebter bin als vorher? Aber Eros hat mir auch ein neues Herz in meinem Busen geschaffen, in bin ein anderer Mensch geworden. – Doch, Liebster, warum haben wir den alten Magister heut nicht gesehen?«[516]

»Morgen laß uns darüber sprechen«, sagte Leonhard, »es ist spät.« Und die beiden Freunde trennten sich.


Am folgenden Tage aß Leonhard zu Mittag bei seinem Freunde Elsheim, obgleich erst einiger Streit vorangegangen war, weil Leonhard nur höchst ungern seine Lebensweise, selbst dem Freunde zu Gefallen, änderte. Elsheim hatte keine anderen Gäste, und als sich Albertine entfernt hatte, begann zwischen den beiden Freunden wieder folgendes Gespräch, die vormaligen Begebenheiten betreffend.

»Du bist mir gestern noch manches schuldig geblieben«, fing Leonhard an, »und so will ich denn auch gegen dich, Geliebter, keine Scheu tragen, und frage dreist: Was ist aus Charlotten geworden?«

»Ja, ja«, antwortete der Baron, »es ist ganz recht von uns, und geziemt unserer Dankbarkeit, daß wir einer solchen Schönheit nicht vergessen. Dieses wunderbare Wesen, ja, Freund, sie ist noch immer schön, aber sie hat ihre Bahn, die ihr vielleicht am besten geziemte, auf eine seltsame Weise verlassen.

Mochte sie es überdrüssig sein, so allein und einzeln zu bleiben da sie alles um sie her sich verheiraten sah, hatten die Virtuosen, die nun abgereiset waren, ihre letzten Liebhaber, als leichtsinnige Musiker ihr Verdruß gemacht, und vielleicht ihrem Ruf geschadet, genug, sie nahm sich vor, sich ebenfalls zu verheiraten, um als ehrsame Frau, unter dem Schilde ihres Eheherrn, alle Verleumdungen und nachteiligen Gerüchte niederzuschlagen, und da ihr nichts mißrät, was sie ernsthaft will, so war sie denn auch schon nach vier Wochen, zum Erstaunen der ganzen Nachbarschaft, eine ehrbare und unbescholtene Hausfrau.«

»Und wen hat sie geehlicht?« fragte Leonhard in gespannter Erwartung.

Elsheim antwortete lächelnd: »Der gute Mannlich ist von ihr geheiratet worden, denn einen Monat vorher war es ihm wohl noch nicht als möglich erschienen, daß ihn dies Schicksal betreffen könne. Aber er ist glücklich mit ihr, sie ist es mit ihm, und wer kann dann noch etwas Erhebliches gegen diese Verbindung sagen? Seit zwei Monaten ist er auch Vater eines Knaben, und er weiß es schon jetzt genau, wie er diesen erziehen will, und welche Talente sich in dem Kinde entwickeln werden. Sie ist völlig umgewandelt, wenn man den Ausdruck von einem Wesen brauchen darf, welches niemals einen Charakter hatte. Sie hat sich nämlich[517] der Frömmigkeit ergeben, Mannlich hat nachfolgen müssen, und steht jetzt mit den Missions-Gesellschaften und anderen fromm-christlichen Brüderschaften in Korrespondenz und enger Verbindung. Er ist, von ihr angetrieben, so eifrig geworden, daß er oft auf seinem Gute fromme Konventikeln hält; er predigt, sie singt, Bauern und Dienstboten helfen, und sein eigener Kutscher schreit bei offenen Fenstern so laut, daß sie es oft, wenn der Wind so steht, auf dem nächsten Gut vernehmen.«

»Und das Komödienspiel? Und Berlichingen? Und Goethe?« fragte Leonhard.

»Alles das«, sagte Elsheim, »ist jetzt die allergrößte Sünde und Bosheit, die der Teufel in persönlicher Gestalt auf der Erde eingeführt hat. Alle Poesie, die geistliche abgerechnet, ist abscheulich; alle, die sich daran erfreuen, sind ewig verdammt, und kommen mit Shakespeare, Raffael, Lessing, vorzüglich aber mit Goethe, wenn der einmal stirbt, in ein und denselben Schwefelpfuhl.«

»Ist es möglich«, rief Leonhard im höchsten Erstaunen, »daß diese Menschen, gerade diese, sich von ihrer ersten Bahn so weitab verirren konnten?«

Elsheim sagte: »Gerade diese am ersten, Freund, denn in ihnen ist kein Widerhalt, keine Sperrung und kein Hemmschuh, der dem Laufe abwärts irgend entgegenwirkte. Ich sagte ihr einmal: ›Schöne Frau, Sie sind noch viel zu jung und reizend, um jetzt schon mit dem Heiland zu kokettieren, der bleibt Ihnen für alle Zukunft gewiß, nehmen Sie doch fürs erste noch einige junge Fäntchen in Anspruch, die nichts Besseres wünschen, als von Ihnen aus dem Groben gebildet zu werden‹; – aber – ich wurde mit meiner Sündhaftigkeit, falschem Witz, Arroganz und Übermut von der Frommen schön abgeführt und zur Ruhe verwiesen, so daß ich es nicht zum zweitenmal wagte, sie in ihrem Glauben irremachen zu wollen.«

Leonhard war nachdenklich geworden; dann sagte er: »Erinnerst du dich der schönen, bedeutenden Worte Othellos, als er schon alle Schandtaten seiner Frau erfahren hat und sie glaubt als er schon ihren Tod beschlossen hat, wie er immer wieder von seiner Liebe und ihrer Schönheit überwältigt ausruft: ›Aber, es ist doch schade! Jago, es ist schade, – Wie soll man die Schönheit künftig anbeten, da auch diese ein solches Ende genommen hat?‹«

»Ja wohl«, antwortete Elsheim, »denn sie war schön und ist es noch. Lange noch wird sie es bleiben, und man muß sich nur darüber am meisten verwundern, daß diejenige, die sonst das[518] Netz nach allen Männern auswarf, nun so prüde und zurückgezogen lebt, und so strenge ist, daß sie auch nicht den unschuldigsten Scherz, auch die harmloseste Leichtfertigkeit nicht duldet. Albertine ist jetzt, mit ihr verglichen, ein ausgelassener Freigeist.«

»War dies denn nun auch«, sagte Leonhard, »im Buch des Schicksals so niedergeschrieben, oder ist es eine willkürliche Sündhaftigkeit, schlimmer als die vorige?«

»Mag es sein, wie es will«, erwiderte Elsheim, »ich habe wenigstens dazu beigetragen, meinen ehemaligen Freund und Ausbildner in diese Lage zu versetzen. Sein Gut ist jetzt schuldenfrei, er kann anständig leben, Sorgen werden ihn nicht quälen, wenn er nicht auf eine wahnsinnige Art wirtschaftet, und die Summe, die ich ihm dazu vorgeschossen habe, werde ich niemals zurückverlangen.«

»Billigst du es nicht auch«, warf Leonhard schnell ein, »da ich jetzt eine Tochter habe, und die Aussicht auf mehrere Kinder wahrscheinlich ist, daß wir unserm Franz, damit er, auch wenn wir sterben sollten, seine Laufbahn machen kann, ein kleines Kapital niedergelegt haben? Friedrike war sehr erfreut, als sie mir diesen Gedanken vortrug, daß ich ihn sogleich billigte, und auch von dem Meinigen dem hinzufügte, was sie von ihrem Vermögen dazu bestimmt hatte.«

»Brav, mein Leonhard!« rief Elsheim, »und ihr erlaubt mir auch gewiß, diesen Fond noch etwas durch meinen Betrag zu vergrößern.«

»Aber wo sind die Virtuosen geblieben?« fragte Leonhard, nachdem er seinem freigebigen Freunde gedankt hatte.

