Vierter Abschnitt

[365] Schon am frühen Morgen war alles im Schlosse lebendig. Die Herrschaften wollten eine starke Tagesreise machen, und deshalb brachen sie so zeitig auf. Noch beim Abschiede sagte die Mutter zu Elsheim: »Es kann sein, mein Sohn, daß ich zwei Wochen ausbleibe, um einmal wieder nach langer Zeit mit meiner Schwägerin zu leben und mich mit ihr zu verständigen. Auch bin ich es ihr und der Fürstin schuldig, deutlich zu zeigen, daß ich mit dieser deiner Extravaganz nicht einverstanden war. Wie die jetzige junge Welt denken mag, ist mir freilich unbekannt geblieben, aber wir müssen dir wenigstens so viel zeigen, daß man mit uns, der älteren Generation, welche bessere Zeiten gewohnt war, nicht so umgehen darf.«

Elsheim kehrte verdrüßlich und verstimmt auf sein Zimmer zurück. So war das Fest geendigt. Die Erhebung des Gemütes, die Erneuung seiner Jugend, alles, worauf er sich seit Jahren gefreut, hatte nun eine solche Wendung genommen, die ihn demütigte und ihm alle Laune raubte. Er zürnte auf sich, daß er der Mutter darin nachgegeben hatte, diese übervornehmen und versteinerten Gäste einzuladen; nicht minder aber auf jenen ältern Jugendgenossen, der ihnen allen aus barockem Eigensinn und pedantischer Roheit die Freude verdorben hatte. Dieser hatte sich erzürnt auf sein Gut begeben, indem er, der alle verletzt und beleidigt hatte, den Gekränkten spielte. Die Mutter, die in ihrer Verwandten und den hohen Gästen tief verletzt war, verließ in ihrem vorgerückten Alter ihre behagliche Wohnung, um jenen Hochfahrenden eine Art von Genugtuung zu geben. – Elsheim schloß sich ein und wollte wenigstens vor dem Mittagstische niemand sehen und sprechen.

Der alte Joseph brachte dem jungen Tischler das Frühstück auf sein Zimmer, was nur selten geschehen war, aber jedesmal als ein Zeichen diente, daß der Baron auf irgendeine Weise abgehalten sei und allein sein wolle, oder schon im Freien umherwandle. Joseph war schon frisiert und im Frack, und die Spitzenmanschetten fielen länger über die dürren Hände hinunter, als an anderen Tagen. »Bei der frühen Abreise«, sagte er feierlich, »mußte ich[365] mich schon beizeiten schmücken, weil ich mit eigenen Händen den Damen, sowie dem Herrn Reichsgrafen in ihre Wagen half.«

»Ach! bester Herr Professor«, sagte er nach einiger Zeit, »ich habe diese Nacht nicht viel schlafen können, denn ich habe viel weinen müssen. Glauben Sie mir nur, diese Begebenheit wird im ganzen Lande eine ungeheure Sensation machen. Die Herrschaften lassen es sich nicht ausreden, daß die abscheuliche Tirade allein auf sie gemünzt gewesen sei, und nun scheint es ihnen eine ausgemachte Sache, daß der Herr Baron Mannlich ein giftiger, eingefleischter Jakobiner sei, der durch dieses Motto oder diesen Unsitten-Spruch den ganzen Adel habe beschimpfen und erniedrigen wollen. Die skandalöse Anekdote kommt nun an den Höfen herum und wird sehr verschiedentlich ausgelegt werden. Zwar sind in unsern Jahren die Jakobiner völlig abgeschafft, und man will sagen, sie seien völlig eingegangen; aber um so schlimmer, wenn man nun auf die Vermutung kommt, daß sie in unserer Familie ganz von neuem wieder aufschießen. Nein, dergleichen hätte unser junger lieber Herr vermeiden sollen. Ach, der alte selige Herr Vater! Wenn er hätte voraussehen können, daß dergleichen hier in seinem alten ehrwürdigen Schlosse sich zutragen sollte! Sehen Sie, lieber Herr Professor, das war so recht ein Mann nach dem Herzen Gottes. In seinen letzten Jahren wollten sie ihm nachsagen, er neige zu den Herrnhutern hin; es war aber wohl nur, weil er über alles in der Welt Ruhe Anstand und Ordnung liebte. Still mußte es hergehen; alles Geräusch war ihm fatal, außer es mußte denn unentbehrlich notwendig sein. Kein rauhes Wort wurde im ganzen Hause gehört, noch weniger Schimpfen und Fluchen; das Gemeine, Triviale und Pöbelhafte war ihm in der innersten Seele verhaßt. So kam es denn, daß sich alle Dienstleute mehr oder minder nach ihm bildeten und figurierten, wie das wohl in allen Häusern geschieht, wo die Dienenden nicht oft gewechselt werden. Ich schwöre Ihnen beim Himmel, seit funfzig bis sechszig Jahren ist selbst im Stalle oder bei unsern Viehhirten jene liberale Sentenz nicht gehört worden, die der Herr Baron im Rittersaal, in Gegenwart der vornehmsten Damen, sich zu erlauben beliebten. Ich habe es oftmals bedenket und nachher auch bedacht und bin endlich überzeugt worden daß wir höchst traurigen Zeiten und Begebenheiten entgegengehen. Aber, was hilft's? Der Himmel lenkt am Ende doch alles selbst mit eigner Hand.«

Der Alte, gleich allen Dienern des Hauses, hatte großes Vertrauen: zu Leonhard, und deshalb hatte er sich auch während[366] seiner langen Rede zu ihm gesetzt, was Leonhard sich schon vorlängst als ein Zeichen des Wohlwollens vom Alten erbeten hatte. »Ja«, fuhr er jetzt fort, »können Sie durch Ihren Einfluß unsern jungen Baron dahin stimmen, daß dergleichen nicht wieder geschieht, daß er von solchem neumodigen Treiben abläßt, so werden Sie sich einen Gotteslohn um ihn und uns alle verdienen. Er ist gut, aber er hat zu wenig vom seligen Herrn. Zwar wurden vor vielen vielen Jahren auch hier im Schloß einige kleine Proverbes gespielt, Hausherr und Gemahlin spielten auch selbst mit; das war aber alles so fein und manierlich, daß es eine Lust war mit anzusehen, ja daß es beinahe zu einer Erbauung gereichen konnte. Ich habe es vielfach durchdenket und auch durchdacht, daß es ein großes Unglück für die Weltgeschichte ist, daß es in den damaligen Zuständen und Verfassungen nicht hat bleiben können; das war alles sicher und begründet; Sitten, Feste, Religion, Adel, Bürger, Handwerker, alles, was man nur nennen kann, hing, wie in einer gutgeordneten Bildergalerie, jedes in seinem schönen festen Rahmen; zu jeder Gesinnung gab es im Katalog gleich Nummer und Erklärung. Aber jetzt ist die ganze Galerie durcheinandergeworfen, die Rahmen sind abgerissen, viele Bilder stehen auf dem Kopf, die besten sind umgekehrt an die Wand gelehnt, daß kein Mensch sie finden kann, und der Dummkopf und rohe ungebildete Mensch läßt sich nun von den Meisterwerken nicht mehr imponieren, er weiß sie nicht zu achten, weil die glänzenden Rahmen fehlen, und alles wie Kraut und Rüben durcheinanderliegt.«