»Sie reiseten von mir nach England«, sagte dieser, »und sind dort beide zu früh gestorben. Kein Wunder übrigens, da sie gar zu leicht lebten, und weder sich, noch ihr schönes Talent irgend schonten. Überhaupt aber, Freund, ich möchte mir wegen der Konfusion Vorwürfe machen, die wir durch unser Komödienspielen dort in der Gegend, wo bis dahin dergleichen nie war erhört worden, angerichtet haben. Du hast es noch mit angesehen, wie jener Ehrenberg von den Dummköpfen bewundert wurde. Was aber wirst du sagen, wenn ich dir erzähle, daß er jetzt ein Gutsbesitzer und wohlhabender Mann ist? Er richtete auf den Gütern von Dülmen und Bellmann ein schönes Nationaltheater ein, man gab die brillantesten Stücke, und von den Weibern spielten die ergrauenden Töchter der Witwe die Hauptrollen. Plötzlich wollte die eine von diesen mit aller Gewalt den Ehrenberg heiraten. Widerspruch von allen Seiten. Aber er kam zu[519] spät, die Liebenden hatten im festen Vertrauen auf ihr Glück ein Hausmittel angewendet, so daß die Mutter wohl ihre freiwillige Zustimmung geben mußte, wenn sie nicht den Ruf ihrer Tochter preisgeben wollte; wie denn die Unvermählten immer im hoffnungslosesten Zustande gerade dann leben, wenn sie recht guter Hoffnung sind. Die Theaterwut hatte so überhandgenommen, daß Bellmann und selbst Dülmen von Zeit zu Zeit mitspielten, die jungen Bellmänner, die von Natur Enthusiasten waren, nicht einmal zu nennen. Aber auch aus dieser Begeisterung hat sich eine Mesalliance entsponnen, die ebenfalls schon ihre guten Früchte, das heißt Kinder, getragen hat. Da die Lene immer zur Aushülfe herbeigeholt wurde, ja offne große Rollen übernehmen mußte, so hat in einigen der älteste Sohn Bellmann sie so reizend gefunden, daß er sie in einer mondhellen Nacht entführte, und sie nach zwei Tagen als angetraute Gattin in das Haus seines Vaters zurückbrachte. Der verwilderte Schulmeister hat seitdem immer die allerwichtigsten Rollen gespielt, und erkennt kaum den großen Ehrenberg für seinen Nebenbuhler. Er hat sich Stiefeln machen lassen, von solcher Künstlichkeit, daß man jetzt sein hölzernes Stelzbein gar nicht mehr gewahr wird, und so hat er zum Erstaunen der Welt den Kaspar den Thorringer, sowie den Otto von Wittelsbach, und selbst den König Philipp im Don Carlos dargestellt. Die Edelleute, die ihn beschützen und bewundern, sind in den Narren so vernarrt, daß er jetzt wie ein Bruder mit ihnen lebt. Da er sein Schulamt ganz versäumte, bekam er anfangs oft Verweise, manches Mal selbst scharfe, dann Drohungen, und endlich, weil nichts fruchtete, hat man ihn abgesetzt. Der Adel der Provinz hat aber für den großen Mann eine Subskription eröffnet, so daß er sich jetzt viel besser, als bei seiner Schule steht. Nun dirigiert er mit Ehrenberg bei Dülmen, Bellmann, der Freifrau und einigen anderen Edelleuten das Theater und unterrichtet die wißbegierige Jugend im Spiel. Auch der Verwalter Lenz hat, voll Begeisterung, die Ökonomie aufgegeben, und ist seiner schönen Stimme wegen jetzt Tenorist bei einem großen, namhaften Theater. Ich wünsche diesem lieben Mann von Herzen Glück und eine fernere Ausbildung seines schönen Talentes.«

»Freilich«, sagte Leonhard, »ist dein gutgemeinter Scherz zu einer ziemlichen Verwilderung ausgeartet. So geht es aber oft im Leben, und es ist eine gute Andeutung oder Allegorie für die Geschichte der deutschen Kunst. Es wäre eigentlich nicht uneben, wenn ein guter Kopf die Historie unserer wirklichen deutschen[520] Bühne beschriebe, und uns zeigte, daß es dort eigentlich ebenso hergegangen sei. Zettel hat ja doch eigentlich bei uns über Sommernacht, Elfen, Fürsten und Herren, und die ganze anmaßliche Aristokratie den Sieg davongetragen.«

»Er ist aber selbst Aristokrat«, wandte Elsheim lachend ein, »und seine Kameraden erkennen ihn als den besten; müßte er nur nicht eigentlich von dem ganz unfähigen Mondschein verdrängt werden?

Nun aber«, fing Elsheim nach einer Pause wieder an, »habe ich dir so viel gebeichtet, und deiner Neugierde genuggetan – doch du – wie ist es dir denn ergangen? Wo bist du damals geblieben? Wie kommt es, daß ich dich so verändert, und zu deinem Vorteil verwandelt, wiedertreffe? Nun sprich auch einige gescheite Worte, um mich darüber aufzuklären.«

»Wie gern«, sagte Leonhard. »Du mußtest, um der Liebe zu Albertinen fähig zu werden, dich in Charlotten vergaffen, und so war es notwendig, daß ich ein anderes poetisches Abenteuer bestehen, eine alte Sehnsucht meines Herzens sich erfüllen mußte um jetzt ohne Resignation, ohne Gefühl eines Mangels, mit meiner Friedrike ganz und auf meine Lebenszeit glücklich zu sein. Ich nannte dir damals jene Kunigunde, die ich in der Nähe von Bamberg hatte kennen lernen; du erinnerst dich vielleicht noch, was mir mit ihr begegnete –«

»Wohl erinnere ich mich«, sagte Elsheim; »es ist eine Geschichte, die sich nicht so leicht vergißt.«

»Ich ging wieder von Nürnberg nach Bamberg«, fuhr Leonhard fort; »man kann nicht andächtiger sein, als ich es auf meiner Wallfahrt war. Die Eltern lebten noch, und waren durch die Großmut eines künftigen Eidams nach dem Elend vieler Jahre wohlhabend geworden. Kunigunde, voll, frisch, schöner, als je, lebte noch in dem letzt leeren Hause, in dem Gärtchen, unter den alten Geräten, und hatte mich mit der größten Sicherheit erwartet.«

»Dich? erwartet?« rief Elsheim im größten Erstaunen.

»So ist es«, antwortete Leonhard, »ich traf sie in dieser ruhigen Geister-Stimmung. Unser Erkennen war, als wenn wir uns gestern getrennt hätten. Was soll ich dir sagen, mein Bruder? – Ich blieb dort im Hause beinahe drei Wochen, und habe in ihrer teuern Nähe alle Seligkeit ausgenossen, die dem sterblichen Menschen nur vergönnt sein mag. Ich wußte nämlich, daß ihr bestimmter Bräutigam in dieser Zeit nicht kommen könne, denn ich hatte es in Nürnberg mit angesehen, wie der Berauschte und[521] Wütende dort mit einem Pferde stürzte und umkam; und dieser ganz Abscheuliche war niemand anders, als jener edle Wassermann.«

»Wassermann!« rief Elsheim.

»Kein anderer«, sagte Leonhard, »und wie recht hatte daher meine Antipathie, die sich so lebhaft regte, als dieser Widerwärtige sich uns zum erstenmal zeigte. Sonderbar genug war es auch dasselbe Untier, mit welchem ich schon damals kämpfte und aus dessen Händen ich Kunigunden erlöste; er hatte sich seitdem aber so in aller Hinsicht verändert, daß ich ihn anfangs nicht wiedererkannte.«

»Die Sache ist aber ganz mythisch«, sagte Elsheim.

»Höre weiter«, fuhr Leonhard ganz ernsthaft fort. »Sie glaubte fest an ihren nahen Tod. Ich blieb in der stillen Hütte dort, sah die Eltern und führte das Geschäft ihrer Erbschaft zu aller Zufriedenheit; dann wieder, von aller Welt vergessen, von niemand bemerkt, jede Stunde, Minute in ihrer Nähe, in ihren Armen, stets Gespräche und Küsse wechselnd, nichts wünschend und vermissend, war ich dort in so manchen Stunden wie auf einer menschenleeren, fernen und unentdeckten Insel im Ozean.«

»Eine Feengeschichte«, sagte Elsheim, »oder sie war mehr eine Kalypso, eine verborgene Göttin, und du ihr Odysseus, nur mit dem Unterschiede, daß du dich nicht mit Tränen nach der Heimat zurücksehntest.«

»In ihrer Seligkeit«, sprach Leonhard weiter, fühlte ich mich am meisten beseligt. »O Freund, welch tiefes, unergründliches Wesen ist das menschliche Herz! Welch ein Wunder-Rätsel unverstanden und doch so einfach, die Liebe des Weibes! In einer unserer schönen Stunden gestand sie mir, daß ich sie nur einmal im Leben gekränkt habe, an jenem Nachmittag, da ich sie von dem Ruchlosen erlöst, sie mir ihre ganze Liebe angeboten und ich diese süßeste Vereinigung, um das Schicksal nicht herauszufordern, verschmäht hatte.«

»Mich dünkt«, sagte Elsheim, »auch Sigune klagt im Titurel auf eine ähnliche Weise, als sie vor dem Leichnam ihres Geliebten in tiefer Trauer sitzt. Auch hierin ist deine Geschichte Legende und grenzt an das Wunderbare. Früher verschmähtest du diese Liebe und ihren Triumph, um ihn jetzt nach so manchem Jahr zu feiern; damals flohst du aus ihrer Nähe, und jetzt, nach langer Frist, machtest du einen Weg von funfzig oder sechszig Meilen, um deinen alten Fehler wiedergutzumachen und dir die Schöne zu versöhnen. Sonderbar!«[522]

»Was auch sonderbar ist«, sagte Leonhard, »daß ich damals in meinem Glück durch keinen Vorwurf gestört wurde; wir fühlten uns beide nur befriedigt. Auch nachher, auch seit diesen zwei Jahren, habe ich jene schönen Wochen nicht bereuen können. Aber, als ich nun zurückkam, war es wie ein Traum, oder wie eine Sehnsucht, oder wie soll ich es nennen, von mir genommen; jetzt erschien mir meine Friedrike erst im klarsten Licht, meine Liebe zu ihr lebte im schönsten Bewußtsein, und auch sie fühlte, daß ich inniger, herzlicher zu ihr zurückkehrte, als ich ausgereiset war, sie sah, daß mein Glück dasselbe blieb und von keiner Laune mehr gestört ward. Und so wird es nun bleiben bis in unser Alter hinauf.«

»Und jene lebt noch?« fragte Elsheim.

»Ach! Freund«, sagte Leonhard tief erseufzend, »ihr Wesen war so geisterhaft, überirdisch; sie sprach mit solcher Sicherheit von ihrem nahen Tode, daß ich oft in der Wonne ihrer Nähe schaudern mußte. In ihren Angelegenheiten reisete ich in das Würzburgische. Sie erwartete einen Bruder, der lange außer Landes gewesen war. Wie ich zurückkomme, finde ich die Familie in Tränen. Sie war dem Bruder zwei Meilen entgegengegangen; sie hatte sich, wie die Eltern sagten, so erhitzt, daß sie seitdem bettlägerig war. Sie starb lächelnd in meinen Armen, und machte die Prophezeiung von ihrem nahen Tode wahr.«

»Weißt du denn auch«, sagte Elsheim, »daß alles dies eine wundersame Geschichte ausmacht? Mein Himmel, da fehlt ja nur wenig zu einem phantastischen Märchen! Und doch ist der Grundstoff davon wieder so alltäglich! – Aber nun, Freund, bleibt uns noch übrig, daß du mir etwas von deinem alten Magister erzählst.«

»Heute nicht«, sagte Leonhard sehr gerührt, »es möchte nur das Phantastische noch vermehren. Nimm diesen Brief fürs erste mit, und lies ihn aufmerksam in deinem Hause. Morgen sprechen wir dann weiter.«

Mit einer herzlichen Umarmung trennten sich die beiden Freunde, beide gerührt und beide nachdenkend.


Dorothea, die nur erst wenig in der Stadt gelebt hatte, war über alles erfreut, was sie sah und hörte. Auch nahm sie großen Anteil an den mechanischen Anstalten, Fabriken und Arbeiten aller Art. Darum besuchte sie auch gern in Emmrichs oder Leonhards Begleitung dessen Tischlerwerkstätte, und sah den Arbeitern[523] zu, indem sie sich daran ergötzte, zu lernen, wie aus dem rohen vierkantigen Brett durch vielfache Behandlung und mannigfaltige Instrumente nach und nach ein zierliches Gerät hervorgeht, in welchem man nur durch anstrengende Erinnerung seine erste ursprüngliche Gestalt wiedererkennt. »Und doch ist jenes erste Brett«, sagte sie, »schon von der künstlichen Sägemühle bearbeitet, die es vom Baumstamm so sicher und glatt abschneidet.« In dieser Freude und Liebhaberei traf sie ganz mit Friedriken zusammen, die auch so große Lust an der verständigen menschlichen Tätigkeit hatte. Diese meinte oft, die Welt sei nur dazu geschaffen, daß sich alles auf ihr rühre und bewege, und je mehr Maschinen klapperten und spännen, Mühlen rauschten und Eisenhämmer tobten, die Webestühle sausten, und Bauleute, Maurer, Bergmänner klopften, rutschten und hämmerten, um so glücklicher sei das Menschengeschlecht. Deshalb war sie oft in hoher Freude, wenn sie von den Werkstätten ihres Mannes her die Arbeit rauschen und raspeln hörte, die an manchen Tagen in das lauteste Toben ausartete. Sie pflegte zu sagen: »Dadurch hat die Stille des Sonntags erst einen Sinn, daß sie einen so schönen und heiligen Gegensatz mit dem alltäglichen Lärmen macht.« Leonhard, sosehr er mit Leib und Seele Handwerker war, widersprach dem oft, und es gab Stunden, in denen ihm das Geräusch seiner Arbeitssäle nicht wohlgefiel. Heut war Dorothea mit Elsheim gekommen, und nachdem sie sich lange an der Tätigkeit erfreut hatte, ging sie zu Friedriken, die nun sehr mit ihr darüber lachte, daß ihr Mann auf des Barons Schlosse für einen berühmten Professor der Baukunst gegolten habe. Die heitere Friedrike ergötzte sich sehr an den vielen kleinen Anekdoten und Lächerlichkeiten, die dort vorgefallen waren, doch hütete sich das kluge Mädchen, viel von Charlotten und deren verführerischer Schönheit zu erzählen.

Elsheim ging mit Leonhard über den Hof zu dessen abgelegenem Stübchen, wo sie vor den Fenstern den alten Nußbaum sahen und nichts von dem Geräusch der Tätigkeit vernahmen. Elsheim gab dem Freunde den Brief des Magisters zurück und sagte: »Mein Leonhard, man dünkt sich klug und erfahren, man meint Gedanken und Schicksale erlebt zu haben, und dennoch möcht ich mich nicht unterfangen zu sagen, daß ich diese seltsame Epistel ganz verstanden habe. Aber ebensowenig möcht ich behaupten, sie sei Unsinn und enthalte gar kein Verständnis. Wenn ich mich so ausdrücken darf, so gibt es wohl eine Staffel der Verrücktheit oder des Wahnsinus, die durch das Überschreiten der[524] Vernunftgrenze eine gewisse Heiligkeit und Weihe erhalten hat. So sahen es oft die Alten an, und im Orient herrscht noch dieser Glaube. Manche alten Einsiedler und religiösen Erscheinungen, vieles, was wir so geradehin Schwärmerei nennen, muß wohl aus diesem Standpunkt angesehen werden, nur daß diese Überschreitung oder Freimachung des Geistes von der Vernunft aus einer anderen Ursache herrührte. Und doch war es auch die Liebe, welche eine heilige Therese und ähnliche Gemüter, wie die seltsame Guyon und so viele andere, erregte, vor deren Schriften wir jetzt, wenn wir nicht unbillig sein wollen, mit jener stummen Ehrfurcht stehen, bei der uns das, was wir begreifen, mit Entzücken erfüllt, und die mit einer Art von Gespensterfurcht gemischt ist.«