Leonhard ergötzte sich an diesem Geschwätz, und, um den Alten noch näher kennenzulernen, sagte er jetzt »Lieber Herr Haushofmeister, schon neulich wollte ich Sie darum befragen, aber wir wurden gestört – was machen Sie für einen Unterschied, wenn Sie sagen: ›Ich habe es gedenket und gedacht?‹«

»Haben Sie das bemerkt?« sagte der Alte schmunzelnd und mit dem Ausdruck der liebenswürdigsten Freundlichkeit. »Werter Herr Professor, ich bin kein Gelehrter, Schriftsteller oder Sprachforscher, aber ich habe denn doch auch, wie der beste, meine eigenen Grillen und mir auf meinem Wege so manches herausgegrübelt. Wir gehen mit unserer lieben deutschen Sprache barbarisch um, machen nirgend Unterschiede, oder unterdrücken sie gar da, wo sie sich schon finden. Bedenken, Erdenken, Denken und bedenklich hängt genau zusammen; die Sache ist noch nicht fertig, und darum sage ich: Ich bedenkete, es ist bedenket. Aber wenn es nun fertig ist und unwiderruflich, dann heißt es: Es ist[367] bedacht. Merken Sie wohl? Fertig ist es, und ein Dach darüber gegen Sturm und Regen, nun kann es nicht wieder verdorben werden. Ein Gedachtes, Bedachtes kann niemals wieder etwas Bedenkliches werden. So ist es auch mit unsern Reimen. Sie würden uns niemals wohlgefallen, die ganze Dichterei hätte sich niemals auf diesen Widerton und den angenehmen Gleichlaut begründen können, wenn nicht ein geheimer Zusammenhang in Klang und Gedank wäre, so wie in Ranken, Schwanken, Danken, Wanken, Gedanken, Erkranken, Sanken, Banken.«

Leonhard lächelte und sagte: »Auch Gestank und Gedank reimt.«

»Richtig«, fuhr der Alte fort, ohne sich irremachen zu lassen: »es läßt sich auch oft mit Gedanken so lange hantieren und wirrwarren, bis das an sich Richtige endlich zum Widerwärtigen ausschlägt. Das erleben wir ja alle Tage.«

Leonhard war über den kleinen alten Mann in Verwunderung, dem er so viel Eigenheit und seltsame Philosophie nicht zugetraut hatte. Der Kammerdiener erriet seine Gedanken und sagte sehr freundlich, indem er in sein runzelvolles Gesicht noch mehr Falten hineinzog: »Ja, mein junger Herr Professor, wir haben so unser eigenes Wesen und mancherlei Vorstellungen. Man kann das Denken nicht immer unterlassen, wenn man auch sonst kein Wohlgefallen daran hat. Man ist oft allein, man ist krank, und Krankheit ist der allerbeste Schulmeister und auch so geduldig und so unermüdlich. Von jungen Leuten habe ich wohl manchmal gehört, wenn sie so die eigentliche Schulphilosophie studierten: Ja, unser Meister, sein Werk, sein System klärt uns doch über alles auf, über das ganze Leben, und es kann nichts vorkommen, was uns nach diesem herrlichen System nicht durchaus verständlich wäre. – Wissen Sie, wie mir das vorgekommen ist? – Sehen Sie einmal die hübsche Fußdecke an, hier die vielen Vierecke, Rosetten, Bogen, Punkte; wenn man so nachdenklich sitzt, so kann man sich alle diese Figuren bald in größere, bald in kleinere Verbindungen und Verhältnisse setzen. Nun mache ich ein Dreieck, jetzt ein Viereck, ein Achteck, einen Kreis, oder was ich will. Auch kreuzweis, rechts, links, oben, unten kann meine Phantasie eine regelmäßige Gestaltung herausschneiden, und immer paßt alles, und immer wieder wird etwas anderes daraus. Man kommt damit niemals zu Ende, wenn man sich Zeit dazu nehmen will. So kann man sich denn auch einbilden, alle möglichen Verhältnisse und Gestaltungen der Welt sind hier mit ihrem ganzen Verständnis niedergelegt und eingewirkt worden. Es ist,[368] wenn man krankhaft gestimmt ist, kein unebenes Spielwerk. Man kann auch über dem Einmaleins ebenso schwärmen und alle Rätsel und alle Auflösungen derselben in diesen Zahlenverhältnissen sehen. Ja, aber dann wieder die echte Philosophie! wie ich sie mir in meiner Unwissenheit vorstelle, so daß ich kein nachbetender Schüler werde, oder die Gestalten lege, die von selbst im Teppich in tausendfachen Verhältnissen sein müssen, wenn ihm geregelte Figuren eingewebt sind; – sondern wahrhaft denken lernen – das Dunkel in mir hell, die aufdämmernden Lichter zu Gedanken machen, aus dem Denken und Bedenken zum Ge- und Bedachten kommen: – das muß freilich ganz etwas anderes sein!«

»Sie sind ein lieber, kluger Mann«, sagte Leonhard, »und geschickt. Ich habe Sie neulich belauscht, als Sie dort in Ihrem Zimmer so lustig und wohlgemut die Geige spielten. Auch das Talent hat mich überrascht, denn ich hatte früher noch nie etwas davon vermerkt.«

»So?« sagte der Alte lachend; »ich treibe es auch nur für mich selber, zu meiner eignen Vergnüglichkeit. Zuhörer habe ich noch niemals gewünscht. Ja, Freundchen, diese liebe schöne Violine von Amati, und ein Buch, aus dem Spanischen in das Französische schon vor vielen Jahren übersetzt, machen meine Freude aus. Sie kennen die Geschichte wohl, sie heißt Don Quichotte, und mag im Spanischen wohl noch lieblicher sein. Ach, Mann! in dem herrlichen Buche finde ich für mich alles mögliche erklärt und abgehandelt; aller Aufschluß des Lebens liegt vor mir da, hell und klar und auf die lieblichste Weise in Schmerz und Ernst verkörpert und vernatürlicht. Ich fange mit Lachen und Freude an, wenn ich in dem Buch lese, und bin, wenn ich ein Weilchen innehalte, in die geistigen fernen Regionen, in Moral und Weltgeschichte versetzt und sehe und verstehe alles vollkommen, und mir ist in der Freude so wohl, so selig, möcht ich sagen, daß ich diesem Manne, dem Herrn Cervantes, die hellsten Lichtblicke meines Lebens zu verdanken habe.«