Leonhard billigte diesen Ausspruch, und erzählte dann, wie er die näheren sonderbaren Umstände von der Verwirrung des Magisters erst bei seiner Zurückkunft von Friedriken erfahren habe. »Diesen Brief«, fuhr Leonhard fort, »schickte sie mir, weil sie ihn gar nicht verstand. Der alte Mann blieb aber immer wunderlich, und in einem solchen Zustand poetischer Aufregung, daß ihn Friedrike vermied, und noch weniger mit ihm allein sein mochte, weil seine sonderbaren Reden sie ängstigten, und der kleine Franz sie einmal weinend bat, sie möchte ihm einen andern Lehrer geben, denn bei diesem könne er nichts mehr lernen, da der Alte selber alles vergesse, Ober- und Niedersachsen, Schwaben und Pommern miteinander verwechsle, und ihm die Grammatik so wunderlich erkläre, daß er selber auch ganz verwirrt werden müsse. Vom Einmaleins und dem Rechnen wolle er gar nichts mehr hören, denn der verwirrte Mann behauptete, zwei mal zwei mache gar nicht vier, es gäbe keine Zwei, und es sei Sünde und Bosheit, von dieser Zwei nur zu sprechen. Das Kind selbst war außer sich, und unter dem Vorwand, daß Franz krank sei und sich jetzt nicht anstrengen könne, ließ sie wenigstens fürs erste die Stunden aufhören. Der Alte aber kam nach wie vor alltäglich in unser Haus, aß am Tisch und schien, wenn sich Menschen zugegen fanden, so wie sonst, nur daß er viel schweigsamer war, vor sich hin grübelte, und nur selten an den Reden der andern teilnahm. An einem Nachmittage, als der Alte geblieben war, faßte sich Friedrike ein Herz und sagte zu ihm: ›Lieber Herr Magister, warum wollen Sie nicht wieder so werden, wie Sie ehemals waren? man verkennt Sie ganz, und dadurch wird man sich fremd. Sie verdienen aber unser bestes Vertrauen.‹ – ›Schöne Frau‹, fing der Alte an, ›es kann geschehen, wenn wir ein[525] Paktum aufrichten, und wenn Sie dies halten und erfüllen, so kann ich wohl wieder ein solcher Mensch werden, wie ich vordem war.‹ – ›Und was verlangen Sie?‹ fragte Friedrike. – ›Wir kennen uns nun schon seit lange‹, sagte er feierlich, ›aber die Freundschaftsbezeigung haben Sie noch nie an mich gewendet, daß Sie mir einen Kuß gegeben hätten, wie Sie doch manchmal sogar an den kleinen Krummschuh verschwendeten. Erlauben Sie mir einen einzigen Kuß, und ich bin wieder der, der ich war.‹ Die Frau erstaunte erst über diese Forderung, sie sagte aber freundlich, gleich gesammelt: ›Recht gern, lieber alter Freund, wenn das Ihnen helfen kann.‹ – Sie bot ihm den Mund, und er drückte mit zitternden Lippen einen langen Kuß auf die ihrigen, ging dann weinend aus der Tür, ohne noch ein Wort zu sprechen, und erschien am folgenden Tage nicht, sowenig wie am dritten. Erst am vierten erhielt nun Friedrike diesen zweiten seltsamen Brief; nimm ihn hin, Freund, und lies ihn selbst.«

Elsheim las für sich, indes ihn Leonhard auf kurze Zeit verließ, um nach seinen Gesellen im Vorhause zu sehen. Der Brief lautete so:


Werte Frau.


Vielleicht will es das Schicksal so, daß der Mensch nur Mensch sein kann und darf, indem er zugleich Vieh ist. Ist das, wie die meisten stillschweigend glauben, so liegen sich Mensch und Vieh immerdar in den Haaren und katzbalgen miteinander, bald dieses, bald jener oben und unten. Denn es ist so. Wie oben, oder vielmehr wehe dem, der korrigieren wollte! Als Peter der Grausame von Kastilien von seinem Bruder Heinrich umgebracht wurde, konnte dies nur geschehen, indem ein dabeistehender Ritter den Heinrich, welcher schon unten lag und gewiß geliefert war, bei den Beinen hervorzog, und ihn auf den Peter legte. Nun konnte dieser erst vom Bruder erstochen werden. Artlich ist es in einer nicht unebenen Komödie, wenn ein sicherer Stefano auch bei den Beinen den Trinkulo unter dem Mantel eines Mondkalbes hervorzieht, und ihn so als Menschen und Bekannten erklärt und autorisiert. Aber in beiden Fällen weiß ich nicht so ganz gewiß, ob Vieh, oder Mensch gewonnen habe; denn Peter hatte bei seinem Schlimmen viel Gutes, und Trastamar bei manchem Guten viel Schlimmes; und noch gefährlicher stellt sich die Frage, ob Trinkulo, oder Caliban das dummere Tier ist. Bei solchen starken Fällen hat die Weltgeschichte noch nie etwas gewonnen. Kehren wir es aber ganz um, und setzen, wie viele getan, statt Menschen[526] Engel: o so hebt die konfuseste aller Konfusionen nun erst an! Muß ein Engel, wie der Finger des lebendigen Direktors in Körper und Kopf seines hölzernen Polichinell puppenspielend arbeitet, der Engel, eine erniedrigte Seele, ebenso in dem Gehäuse von Fleisch und Bein und Blut und Schleim und Gehirn und Schmutz hantieren, kann alles, was man in uns das Göttliche, Edle, Unsterbliche nennt, nur so sichtbar und handgreiflich und bewundernswert ausfallen: so möchte ich mir künftig einmal die Freiheit nehmen, meinen Schöpfer zu fragen, ob denn das Satire sein solle, uns so gar gröblich den Esel zu bohren; es rieche und schmecke etwas nach einem schlechten Scherz. Jedes gute, oder schlechte Werk rezensiert sich selbst. Darum hauen, stechen und schießen sie in unsern vielbeliebten Kriegen ineinander hinein, darum rauben sie und morden uns Geld und Gut, darum treten sie einander hohnlachend mit Füßen, und alles mit Recht, denn, wahrlich, wahrlich, die Kreatur ist nichts wert, und man kann sich an ihr nicht versündigen.

O Du, mein Heiland! Du, großes Du, Du hast es freilich anders gepredigt. Die Liebe hätte ja keinen Sinn; Erbarmen und Mitleid wären ja nur Aberwitz, wenn vom höchsten Gott bis zum lahmen ärmsten Bettler hinab sie sich nicht des tiefer Gefallenen, des Verirrten, des Leidenden und Preßhaften, des Hungernden des an der Liebe Verzweifelnden, der Seele, die sich im Schlamm wie der Regenwurm, ringelt und ängstigt, erbarmten, sie emporhöben, sie, wie jene Heiligen den Aussätzigen, an ihre Brust nähmen und erwärmten. Und was hätte denn diese göttlichste Liebe zu tun, wenn nicht dieses? Wäre nichts Schlechtes, Verächtliches, Armseliges da, so hätte sie ja kein Handwerkzeug, um damit zu arbeiten und aus dem elenden kantigen Brett das teure, kostbare vergoldete Schränkchen, in dem nachher Goldpokale stehen, zu hobeln und fein und mit recht mitleidigem Erbarmen zu schnitzeln.

So nimmt der Mensch, er selbst Materie, Schleim, Schmutz Lehm, Knochen und Erde, die sogenannte Materie, nicht bloß in der Gestaltung seines Bruders, und daß er diesen nährt und kleidet, in Schutz. Durch Arbeit, Tätigkeit und Schweiß ist diese Anstrengung eine fortwährende Erlösung des Staubes vom Tode. Des Unendlichen Allgegenwart wird kenntlicher, und durch den Hammer und Meißel, Pinsel, Pflugschar und Sense, Federkiel, Druckerpresse und Nadel drückt der Mensch allem Unlebendigen den Bruderkuß auf und spricht, wie der Schaffende ehemals: »Habe eine Seele!«[527]

Aber so denkst Du gar nicht, und darum kommt mir wieder das Zittern an, da ich zufällig von Kuß spreche. O welcher Augenblick! Gewiß ist in diesem Moment durch die Magie meines Innern irgendwo ein Geist jung oder geboren worden, und schläft noch in einer Blume Deines kleinen Gartens, und indem Du nun vorbeigehst und meinst, Du erfreuest Dich nur etwas mehr an der hellen Färbung und lieblichen Düftung, ist die leichte Wonne Dir entstanden, weil dieser aufkeimende Geist in Dich schlüpft, und nun Dein nächstes liebes Kind wird, das wohl schon im Embryo in Dir die Wohnung dem kleinen unsichtbaren Sohn meiner Entzückung zubereitet hat. So steht es wahrscheinlich um die sogenannte Ehe und Treue. Diese Magie der Liebe ist allmächtig. Und so wäre ich neulich fast gestorben, aber Du fühltest, Du wußtest nichts davon. Liegen wir doch auch so in unserer närrischen Blätterknospe, und ich dehne mich nun schon siebenundsechszig Jahre in meiner Hülse, und schlage bald dieses, bald jenes Blättchen um, um mit meinen blöden Augen hinauszuschauen, und irgend etwas zu ergattern, was mir über die Bedeutung meines rätselhaften Gefängnisses recht eigentlich einen Aufschluß geben könnte; aber immer vergebens. Ein entzückter Kuß eines Seraphs, der sich verlobte, und der die Magisterwürde eines Cherubims erhielt, hat mich Seele nämlich so freudiglich und magisch erzeugt – und nun muß ich immer noch auf das dumme Paar warten, das jenen Embryo in ihrer Ehe pflanzt, und die dann vorüberwandeln, mich loben, damit ich in die neue keimende Frucht schlüpfe, um hier endlich sterben zu können, und dann in einem neuen Leben weiterzuleben.

Du verstehst mich aber gar nicht; Du willst mich auch nicht verstehen: das habe ich wohl in Deinem Kuß neulich gefühlt. Und warum? Du nicht mein Du? Nicht? Es wäre mehr als entsetzlich, denn es gibt für mich kein anderes in allen Erd- und Himmelsräumen.

Ja jetzt, das weiß ich nun ganz gewiß, liebe ich. Das ist die Liebe, die ich erlebt habe. Warum lebt sie mich nicht aus und schält mich weg aus dieser leeren Hülse? Allenthalben habe ich Rat und Trost gesucht, und habe auch jetzt bei den Dichtern meinen dürren Eimer in den Brunnen hinuntergetaucht, um meinen brennenden Durst zu löschen. Fast alle reden von Liebe, aber immer nur spielend, dahlend, ohne Gewissen und innerlichste Erlebung. Der Reiz begeistert sie, der farbige Saum der Abendwolke, der fast erlischt, indem man sich daran freut. Ja, ja, es ist so, die Menschen, auch in der scheinbaren Begeisterung, können[528] nicht über das Ich hinaus, und geraten zeitlebens nicht an das Du. Den Ovidium, den ich niemals in meiner Jugend gelesen habe, wollte ich mir zu Hülfe rufen; denn er hat einen eigenen berühmten Traktat unter dem Titel Remedium amoris elaboriert. Da kam ich gut an. Nicht einmal mein Sinn, geschweige mein Herz, mochte das Zeug gutschmeckend finden. Das Vieh, was des Abends in den Stall getrieben wird, sagt mir mehr und Lieberes. Alter Narr mit der langen Nase! wie hast du nur die Zeit an diese vielen unnützen Verse wenden können? Vielleicht geschah dir kein großes Unrecht, daß sie dich verbannten. Alle diese Lateiner – nur fatal und fatal. Sie kannten dich nicht; sie wußten vom Christentum nichts. Ja Saus und Braus, Wohlleben, Trunk, Zerstreuung, Kuß und Wollust – wenn das Leben ein Bacchanal ist und sein soll, dann sind sie im Recht. Aber die Leiden des jungen Werther! Ja, das ist empfundene und erlebte wahre Liebe! Aber grausam wird das Herz erschüttert und zermalmt. Er war jung, und der Dichter vielleicht jung, und ich Greis habe dieses Büchlein wie eine Offenbarung gefaßt und verstanden. Ach, werte Madame, hättest Du das Büchlein nur einmal gelesen! Doch was hilft 's, wenn Deine Seele nur nach dem Notwendigen und Vernünftigen dürstet? Das Salz ist nicht dumm geworden, aber Zunge und Gaumen haben nicht Geschmacksorgane. Warum soll ich denn noch weiter faseln? Es wird nicht anders, Madame, ich bin und bleibe

Dero verrückter Fülletreu – denn mit dem

Magister ist es auch vorbei.


Leonhard war zurückgekommen, und Elsheim sagte: »Eine sonderbare Korrespondenz! doch ist dieses zweite Schreiben schon gemäßigter und etwas besonnener, es deutet die nahe Genesung an.«

»Wollen wir jetzt den alten Mann besuchen?« fragte Leonhard. Elsheim war willig, und sie gingen durch die Stadt. »Wo führst du mich hin?« sagte Elsheim endlich, als Leonhard stillstand, und in ein großes Haus hineintreten wollte; »dies ist ja das Narrenspital.«

»Nicht anders«, erwiderte Leonhard; »aber folge mir getrost, es wird dich kein trauriger Anblick peinigen.« Sie stiegen die große Treppe hinan, und seitwärts öffnete sich jetzt ein ziemlich großes und helles Zimmer, dessen freie und unvergitterte Fenster auf den Garten führten. Elsheim hatte Mühe, beim ersten Anblick den alten Magister wiederzuerkennen. Sein blasses Gesicht,[529] von schneeweißen Locken geziert, erschien ihm viel edler, als damals; sein Blick war sanft und wie verklärt; in seinem stillen Lächeln schien der Ausdruck eines außerordentlichen Glücks und einer wohltuenden Beruhigung zu schweben. Um ihn her am Tische saßen Knaben und Mädchen; auch Franz, der Pflegesohn Leonhards. Alle erhoben sich, als der Baron eingetreten war, und dieser rief: »Ich muß nicht stören, geehrter Freund, sonst entferne ich mich wieder.« Der Alte reichte ihm mit dem Ausdruck anständiger Vertraulichkeit die Hand und sagte: »Keine Störung, Herr Baron, die Stunde war eben beschlossen.« Die Kinder erhoben sich alle, nahmen Abschied, verneigten sich vor dem Alten, und einige küßten ihm die Hand. Jetzt setzten sich die Freunde zu dem Greise nieder, und Elsheim sagte, daß er sich freue, ihn in so schöner Gesundheit und Munterkeit, ja fast verwandelt, nach einem Zeitraum von einigen Jahren wiederzufinden.