»Sie verstehen zu lesen, Freund«, sagte Leonhard freudig überrascht, »ich kenne und liebe Ihren Autor, und wenn ich ihn wieder lese, und vielleicht mit mehr Applikation, so werde ich dabei an Sie denken und Ihnen danken.«

»Sehen Sie«, rief der Alte, »Denken, Danken ist mehr ein Gleichlaut und kein Reim und hängt doch auch zusammen. – Ach, Herr Leonhard, was sind wir arme, gedrückte, schwache Menschen doch für Wesen! Und wie hat uns Gottes Güte so wunderbarlich[369] erschaffen! Wenn ich so meine Geliebte, wie ich sie immer nur nenne, meine Geige in den Arm nehme, und das liebe Ding lacht und weint und plaudert so anmutig unter meinem Bogenstrich – so bin ich im Himmel und weiß nicht mehr, ob ich die Violine spiele oder ob sie mich spielt. Es jauchzen und winseln im schäkernden Lächeln Gefühle und Worte aus mir heraus, die ich auf keine andere Weise sprechen, Gedanken, die ich nur so finden kann, und die doch ohne alle Vernunft höher als die Gedanken stehen. Glauben Sie mir, das ist die seltsamste Freude, was Unaussprechliches, sich so selbst zu finden, sich selbst so in Tönen und in Begeisterung, die von sich doch nichts wissen, kennenzulernen.«

»Bester Herr Joseph«, rief Leonhard, »Sie glauben nicht, wie sehr Sie aus meinem Herzen sprechen. Ich kann Sie versichern, unsere Geister sind sich nahe verwandt. Ich verstehe Sie ganz.«

»Kann wohl sein«, sagte Joseph, und gab dem jüngeren Freunde die Hand. »Fühlen Sie einmal«, fuhr er fort, »die erhöhte starke Hornhaut an diesen meinen Fingerkuppen; das kommt von meinem stetigen Violinspielen. Hart wie Horn die fein gehobenen Nervenpünktchen, in welchen die andern Menschen ihr leisestes Anfühlen zu haben glauben; und mit diesen Verhärtungen fühle ich auf den Saiten um ein Atom das Höhere und Niedere, ohne zu irren. Hier hinein vibriert der Klang und wird von hier und mit dem toten Bogen zu dem seelenvollen Ausdruck erhoben, zu der Weiche und Innigkeit, wie kein menschliches Organ es vermag. Ist es eigentlich nicht wunderbar?«

»Aber von welchem Meister«, fragte Leonhard, »waren nur die ganz wunderbaren Passagen, die ich Sie neulich mit der ungeheuersten Anstrengung spielen hörte? Eben vorgestern, als ich Sie belauschte, und Sie mir nachher verdrüßlich schienen?«

Joseph schwieg still, wandte sich ab und ging im Zimmer auf und nieder. Er schien verlegen, und Leonhard bemerkte, daß sein Antlitz röter war, als gewöhnlich. Dann stellte er sich vor Leonhard hin, sah diesen bedenklich an, und sagte: »Sosehr ich Ihnen auch vertraue, kann ich Ihnen doch, was diese musikalische Phantasie betrifft, keine Antwort geben.«

»Aber ich bitte«, sagte Leonhard, »die Sache wird mir um so wichtiger, da Sie zögern und wie in Verlegenheit erscheinen. Ich bin überzeugt, ich werde Sie verstehen, so wie mir alles, was Sie mir jetzt gesagt haben, nicht fremd und unverständlich ist.«

»Mag's sein!« rief der Alte nach einer Pause mit dem Ausdruck einer komischen Resignation; »was geht's mich am Ende an, wie[370] Sie von mir denken mögen? Wir sind alle Toren und gebrechliche Menschen, stellen wir uns auch, wie wir wollen. Ich gestehe, daß ich oft im Mondschein, oder am Frühlingsabend auf meiner Geige phantasiere. Die Melodien kommen mir dann von selbst, und ich habe mich auch wohl darüber betroffen, daß ich Tränen vergießen mußte. Vom Abt Vogler erzählt man, daß er sich zuweilen sein Fortepiano auf eine Bildergalerie hat nachtragen lassen, um in seinen Tönen den Ausdruck und die Bedeutung von schönen Gemälden wiederzugeben. Ich kann mir das wohl denken, obgleich man unter diesen Umständen und bei so vielen Vorbereitungen seiner Stimmung nicht gewiß sein kann. Ich möchte wenigstens vor Menschen und Zuhörern dergleichen nicht versuchen. – Das sind aber Phantasieen der innerlichen Wollust und des Wohlgefallens. Doch ist der Mensch oft wie gepeinigt, er weiß nicht wovon; es quält ihn etwas, er weiß nicht was. Als wenn hier in diesem Teppich unter den geregelten Figuren krumme, schiefe, willkürliche unterliefen, die mit diesen Sternen, Kreuzen, Rosen und Vierecken in gar keinem Zusammenhang ständen, und man peinigte sich vergeblich und immer wieder umsonst, auch diese tollen, ausschweifenden Linien und Fratzen in jene wohltuende und besänftigende Tabelle mit aufgehen zu machen. Es gibt so Stunden in unserm Leben, die dies Gleichnis nur etwas erklärt.«

»Gewiß!« sagte Leonhard, »und der geordnete Geist leidet vielleicht am stärksten von diesen Verstimmungen, wenn auch nur selten.«

»Meinen Sie?« fuhr Joseph fort. Also denn Tollheit mit Tollheit erklärt und vertrieben, Beelzebub durch Satan. Warum sind wir denn auch so gebaut! Was freilich, noch weiter getrieben auch jeder Verbrecher für sich anführen könnte, wovor uns Gott bewahren möge. Hier muß nun freilich der christliche Glaube Hand anlegen, und eine starke. Es regieren oft die kleinen Teufelchen in uns, aberwitzige, unheimliche, und die lassen sich durch Narretei beschwören und vertreiben. Auf meinem Zimmer habe ich einen sehr hübschen Tisch, die Platte ist ganz von Masern. Noch ein Geschenk vom Großvater des jungen Herrn, also uralt. Sehen Sie, in solchem Maser laufen nun lauter tolle Linien ohne alle Vernunft und Ordnung kreuz und quer durcheinander. Die Tugend und der Wert einer solchen Maserplatte besteht eben darin, daß kein Verstand in der Kuriosität, sondern Willkür und Aberwitz herrschen. Doch warum beschreiben? Was werden Sie denn ein solch gemasertes Wesen nicht kennen?[371]