»Etwas wundern Sie sich auch gewiß«, sagte der Alte freundlich lächelnd, »mich allhier in dieser Behausung anzutreffen.«

»Ich kann es nicht leugnen«, erwiderte der Baron mit einiger Verlegenheit, »ich vermutete nicht, daß Sie gerade hier wohnten.«

»Dies eben«, sagte der Magister, »ist vor dem Grabe mein letztes Asyl. Werter Herr Baron, ich bin noch einmal in meinen allerletzten Tagen auf einer hohen Schule gewesen, und habe mich vor unserer werten Frau Leonhard als Doktor habilitiert und prostituiert. So habe ich mich denn in die Reihe der wahren Menschen inskribieren lassen, nachdem ich mein letztes Examen bestanden; aufweisen kann ich die Testimonia, daß ich viele recht bedeutende Narrheiten durchgemacht habe und erbötig bin, wenn es die Not erfordert, mich auch künftig nicht saumselig finden zu lassen. Doch hat man mich auch vielleicht pro emerito erklärt und mir alle Geschäfte abgenommen. Sie werden erfahren haben, daß mich damals der Genius erfaßte, der tief in unserm Innersten unsichtbar als Regulator sitzt. Nur in seiner Unsichtbarkeit kann er regieren. Wenn es so kopfüber geht, daß keiner seiner Befehle, die aus seinem Cabinete ausgehen, respektiert wird; wenn er sich selbst und sein majestätisches Angesicht zeigen muß, so erzittern alle Kräfte und angestellten Diener so vor seinen furchtbar mächtigen Augen, daß sie ganz ohnmächtig erlahmen, und niemals wieder zu brauchen sind. So wird der Mensch, was seine Nebengeschöpfe toll und rasend nennen. In der Jugend sendet dann jener Regulator oft Zorn, Verdruß, Reisen,[530] Arbeit, Ermüdung, Reiten toller Pferde, Leidenschaft und Genuß der Liebe, um die meuterischen Kräfte zu bändigen, sie durch ein Spielwerk zu zerstreuen und ihren Blick nach außen zu richten, damit er unvermerkt die Herrschaft wieder an sich nehme. Bei dem jungen Werther mißlang aber auch alles, und so steht es denn auch mit einem Alten sehr schlimm, der schwach und einsam auf seinem Stübchen zwischen wenigen Büchern den Spektakel in sich erleben soll. So schlug ich denn damals, als ich meinen Brief eingegeben, um mich; ich wollte mich ermorden, ob ich gleich in diesem Geschäft als ein frommer Christ gar keine Übung hatte; kurz, ich nahm keine Raison an, denn jenes Haupt des Unsichtbaren war mir wirklich sichtbar erschienen. Aber ein verständiger und menschenfreundlicher Doktor, welcher auch in der Psychologie nicht unerfahren war, brachte mich hieher, und als er durch Härte und Freundlichkeit meine Tobsucht überwunden, bin ich denn nun durch ihn und Gottes Beistand und Güte so taliter qualiter hergestellt und gesund. Weil wieder Sanftmut und Demut in mir die Oberhand gewonnen hatten, so wurde ich hier einquartiert als ein stiller, friedlicher Revenant, der aus jener Gegend, wo die Räuber hausen und morden, zwar geplündert und geschlagen, aber doch lebend wiederkehrte, zwar recht mürbe gemacht und matt, gar nicht kampflustig mehr, aber gesammelt und in sich gekehrt. Und so hat man mir denn auch erlaubt, meine Lieblingsbeschäftigung wieder vorzunehmen, und die lieben Kleinen im Schreiben, Rechnen, in der Grammatik und im Lesen zu unterrichten. Sie ahnden nicht, meine Herren, welche Wonne das ist, so mit Kindern umzugehen, die Fragen zu hören und zu beantworten, die Neugier zu sehen, ihre Innigkeit und Freundschaft zu mir. Glauben Sie mir, meine Freunde, allnächtlich werden die guten Kindlein, die nämlich, die nicht mutwillig von ihren Eltern verdorben werden, von zarten und kleinen Engeln besucht, die ihnen in den Träumen Saft und Gewürz von den Früchten des Paradieses einflößen und einträufeln, und so duftet mir aus Rede und Gesinnung ihrer Seelen Ruch des Paradieses entgegen. Daß ich wieder Unterricht in unserer heiligen Religion gebe, hat man mir nicht bewilligen wollen, und ich kann diese Einschränkung nicht tadeln; denn da mein Geist eine Zeitlang abgefallen war und rebellierte, so ziemt es sich nicht, daß ich vom Ewigen und seiner Offenbarung spreche und lehre; es sei genug, daß ich ihn still anbete und um Vergebung bitte.«

Elsheim betrachtete und hörte den alten Mann mit Verwunderung. Ein so friedliches Genügen, ein so behaglicher, ruhseliger[531] Ausdruck war ihm noch in keiner Physiognomie erschienen. »Sie kommen also jetzt nicht zu unserm Freunde Leonhard?« saget er dann, um nur etwas zu sprechen.

»Nein, mein verehrter Herr Baron«, erwiderte der Alte. »Ich glaube, jetzt endlich ein gesetzter Mann geworden zu sein; aber wer kann wissen, ob ich in einem unseligen Augenblick doch nicht noch einmal über die Stränge schlüge; denn jene Kobolde, die unser Leben stören wollen, sind unermüdlich in ihrer Geschäftigkeit, und blasen selbst aus der toten Asche, geschweige wo sie noch Kohlen merken, das Feuer auf. Ich weiß auch jetzt, daß die Frau Leonhard deswegen so liebenswürdig ist, und daß ich sie auch des wegen so innigst geliebt habe, weil sie mich und mein Wesen, vollends mein philosophisches Delirium nicht verstanden hat und niemals verstehen wird. Oh, über das Verstehen! Was ist es denn? Wo hebt es an, wo hört es auf? Wenn mir eine Frucht, die ich speise, gedeihen soll, so muß sie mir nicht gerade widerstehen; sie reizt mein Auge, sie ist meinem Gaumen wohlschmeckend; nun wirke sie kühlend und stärkend auf meine inneren Organe, und wieviel wird noch erfordert, gearbeitet, gekämpft und abgesondert, bis sie wahrhaft verdaut ist und echter Nahrungsstoff geworden! Wenn wir sie gleich im allerersten Augenblick verständen, und sie uns gleich Kraft und Nahrung gäbe: was hätten wir daran zu verdauen, um sie uns durch dieses künstliche und geheimnisvolle Manöver anzueignen? Auch als Unsterbliche werden wir ewig lernen, und niemals damit zu Ende kommen. Oh, es ist eine unendliche Wonne, immerdar in sich etwas Neues zu erfahren, und zum erst Begriffenen hinzuzulernen. Hat man eine weite Bahn durchlaufen, so kehrt man oft mit Erstaunen zum allerersten Anfang zurück, und freuet sich, wenn sich an diesem wieder Neues entdecken läßt. Sie wird mich in jenem Geisterleben näher kennenlernen und mich allgemach verstehen, und ich werde dann ihr hiesiges Nichtverstehen immer mehr begreifen, und dabei lernen, daß in dieser Unfähigkeit doch wieder ein tieferes Geheimnis lag, als ich ergründet zu haben glaubte. Denn nur das Ungleiche kann sich verstehen und lieben. Sie ist mir freundlich gesinnt; täglich läßt sie mich durch Franz grüßen, der ihr meinen Gruß zurückbringt; dieses genügt. Diesen lieben Knaben werden Sie freilich jetzt auf das Gymnasium senden, was auch notwendig ist; er wird mich aber doch noch zuweilen besuchen können.«

»Gewiß«, sagte Leonhard, »und Sie wissen es ja, ich selbst komme auch von Zeit zu Zeit gern zu Ihnen und freue mich,[532] wenn es Ihnen wohlgeht, und Sie mit Ihrer Lage zufrieden sind.«

»Ich kenne Ihre Freundschaft«, sagte der Alte, indem er Leonhard die Hand gab; »ich weiß auch, daß es Ihnen was Bedeutendes kostet, daß Sie mich alten Verliebten als eine merkwürdige Rarität hier hinein gestiftet haben. Da sitze ich nun als ein Denkmal vom Zorne Amors, dessen Herrschaft ich in der Jugend stets verlachte.«

»Ich möchte Ihnen wohl etwas zeigen«, fing Leonhard wieder an; »aber als ich Ihnen vor einiger Zeit einmal erzählte, daß ich in Nürnberg den alten Alfert, Ihren Jugendfreund, gefunden habe, wurden Sie so traurig und bewegt, daß ich jenes sonderbaren Zusammentreffens niemals wieder erwähnt habe.«

»Damals war ich noch etwas unwirsch«, sagte der Magister; »aber nun müssen Sie mir recht bald alles aufs umständlichste erzählen, was Ihnen mit dem lieben Menschen begegnet ist. Ei, was war das ein munterer Bursche! Was man einen Springinsfeld nennt! Doch was wollten Sie mir zeigen?«

»Sehen Sie«, sagte Leonhard, »dieses alte Exemplar des alten Andreas Gryphius, was Sie damals in Ihrer frohen Zeit nach Jessen mitnahmen, um es dem Vater zu schenken.«

Der Alte griff hastig nach dem Buche und schlug es auf. Dann betrachtete er lange die Zeilen seiner jugendlichen Handschrift und seinen zierlich unterzeichneten Namen.

»Wollen Sie es behalten«, fragte Leonhard, »als ein Andenken jenes Jugendfreundes?«

»Nein«, sagte der Magister; »er hat es Ihnen verehrt, und wenn Sie so mein Freund sind, wie ich es mir wünsche, macht Ihnen dies Buch, als eine Kuriosität aus meinem Lebenslauf, gewiß mehr Freude, als mir selber. Ich war dazumal zu sehr betört. Den Poeten selber möchte ich auch nicht lesen, denn Sie haben mich seitdem durch Ihren Bücherschatz allzusehr verwöhnt. Ja, Schiller und Goethe sind deutsche Poeten, und der Shakespeare ein echter Mann; und daß unser lieber Schiller so vor ganz kurzer Zeit, nachdem ich seine Werke erst hatte kennen lernen, so früh hat sterben müssen, hat mich innigst betrübt.«

»Aber, lieber alter Herr«, sagte Elsheim, »werden Sie mich denn nicht einmal besuchen, da ich Sie so innig hochachte und liebe?«

»Verzeihen Sie mir, Herr Baron«, entgegnete der Alte, »wenn ich Ihnen mit einem bestimmten Nein entgegne. Ich überschreite ebensowenig meinen Bann- oder Burgfrieden, wie jener Götz[533] von Berlichingen, welchen Sie neulich auf Ihrem Schloßtheater aufgeführt haben.«

»Aber gehen Sie gar nicht aus?« fragte der Edelmann; »genießen Sie die Luft gar nicht?«

»Doch, doch«, antwortete jener; »hier in diesem Garten lustwandele ich, sooft ich nur will, denn ich bin frei und an keine Stunden, wie die übrigen, gebunden. Aber ich gehe auch oft mit diesen – und, sehen Sie, mein Herr Baron, jetzt ist ihre festgesetzte Zeit, da wandeln die seltsamen Philosophen schon auf den sonnigen Plätzen und in den Baumgängen.«

Elsheim warf einen Blick in den Garten und sagte dann: »Aber, Liebster, diese da, Kranke, Elende und Törichte –«

»Nun freilich«, sagte der Magister laut lachend, »sterbliche Menschen, wie unser Falstaff sagt, sterbliche Menschen! – Die Brüderschaft können wir doch nicht verleugnen. Kommen Sie manchmal hieher zu mir, Herr Baron, wenn Sie mich liebhaben; Sie sehen, mein Stübchen ist hübsch und vom Gebäude dort entfernt, und wenn Sie jene Spekulanten nicht selber aufsuchen, sollen Sie hier niemals von ihnen gestört werden.«

Sie nahmen Abschied, und unterwegs sagte Leonhard: »Nun? Ist der Alte nicht auf seine Weise glücklich?«

»Gewiß!« erwiderte der Freund; »er mußte wohl auch diesen sonderbaren Umweg machen.«

»Ja wohl«, sagte Leonhard, »eben er, der damals so herzhaft an meinem Tische seinen unbedingten freien Willen verteidigte.«

»Sonderbar immer«, sagte Elsheim, »daß er noch Kinder unterrichtet, und daß du den Franz hieher geschickt hast.«

»Kann es denn schaden«, erwiderte Leonhard, »wenn der Knabe es schon in früher Jugend lernt, daß ein achtungswürdiger Mann, den er lieben muß, hier beherbergt ist?«

Sie standen jetzt auf dem großen Platz. »Ich habe eine Bitte an dich«, sagte Elsheim, »laß mich heut mittag mit dir essen, ganz, wie du alltäglich lebst mit deiner Familie.«

Leonhard sah ihn ernsthaft an und sagte dann: »Lieber, ich weiß in der Tat nicht, ob dir das passen wird. Du denkst vielleicht, ich bin allein mit Frau und Kind. Nein, ich habe es nie über mich gewinnen können, wie ich sehe, daß es jetzt andere wohlhabende Meister eingeführt haben, daß sie ihre Gesellen und Lehrburschen außerhalb des Hauses essen lassen, oder ihnen doch in einem anderen Zimmer für sie allein den Tisch decken. Nein, beim Mittagstisch lebe ich ganz mit meinen Leuten, ganz als Bürger und ihresgleichen. Sie genießen mit mir aus einer[534] Schüssel, und nur des Abends lasse ich sie meist allein für sich selbst. Darum nahm ich auch neulich deine Einladung nur ungern an, mit dir zu essen, um meine Hausordnung nicht zu stören. Du wurdest also die Gesellen bei mir sitzen finden, und ob sie mich gleich respektieren, so spricht doch jeder mit, so wie es ihm gut dünkt; wir reden von den Arbeiten, sie erzählen oft von ihren Schicksalen und Erfahrungen, Neuigkeiten des Handwerks, die sie auf der Herberge hören. Ich suche, ohne den Altklugen zu spielen, ihre Gedanken zu berichtigen und immer bei ihnen das Ehrgefühl zu wecken, das richtige, welches dem Charakter des echten Bürgers zum Grunde liegen muß. Darum lieben sie mich aber auch und würden, das weiß ich, ihr Leben für mich wagen. Auch hält kein Liederlicher oder Unordentlicher lange bei mir aus. Die Lehrburschen dürfen nicht sitzen; auch dürfen sie nur antworten, wenn sie gefragt werden. Du würdest auch, Lieber, keinen Wein erhalten, denn diesen trinken wir an unserm Tische nur an Festtagen; und keiner, weder ich, noch die Frau oder Franz (wenn nicht eins krank ist), dürfen etwas genießen, was uns die andern beneideten, oder wodurch sie sich zurückgesetzt fühlten. Nach Tische, in meiner Stube, oder auf dem Hofe, können wir uns am Weine laben.«

»Das ist ja gerade alles so, wie ich es wünsche«, sagte Elsheim. »Es ist sehr schädlich, daß seit lange die sogenannten höheren Stände so völlig abgesondert vom Bürger und Handwerker leben, daß sie diesen nun gar nicht kennen, und auch das Vermögen verlieren, ihn kennenzulernen. Nicht nur geht das schöne Vertrauen verloren, wodurch sich Höhere und Niedere verbinden und einfügen würden, welches eben aus dieser Kenntnis Stärke und Kraft erwirkte; sondern der Vornehmere kommt nun auf den törichten Wahn, daß seine Art und Weise des Haushalts, die nichtssagende Etikette, die er einführt, sein nüchternes Leben mit den Bedienten und Domestiken ein besseres, anständigeres sei, und diese Torheit verdirbt nachher den Bürgerstand. Nicht nur der Gelehrte, sondern auch der wohlhabende Handwerker will nun die adlige Nüchternheit bei sich einführen, die kalte Entfernung von der dienenden Menschenklasse, den leeren Schein, der in Bequemlichkeit, wahrem Genuß und frischem Leben immerdar die Wirklichkeit vertreten muß. Ja, es kommt dahin, daß der Bürger sich alles dessen schämt, was, wenn er seine Stellung begreift, reelle Vorzüge sind, um die ihn der verständige Adlige beneiden möchte.«

»Wenn du so denkst, so folge mir«, beschloß Leonhard; »unserm[535] Emmrich hat es schon einigemal bei uns recht wohlgefallen.«

Sie setzten sich um den runden Tisch. Die Frau saß links neben dem Meister, und bei dieser Elsheim, der heute Franzens Stelle einnahm. Rechts beim Meister saß der älteste Gesell, der Hannoveraner; der heitere Martin war seitdem hinaufgerückt und der zweite geworden; dann folgten noch vier Gesellen. Beim letzten stand der älteste, schon hochgewachsene Lehrbursche, welcher in der künftigen Woche zum Gesellen gesprochen werden sollte, und neben diesem standen fünf kleinere, deren letzter demnach an der Tafelrunde der Nachbar des kleinen Franz wurde, der als der Sohn des Hauses auf seinem Stuhle saß. Eine reinliche Magd gab das Geschirr und wechselte die Teller; die Meisterin legte vor, aber den Braten zerschnitt der Meister. Elsheim ergötzte sich an diesen Einrichtungen, und unterhielt sich bei seiner fröhlichen Sinnesart besser, wie in mancher vornehmen Gesellschaft.