»Gewiß kenne ich es«, erwiderte Leonhard, »ich sehe den Tisch leibhaftig vor mir.«

Der Alte sah ihn von der Seite an und lächelte; dann sprach er in seinem Eifer: »Also denn, wenn die Besessenheit mich ergreift und gar nicht wieder losläßt, so stelle ich mich dann mit meiner Geige vor diesen Masertisch, begeistere mich und spiele in tausend Variationen und rasenden Passagen alle die vermaledeiten krummen und zackigen Linien ab, als wenn es Noten wären. Immer fällt mir was Neues ein, und ich rassele und wüte so heftig, arbeite mich so ab, daß ich oft wie im Schweißbade bin. So kleide ich mich um, setze mich in den Sofa, lache recht von Herzen über mich und die Welt, fühle mich so recht behaglich und in meinem Innern wieder wie zu Hause und habe dann auf lange Ruhe. Sehen Sie, Bester, das war es, was Sie neulich mit angehört haben. Es war gewiß recht sonderbares Zeug.«

Leonhard war zuletzt sehr nachdenklich geworden und sagte endlich: »Ihre Erzählung und dieses Heilmittel erinnert mich an so vieles, was ich in mir selbst so oft habe bekämpfen müssen. Wohl dem, der in seiner geliebten Violine einen solchen Ableiter findet.«

»Jeder vielleicht auf seine eigene Weise«, antwortete Joseph. »Es ließe sich viel darüber sagen. Wenn ich so von den alten Mänaden und den bacchantischen Festen der Griechen gelesen habe, so dachte ich oft, diese und ähnliche Anstalten haben auch die tollen Geister in uns bändigen und austreiben sollen. Christliche fromme Männer haben es vielleicht durch ihre Geißelungen, Fasten und Kasteiungen versuchen wollen. Mancher tobt sich auf der Jagd aus, und in der Jugend fühlen wir es ganz deutlich, wie Springen, Laufen, Ringen und Balgen unserm Leben völlig unentbehrlich sind. Wer in meine Masern verfällt, oder sich gar freiwillig hineinversenkt, ohne sich mit der Violine wieder herauszuspielen, der wird wohl eben ein Schwärmer und Fanatiker, wovor uns denn alle der Himmel behüten wolle.« – Mit diesen Worten empfahl sich der Alte, und Leonhard blieb noch lange auf seinem Zimmer, um alle die Gedanken näher zu erwägen und zu bewältigen, die ihm jenes sonderbare Gespräch auf unerwartete Weise erweckt und zurückgelassen hatte.


Als man sich bei Tische versammelt hatte, sagte Emmrich: Sollte es nicht Zeit sein, diese allgemeine Verstimmung, müßte es selbst durch ein gewaltsames Mittel geschehen, wieder in die[372] rechte Bahn zu lenken? Ich bin der Meinung, da wir jetzt unter uns sind, und niemand unser Vorhaben übel deuten wird, daß wir unseren Götz noch einmal aufführen und ihn dann, wie es sich gebührt, zu Ende spielen. Wozu haben wir die Mühe gehabt und uns in so manchen Proben gequält? Wir sind es uns selbst schuldig, das unternommene Werk nicht so als ein schmähliches Fragment liegenzulassen. Es ist nicht billig, daß wir alle büßen, was nur einer der Teilnehmenden gesündigt hat.

»Ich wäre einverstanden«, sagte Elsheim, »wenn Mannlich im Zorn nicht sein Ehrenwort darauf verpfändet hätte, den Götz nie wieder zu spielen. Es ist vergebene Mühe, ihn überreden zu wollen.«

»Es muß ohne ihn möglich sein«, erwiderte Emmrich, »er bleibe fürs erste ein Märtyrer seines Wortes und alter Lesearten. Meine Rolle des Sickingen kann leicht ein anderer übernehmen, und ich habe längst, wieviel mehr seit unseren Proben, die Rolle des Götz genau in meinem Gedächtnis. Nur rate ich, wenn wir es noch unternehmen, daß wir dazutun, bevor die Baronesse zurückkommt, die es übel empfinden dürfte, wenn sie sähe, daß wir den gescheiterten Wrack wieder zum Segeln bringen wollten.«

Alle waren über den Vorschlag erfreut, am meisten der junge Cadet, der in Verzweiflung darüber gewesen war, daß er seine interessante Rolle des leidenschaftlichen Franz nicht hatte zu Ende führen können. Auch Charlotte, sowenig sie es wollte merken lassen, war sehr zufrieden, die Adelheid zu Ende zu spielen; Albertine war willig; selbst die Tante ließ sich bewegen, sich noch einmal in der häuslichen Tugend der Elisabeth zu zeigen, und Dorothea lachte laut auf, daß sie noch einmal als Georg mit ihren kecken Reden auftreten sollte. Der Graf Bitterfeld war leicht umgestimmt, und der Schulmeister triumphierte, als er am Abend vernahm, daß sein Selbitz noch einmal zu Ehren kommen sollte. Ein junger Verwalter eines benachbarten Gutes, ein verständiger Mann, war leicht in den Charakter des Sickingen eingelernt, und die Bauern, der Schulze und die Dienerschaft sahen mit Spannung und Neugier der wiederholten Aufführung des nationalen Schauspiels entgegen. Elsheim mußte sich aber wirklich gefallen lassen, noch außer dem Weislingen den Zigeunerhauptmann zu übernehmen, weil der Förster taub gegen alle Bitten und Vorstellungen blieb.

Schon nach einigen Tagen war das große Werk zur allgemeinen Zufriedenheit vollendet worden. Alle gestanden laut, daß[373] durch die bessere Darstellung des Götz das Gedicht in der Wiederholung ein ganz anderes geworden war, als es sich im ersten Versuch gezeigt hatte. War vorher Götz ruhmredig erschienen, prahlend und rechthaberisch, hatte er durch eine fürchterliche Deutlichkeit der Aussprache den biederherzigen Mann langweilig und anmaßend hingestellt, so waren jetzt alle von der Liebenswürdigkeit des Ritters ergriffen, durch seinen Edelmut gerührt und von seinem tragischen Schicksal und Lebensende tief erschüttert.

In Weislingens Sterbeszene war Maria so hingerissen, und in Rührung aufgelöset, daß sie kaum die wenigen übrigen Szenen noch spielen konnte, und als der Vorhang zum letztenmal fiel, begab sie sich sogleich zur Ruhe, ohne an der Abendtafel zu erscheinen.

An dieser erschien der junge Cadet, der nach der Anstrengung den Wein nicht geschont hatte, ganz ausgelassen, besonders da er von der ältern Schwester Albertine nicht beobachtet und gezügelt werden konnte. In seinem Rausch verhehlte er es nicht, wie sehr er Charlotten verehre, und da seine Ausdrücke immer poetischer, sowie seine Erklärungen immer deutlicher wurden, so wurde Leonhard zu seiner Beschämung und seinem Schrecken inne, daß er eine stechende Eifersucht empfinde. Es war ihm daher sehr erwünscht, als Elsheim auf eine milde Art den jungen Menschen zurechtwies, und Adelheid, Charlotten, von seinem Ungestüm erlöste, die sich um diese erwachende Leidenschaft nicht zu kümmern schien, indem sie alle hyperpoetischen Reden des Cadetten nur mit heiterm Lachen beantwortete.

Am anderen Morgen war Elsheim sehr durch den unvermuteten Besuch Mannlichs überrascht. »Ja, ja«, sagte dieser zum erstaunten Freunde, »ihr wollt mich nicht und denkt, ich habe mich selbst, wer weiß auf wie lange, verbannt; aber so ist es nicht gemeint: ich war böse, bin aber jetzt wieder gut, ja ich war selbst gestern incognito im Parterre und habe euer Spiel mit angesehen. Ich hätte fast Lust, einen dramaturgischen Aufsatz über diese eure Aufführung zu schreiben. Lieber Himmel, wie wenig ist doch eigentlich dem Dichter sein Recht widerfahren! Der Götz war ohne Kraft und Nachdruck, kein Wort konnte mich in die alte Zeit versetzen, alles wurde so schnell und natürlich gesprochen, wie es heutzutage auch geschehen kann; gerührt war er ein paarmal, wo er sich gerade als Held zeigen sollte. Dein Spiel als Weislingen war im ganzen vortrefflich, doch nicht ohne bedeutende Fehler; in der Sterbeszene drücktest du zu wenig die Wirkungen[374] des Giftes aus, was doch gewiß Krümmungen, Auffahren und Konvulsionen erregen muß. Von Albertinen weiß ich nichts zu sagen, denn sie spielte so, als wenn es gar keine Rolle wäre; sie sprach, wie sie immer spricht, und deshalb hat mich auch die Tante nicht befriedigt, die bei weitem nicht erhaben genug war. Unerträglich war dein Freund, der Professor Leonhard; als Mönch so weinerlich und gelassen, und als Lerse so plump, gar kein vornehmer, poetischer Ton. Die kleine Dorothea war allerliebst, neckisch und komisch, dabei nicht ohne Natur, wie sie denn überhaupt ein Naturkind ist. Über alles Lob erhaben war Charlotte. In ihr sah man doch einmal eine Dame, und wie verführerisch, wie reizend! Ich habe es wohl bemerkt, daß sie dich mehr als einmal in Verlegenheit setzte, denn sie ist wirklich gar zu liebenswürdig. Der Graf Bitterfeld zeigte sich als ein denkender Schauspieler, er wird nichts, was er unternimmt, ganz verderben – aber der Schulmeister! und der Cadet! Es ist doch nichts unerträglicher, als wenn Menschen, die gar keine Anlage haben, sich in einem Talent zeigen wollen, was ihnen so ganz und völlig versagt. Diese Szenen waren unleidlich. Dann störte es auch die Illusion zu sehr, daß du zuletzt noch als Zigeuner wiederkamst. Du hattest dich zwar wundervoll entstellt und verkleidet, es half dir aber nichts, denn ich kannte dich doch wieder.«

Viele von der Gesellschaft waren auf Spaziergängen zerstreut; die freundliche Dorothea war bei Albertinen, die sich unwohl fühlte und welche von der Kleinen liebkosend gepflegt und getröstet wurde. »Liebchen«, sagte sie jetzt eben, »laß nur die Tante nichts von diesen deinen Empfindungen merken, denn so gut sie ist, so würde es dir doch Verdruß machen und nicht ohne Beschämung abgehen können.«

»Du irrst dich«, sagte Albertine eifrig, »du irrst dich völlig. Mir ist überhaupt nicht wohl, und das Spiel gestern hat mich übermäßig angegriffen. Das Gedicht selbst ist ja von einer Kraft und so herzzerreißender Wehmut, daß diese Worte schneidend durch Mark und Gebein gehen. Ich begreife die andern nicht, die nachher noch heiter, ja lustig sein können. Unsern Elsheim verstehe ich gar nicht, denn ich hatte ihm diesen Leichtsinn nicht zugetraut. Selbst in den Zwischenszenen konnte er mit Charlotten lachen und scherzen. Sie freilich, die niemals fühlt, die mit dem ganzen Leben und mit allen Empfindungen nur ein Spielwerk treibt, sie hat ihre Freude daran, nur alle zu ärgern und zu kränken. Ihre Gefallsucht ist so unersättlich, daß sie jeden Mann durch ihre Künste in ihr Netz zieht; selbst den Knaben,[375] meinen Bruder, verschmäht sie nicht. Hast du es nicht bemerkt, wie sie sogar den Stelzfuß, den alten Schulmeister, freundlich anlacht?«

»Sei nicht bitter, Kindchen«, erwiderte Dorothea freundlich; »du weißt ja, wie über diese wunderlichen Launen selbst die Tante niemals etwas vermocht hat. Es ist doch eine poetische und fast wieder unschuldige Koketterie, wenn diese Charlotte allen Männern ohne Ausnahme gefallen will, und wenn es ihr Spaß macht, jeden, indem sie seine Schwächen kennt und benutze, auf eine Zeitlang zu ihren Füßen zu sehen. So war sie immer, und sie wird sich jetzt nicht ändern. Du bist ihr böse, weil sie auch schon unsern Leonhard verblendet hat. Es ist nur zu sichtlich, wie schmachtend er an ihren schönen Augen hängt.«

»Auch Leonhard, meinst du?« erwiderte Albertine, »das hatte ich bis jetzt noch nicht bemerkt; mir schien es, die habe es in diesen Tagen allein auf unsern Elsheim angelegt. Mag sie doch, was kümmert es mich! Und mögen alle Männer dieser gleißenden Herzlosen folgen und sie vergöttern, ist es doch einmal das Schicksal der Besseren, immerdar verkannt zu werden.« – Sie weinte von neuem, trocknete dann in heftiger Eile die Augen und warf sich an Dorotheens Busen.