Es war nahe daran, daß der Hannoveraner seinen Abschied nehmen und in seine Vaterstadt zurückkehren wollte, um sich dort als Meister zu setzen; darum behandelte ihn Leonhard schon im voraus mit mehr Achtung. »Ich erzählte dir damals, ehe ich abreisete, mein Gottfried«, sagte Leonhard, »von jener sonderbaren Erscheinung oben im tirolischen Gebirge, welche – ein Zwerg, oder was es war – durch Wirtschaften mit Tonnen und Fässern einen alten Gesellen, mit welchem ich wanderte, völlig um seinen Verstand brachte.«

»Ich weiß, Meister«, sagte Gottfried; »Sie sagten noch, Sie wußten sich das Ding nicht zu erklären.«

»Seitdem«, fuhr Leonhard fort, »habe ich die Erklärung gefunden, und ich will sie dir und Martin, der damals auch zugegen war, mitteilen, damit ihr nicht doch etwa meint, es könne ein Spuk gewesen sein.«

Martin sagte: »Unser Magister stritt an dem Tage noch viel mit dem Meister, und behauptete immer, es gäbe keine solche Gewalt in uns, die auch den Menschen solchergestalt beherrsche, daß er nichts dagegen vermöge. ›So?' meinte der Meister, der Alte aber bestand fest auf seinem freien Willen, und daß man alles könne, was man wolle. Nachher, als sie ihm die Zwangsjacke anzogen, muß er doch wohl gefühlt haben, daß er im Irrtum war.«

»Das war unchristlich, Martin«, sagte der Meister, »und war selber rot geworden. – Da Elsheim, der die Geschichte nicht kannte, darnach fragte, so trug sie Leonhard noch einmal ganz[536] im Zusammenhange, wie damals, vor, und erzählte nachher den Schluß und die Auflösung (ohne jedoch den frommen Lamprecht zu nennen), wie er sie in Nürnberg erfahren hatte.«

Man stand vom Tische auf, und Leonhard ging mit der Frau, die bei dem schönen Wetter jetzt schon ein Stündchen im Freien sein durfte, in den Hof; Elsheim folgte. Hier setzten sie sich unter dem schönen Nußbaum; der Kaffee ward gebracht und eine Flasche guten Frankenweins. Nicht lange, so ward durch Dorothea und Emmrich die heitere Gesellschaft vermehrt.

»Setze dich, Gevatter Elsheim«, rief Leonhard in fröhlicher Laune, »du siehst gewiß, daß man auch auf unsere beschränkte Weise ein glückliches Leben führen kann.«

»Wer möchte daran zweifeln, lieber, teurer Gevatter?« erwiderte Elsheim. »Wir sind Freunde und Brüder, und in der Hauptsache immer derselben Meinung.«

»Warum«, fing Friedrike an, »verteidigtest du heute mittag deine Meinung gar nicht, daß im Menschen oft ein Wunsch, eine Narrheit, oder dergleichen sei, die stärker wirken, als daß er dagegen mit Glück und Erfolg arbeiten könne?«

Elsheim nahm das Wort, da Leonhard fast verlegen schien und sagte: »Schöne Frau und angenehme Gevatterin, ich habe seitdem leider nur zu sehr die Erfahrung gemacht und die Überzeugung gewonnen, wie sehr Ihr Mann im Recht ist, wenn er auch jetzt nicht mehr seinen Satz verteidigen und mit Disputieren hindurchführen will. Wir sind schwache Wesen. Vielleicht entdeckt in dieser Schwäche eine edle, uneigennützige Liebe unsere Stärke. Möglich, daß wir uns selbst, unsere Eigentümlichkeiten nur finden können, indem wir sie scheinbar auf eine kurze Zeit verlieren.«

»Das mag alles so sein«, sagte Friedrike; »für mich aber ist es zu gelehrt. Das Umständliche und Künstliche ist vielleicht nie das Rechte, das Nächste wenigstens gewiß nicht.«

»Vieles«, sagte Emmrich, »worüber wir jetzt sprechen, und was sich so ganz in das Unbestimmte im Reden verliert, würde vielleicht, in einer Erzählung vorgetragen, ein anderes. Denn das ist der große Zauber der Kunst, daß in ihrer Form, in Gestalt und Bildung auch das Dämmernde, Sophistische und Unsichtbare dadurch, daß es in sichtliche Gestalt tritt, ebensowohl philosophisch begreiflich wird, als es sich poetisch faßlich darstellt.«

»Wenn ein echter Philosoph und ein wahrer Poet es auffaßt«, sagte Elsheim, »oder Gemüter, die fähig sind, oft ohne es zu wissen, beides zu werden.«[537]

»Still!« rief Dorothea, »mir gefällt am meisten dies Hobeln, Lärmen und Hämmern aus der Ferne. Wie hübsch ist das Gefühl hier, daß ein jeder Schlag, den ich vernehme, etwas einbringt; daß der Gewinn wieder das Gewerbe vergrößert; daß alles, was gesprochen und gedacht wird, in jenes Kapital hineinströmt, das die Wohlhabenheit befördert, die wieder das Glück und die Zukunft der Untergebenen begründet, damit sie dereinst in dieselbe Stelle treten können.«

»Recht hübsch«, sagte Emmrich; »viele Leute würden aber glauben, daß das, was Sie eben gesagt haben, aller Poesie geradezu entgegenstrebe, und diese durchaus vernichten müsse.«

»Poesie!« rief Dorothea; »ei, so müßten denn auch einmal Dichter kommen, die uns zeigten, daß auch alles dies unter gewissen Bedingungen poetisch sein könnte.«

Die neuen Bretter dufteten; der Nußbaum bewegte sich in seinen Zweigen, von einem leisen Winde angerührt; die Werkstätte klapperte und rauschte; der Kettenhund Mufti schmiegte sich zu Friedrikens Füßen, und die große Cyperkatze saß auf Franzens Schoß, welcher das Tier streichelte. Frühlingsschwalben flogen hin und wider; jetzt hörte man den Gesang der Wollenspinnerin aus ihrem Dachstübchen von der andern Straße herüber, die jenseit des kleinen Gartens lag, und Friedrike sagte, indem sie sich an das Ohr Leonhards neigte: »Sieh, Mann, heut ist alles ebenso, wie damals, als ich dich aus deinen Träumen weckte; aber du bist anders, und darum ist auch der Nachmittag jetzt anders, und du hast deine Freunde, alte und neue, und bist Vater, und mein trauter Gatte, und fröhlich und in deinem Gott vergnügt in täglicher Arbeit und Ruhe – und jenes Gespenst, jener Baugeist ist nun auch verschwunden. Nicht wahr?«

Sie ging in ihr Zimmer, indem sie Albertinen, die über den Hof schritt, herzlich umarmte. Diese folgte ihr, und die Freunde blieben noch unter heitern Gesprächen beisammen.

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Band 4, München 1963, S. 509-538.
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