Auch die stets heitere Dorothea weinte jetzt. »O daß dich diese Leidenschaft hat ergreifen müssen, du armes Kind«, sagte sie dann, »gerade zu diesem fremden Manne, der uns allen unbekannt ist! Es richtet dich zugrunde, denn er scheint dir weniger als den andern zugetan; er ist wahrscheinlich längst vermählt, hat Kinder und wohnt weit von hier, ist ein Bürgerlicher, schwerlich reich, sowenig als wir. Was kommt da alles zusammen, um dich zu quälen, um dein Leben durch und durch zu vergiften! Und immer noch willst du mir diese Liebe ableugnen, du zwingst dich zur Verstellung, und dennoch muß ich fürchten, daß schon mancher andere deine Leidenschaft bemerkt und erkannt hat, denn du kannst deinen Gram, besonders in seiner Nähe, zu wenig bemeistern.«

»Du machst, daß ich wider Willen lächeln muß«, antwortete Albertine; »dein Mißtrauen und deine Teilnahme irren, durchaus irren sie; mein Herz ist frei, und mein Gemüt wird von ganz anderm Kummer gedrückt. Aber dieser Leonhard! Es wäre doch schade um ihn, wenn er sich auch von den Augen Charlottens bestricken ließe. Dieses treue, redliche braune Auge, aus welchem ein edles weiches Gemüt so zuversichtlich schaut, daß der bessere Mensch ihm vertrauen und ihn lieben muß. Ja, lieben, aber nicht,[376] wie du es irrig meinst. Hast du wohl recht auf sein Spiel geachtet? Wie edel er alles vortrug und doch so einfach, ganz dem Charakter angemessen. Vielleicht hätte er den Weislingen besser als der Vetter dargestellt, und doch sprach der Leichtsinnige auch manches Wort so, daß es aus dem Herzen zu kommen schien. Wie hat er mich gerührt mit diesen weichen, einschmeichelnden Tönen! Ich fragte mich dann: Ist es möglich, daß man so sprechen kann, ohne wirklich zu empfinden? Das ist das Sonderbare und Fürchterliche, daß es der Lüge möglich ist, so ganz den Schein der Wahrheit anzunehmen.«

»Närrisches Mädchen«, sagte Dorothea lachend, »es war ja auch nur eine Komödie, welche er spielte.«

Hier wurden sie unterbrochen, denn die Tante trat in ihr Zimmer. –

Leonhard hatte sich in den nahe gelegenen schönen Buchenwald begeben und kam jetzt durch den Garten von seinem langen Spaziergange zurück. Sowie er durch die Pforte in die Lindenallee trat, stand Charlotte im ganzen Reiz ihrer Schönheit vor ihm, lächelnd ihm entgegentretend, als wenn sie ihn erwartet hätte. »Sie werden uns ungetreu«, sagte sie dann, »wenn uns die Komödie nicht vereinigte, so würden Sie immer in Feld und Wald umstreifen.«

»Konnt ich glauben«, erwiderte er, »daß man mich vermissen möchte? und daß gerade Sie mir diesen freundlichen Vorwurf machen würden?«

»Artige Worte«, erwiderte sie lachend, »der ewige Text, um den sich die Unterhaltung der Gesellschaften dreht; die Auslegung ganz willkürlich, so oder so, und meist ohne Ernst und Wahrheit; Gespräch, um zu sprechen, so wie oft Noten zu Dichtern entstehen, bloß um Noten zu machen. – Aber wie waren Sie mit der gestrigen Darstellung zufrieden?«

»Von Ihnen will ich nicht sprechen«, antwortete Leonhard, »denn Sie würden mich doch nur als einen Schmeichler abweisen und wenn man entzückt ist, ist man nicht gerade in der Stimmung, um ein Urteil zu fällen. Aber haben Sie nicht auch die Darstellung Emmrichs bewundert? Er war unter uns Männern doch eigentlich allein nur der Meister. Dieses Verwirklichen aller Empfindung so ohne Anstrengung! jede Szene so gegeben, als könnte es eben nicht anderes sein! so daß jeder Zuschauer der Meinung sein mußte, er selbst würde es gerade eben auch so und nicht anders gemacht haben.«

»Ein Spiel«, sagte Charlotte, »so wie Sie es beschreiben, ist[377] gewiß der Triumph der Schauspielkunst. Wohl versteht es unser Emmrich ganz anders, als der Baron Mannlich. Indessen wollte ich doch, man hätte ein anderes Stück gewählt.«

»Das wünschen gerade Sie?« sagte Leonhard mit einigem Erstaunen, »wo möchten Sie einen Charakter antreffen, in welchem Sie so allen Zauber der Lieblichkeit, des Reizes, der Verführung und des feinen Anstandes entwickeln könnten?«

»Sie geraten doch in jene Schmeichelei«, bemerkte sie, »der Sie ausweichen wollten. Das Stück aber hat auf keine Weise meinen Beifall. Der Götz geht zu schmählich unter, und man begreift nicht, weshalb; die innere Notwendigkeit tritt nicht deutlich genug hervor.«

»Wie?« sagte Leonhard, »fühlen wir diese nicht in jedem Wort? Sehen wir sie nicht in jeder Szene? Die bessere Zeit geht unter, und mit ihr der brave Götz, ihr Repräsentant; sie wird verdrängt oder erdrückt von einer anderen, die uns als die der List und Verstellung, der Unwahrheit und Treulosigkeit gemahnt; ihre Repräsentanten, Adelheid und Weislingen, gehen aber ebenfalls in dem Sturm der Begebenheiten zugrunde, den sie erregt haben, den sie aber nicht bewältigen können.«

»Und dann«, sagte Charlotte, »tritt ein anderes Zeitalter auf, das für uns jetzt Lebende auch schon ein längst veraltetes ist; dieses verspielt sich wieder an einem einbrechenden, welches als das schwächere und schlechtere erscheint; und so geht es immer fort, und das ist die Täuschung der Geschichte, die, so vorgetragen, vielleicht kein wahres Wort enthält.«

Leonhard ward nachdenklich und sagte dann: »Die Zeitalter wechseln wohl in Güte und Schlechtigkeit; bald tritt diese, bald jene Vortrefflichkeit mehr und deutlicher hervor, und die Aufgabe ist, an diesen Zeichen die Zeit zu erkennen.«

»Gut«, sagte sie, »mögen das die Gelehrten und Denker tun; unsereins versteht nur das, was ewig wiederkehrt, nie wandelt, weil es selbst der Wandel ist.«

»Und das wäre?« –

»Ei nun, jene Schwäche der menschlichen Natur, die auch den rührenden und interessanten Teil unseres Schauspiels bildet; dieser Weislingen, der so meisterhaft geschildert ist, in welchem sich die menschliche Natur selbst und das eigentliche Wesen der Männer so unvergleichlich präsentiert.«

»Sie meinen also –«

»Jawohl«, fiel sie schnell ein, »der Weislingen ist der Mann selbst, das heißt, der wirkliche, der interessante, von dem es sich[378] zu sprechen lohnt. Denn was wäre die Welt, wenn alle Männer so bieder, treu, unerschütterlich wären, wie dieser alte Freibeuter, der Berlichingen? Und was würde in aller Welt das Stück selbst für eine triste Physiognomie haben, wenn Weislingen und Adelheid nicht Leben und Frische hineinbrächten? Und so war es gewiß immer und zu allen Zeiten. Und Götz selbst! fällt er nicht fast ohne Ursache von seiner Treue ab, um der Anführer der rebellischen Bauern zu werden? Dies Gelüst war seine neue Geliebte, die ihn zur Treulosigkeit verführte, und er muß, wie Weislingen, nur seinen eigenen Fehler büßen. Alle Hochachtung vor Tugend und Wahrheit! aber herrschten sie allein in der Welt, so gäbe es wenigstens keine Poesie.«

Leonhard mußte über diese Ketzerei lachen und wußte doch im Augenblick dieser seltsamen Behauptung nichts entgegenzusetzen. »Können Sie mir unrecht geben?« fuhr sie nach einiger Zeit fort; »in der römischen Geschichte stehen Antonius und seine Kleopatra ebenso glänzend und unglücklich da, und wo sich mein Auge hinwendet, schon von der Iliade an bis zu unserem Wieland und Clavigo und der Stella, ist immer die weiche, liebe, interessante Verführbarkeit des Mannes der Gegenstand der schönsten Gemälde und anziehendsten Verwicklungen. Jene festen, unerschütterlichen, dem Reiz und der Schönheit unzugänglichen sind eben keine echten Männer, sondern nur Larven und widerwärtige, wenigstens gleichgültige Gespenster.«

Leonhard war während dieser Rede nach und nach ernsthaft geworden. »Nicht wahr«, fuhr sie fort, »wer gar nicht, gar nicht wanken könnte, den dürfte man doch eigentlich auch nicht treu nennen? Seine Natur ohne weiteres wäre einmal so eingerichtet, und Schönheit und Reiz und mit ihnen Versuchung fänden keinen Eingang bei einem solchen. Liebe – so sprechen die Menschen – und was ist sie denn? Ist sie denn nicht auch Talent? Und wenn das, erfordert sie nicht Übung, Erfahrung? Und wenn sie ein Lebendiges ist, eine Wirklichkeit, kein totes Wort, muß sie sich nicht in jedem Wesen anders gestalten? Die Leute schelten jetzt auf die Stella, aber das ist es, was Goethe so deutlich empfunden und dargestellt hat. Kann Ferdinand die ältere Gattin so lieben, ja auch früher so geliebt haben, wie jene wunderbare Stella, die ihn mit ihren tiefen Empfindungen an sich gerissen hat? Und dieses Gedicht der Treulosigkeit nannte unser Goethe damals beim Erscheinen: ein Schauspiel für Liebende. Und mit Recht; denn nur derjenige, der die Liebe empfunden und erlebt hat, kann es wissen, wie das Herz wohl so gestimmt[379] sein kann, daß es die neue, höhere Liebe nur fühlt und rein in ihr lebt, wenn eine andere, auch echte Zärtlichkeit ihr fast schwesterlich Gesellschaft leistet. Ich spreche von Männern, denn bei Frauen äußert sich das geheimnisvolle Leben dieser Gefühle gewiß auf verschiedene Weise.«

Sie traten jetzt wieder in jene abgelegene kühle Laube, deren grüner duftender Schatten sie zum Sitzen einlud. »Darin«, fuhr sie fort, als sich beide gesetzt hatten, »ist auch Goethe so groß und einzig, daß bei ihm jedes Verhältnis der Liebe so etwas Eigenes und Individuelles hat, wie bei keinem andern Dichter, und diese Verhältnisse, die er schildert, sind wieder unter sich so abgesondert und eigen gehalten, daß man jegliches selbst mitzuerleben glaubt. Der Frühling ist freilich immer und allenthalben schön, er ist stets Frühling, aber er blüht mir doch anders am Genfersee als in der Mark entgegen, und so muß Liebe, obgleich sie innere Bezauberung bleibt, doch in jedem andern Wesen mit eigener Süßigkeit und Frische in ganz verschiedenen Traumgestalten sich aussingen und dichten. Und das, lieber Leonhard, sollte nicht zur sogenannten Untreue verlocken? sollte diese nicht selbst zu einem höchst poetischen Gewerbe machen?«

Sie sah ihn fragend mit den schönen dunkeln Augen an. Er reichte ihr die Hand und sagte nur ganz kurz: »Ich muß Ihnen recht geben.« Sie drückte seine Hand mit inniger Zärtlichkeit und sagte seufzend: »O du! Du Lieber!« – Sie neigten sich zueinander, und ein heftiger langer Kuß brannte auf ihren vollen Lippen, den sie erwiderte. Dann sahen sie sich an, Hand in Hand, ohne zu sprechen; bloß ganz leise sagte Leonhard: »Lottchen! Du! Süße!« Als sie nach einer Weile aufsahen, stand Elsheim vor ihnen, welcher sagte: »Ich suche Sie allenthalben, denn es ist Tischzeit.« – »So? schon?« sagte sie ganz gleichgültig und stand auf, Elsheims angebotenen Arm anzunehmen. Leonhard war hastig und in großer Verlegenheit aufgesprungen. Er wußte nicht, wie lange der Freund schon zugegen gewesen, ob er den Kuß bemerkt habe, was er denken möchte. Alle diese Vorstellungen ängstigten ihn, und er folgte den beiden fast träumend. Es war ihm lieb, als sie Albertinen und Dorothea im Garten trafen. Indem sie über eine Brücke gingen, nahm Albertine, die jetzt sehr heiter und freundlich schien, Leonhards Arm, um sich auf ihn zu stützen. Sie sah ihn dabei so hell und fast zärtlich an, daß er sich einbildete, sie drücke im Gehen seinen Arm, und er konnte sich nicht erwehren, durch einen Gegendruck diese Freundlichkeit zu erwidern. Dorothea, welche voranlief, stand plötzlich still und sah[380] sich bedeutsam nach ihnen beiden um. Es war auffallend, daß Albertine in diesem Augenblick errötete, und Leonhard mußte in seinem Gemüt die auffallende Schönheit seiner Begleiterin, sowie ihr holdseliges Wesen erwägen. In sich selbst sah er wie in eine dunkle Tiefe hinein, und die Frage drängte sich ihm lästig auf: Was will ich denn? Bin ich von jener gefangen und soll hier auch an dieser Schönheit stranden? Welcher Unterschied zwischen den beiden reizenden Wesen! Wie zwei verschiedene Welten! Ja wohl ist unser Herz unersättlich, und es fordert Kraft und Tugend, diesem Durst zu widerstehen; doch matt ist unser Gefühl, indem wir unsere Stärke üben. Und was erfolgt, wenn dies nicht geschieht? Bitteres Erwachen aus süßen Träumen!

Sie traten jetzt in den Saal, und auch Elsheim schien zerstreut, fast übellaunig, bis Wein und Speise und mannigfaltige laute Gespräche alle in den Strom der geselligen Heiterkeit hineinzogen. Elsheim saß neben Charlotten und sprach sehr eifrig mit ihr; Leonhard hatte neben Albertinen Platz gefunden, und diese blieb während der Mahlzeit heiter.

Auch den Dienstleuten hatte Elsheim an diesem Tage ein kleines Fest gegeben. Die Schulzen waren zugegen, sowie alle diejenigen, die als Knappen, Knechte, oder Zigeuner ausgeholfen hatten, und selbst der Förster, der den Zigeunerhauptmann nicht hatte spielen wollen, ließ sich jetzt seinen Anteil am Schmause nicht nehmen. Obenan aber prangte der Schulmeister, durch seine gelungene und vielgepriesene Darstellung des lahmen Selbitz verherrlicht. Er war so beglückt und von dem Beifall, den er allgemein erlangt hatte, so berauscht, daß er an der ziemlich langen Tafel fast niemand zu Worte kommen ließ, und wenigstens die andern alle mit seiner tönenden Stimme überschrie. »Habt ihr es wohl gesehen und bemerkt«, sagte er jetzt mit kräftigem Ton, »wie meine Rolle, dieser Selbitz, eigentlich, wenn man die Vernunft zu Hülfe nimmt, die Hauptperson im ganzen Stück ist? Ohne ihn kann der Götz nichts machen, gar nichts; gleich muß zu dem Lahmen geschickt werden, der auch zehnmal klüger ist, als der Herr Berlichingen selbst. Er traut gleich dem Weislingen nicht; er weiß, daß an dem höfischen Gesellen kein gutes Haar ist. Und wäre ihm nur der Götz immer gefolgt, so würde alles besser gegangen sein. Er schlägt und siegt und ist sich und seiner Sache immerdar treu und unerschütterlich. Nun wird er aber im vollen Siege verwundet, er wird vom Schlachtfelde getragen: da zeigt er sich noch einmal in seiner ganzen Pracht, denn gewiß ist dieser Auftritt der schönste im ganzen Stück. Er kann aber nicht[381] mehr mitfechten, er muß nach Hause, um sich kurieren zu lassen, und nun ist es eigentlich auch mit dem Herrn Götz zu Ende, denn von nun an geht alles mit ihm abwärts, er muß sich gefangen geben, und selbst der hochmütige Sickingen kann ihm im wesentlichen nichts nutzen. Auch nachher nicht, und noch viel weniger der armselige Zigeunerhauptmann, der auch so große Worte in den Mund nimmt und Blut und Leben für ihn lassen will. Was können nun Lerse, Maria, selbst Weislingen für ihn tun? So gut wie nichts; der arme Mensch muß zugrunde gehen, weil er seinen tüchtigen Selbitz nicht mehr hat, der wahrscheinlich an seinen Wunden gestorben ist, weil er gar nichts mehr von sich sehen und hören läßt. Seht, Kinder, so liegt eine sehr schöne Moral in dieser Sache, daß so oft unansehnliche Männer, die nur in einem kleinen Wirkungskreise leben, doch die allerwichtigsten im ganzen Staate sind, wie denn das auch der Kaiser Maximilian wohl eingesehen hat, der diesen Selbitz gar zu gern zu seinem Feldherrn gemacht hätte. Es hätten eigentlich alle Schulkinder dies Meisterwerk mit ansehen müssen, hätte es nicht an Platz gemangelt. Ja, Freunde, wenn der verständige Selbitz noch gelebt hätte, so würde sich unser etwas bornierter Götz niemals mit dem dummen Bauernvolk eingelassen haben.«

Hier erhob sich plötzlich der Schulze in großartigem Zorn. »Schimpft nicht«, Schulmeister, rief er aus, »wenn Euch nicht dies Weinglas an den Kopf fliegen soll. Weil Ihr den lahmbeinigen Reitersmann gespielt habt, als Komödiant, dürft Ihr darum unsersgleichen nicht verachten und niederträchtig machen.«

»Ich schimpfe nicht, Mann«, schrie der Schulmeister dagegen; »die Leute dort, versteht, sind ja keine verständigen Bauersmänner, sondern im Gegenteil nur Rebellen und Mordbrenner.«

»Sie mögen auch nicht unrecht gehabt haben«, rief der Schulze laut, aber doch etwas besänftigt; »wir hören ja auch im Stück, daß ihre Herrschaften ihnen das Fell über die Ohren gezogen haben und das ist, mein Seel, keine angenehme Empfindung.«

»Ihr sprecht in der Art ganz vernünftig«, sagte der Schulmeister, denn Ihr seid einer der verständigsten Männer, die mir vorgekommen sind. Aber die Bauersleute gingen gleich über die Grenze aller Billigkeit, folgten den schlechtesten Ratschlägen und wurden Mörder und Kannibalen, schlachteten Schuldige und Unschuldige und verbrannten und beschädigten, wie Ihr es ja gesehen habt, den Bauernstand selber. Und das ist denn auch wieder moralisch und auferbaulich, wenn man sieht, wie ein solcher Aufstand immer wieder gegen sich selber wüten muß. Und darum[382] hätte sich Götz, der doch einen ehrlichen Mann vorstellen will, nicht mit ihnen einlassen sollen. Aber es bekommt ihm auch schlecht, wie ihr alle gesehen habt. Seinen Feinden, die ihn stürzen und die dem so ziemlich rechtlichen Manne gegenüber ganz niederträchtig sind, geht es aber noch elender, und das ist nun eben die große und eindringliche Moral von dieser Sache, die sich jeder wohl zu Herzen nehmen soll. Wie überhaupt das ganze Komödienstück eine der allermoralischsten Arbeiten ist, die nur in der ganzen Welt zu finden sein mögen. Alle die Schlechten gehen unter und auch diejenigen, die sich haben verleiten lassen, und nur die ganz Schuldlosen bleiben übrig, wie die Elisabeth, Maria und Lerse.

»Aber der Georg muß doch auch daran glauben«, sagte der alte Förster, »und der hat doch kein Wasser getrübt und war seinem Herrn so treu und ergeben, und Euer Selbitz, mit dem Ihr so hoch hinauswollt, hat doch auch so viel abgekriegt, daß er wohl gar verendet hat, oder sich nicht wiedersehen lassen kann, weil er zu miserabel ist. Denn wenn der Stelzfuß wieder gesund und stark wäre und ließe sich doch nicht wiedersehen, weil die Sachen etwa jetzt zu mißlich ständen, so wäre der Schreihals, mein Seel, gegen seinen alten Kumpan, den Götz, nur wie ein Lumpenhund!«

»Forstmann!« rief der Schulmeister, »so quer müßt Ihr um des Himmel willen die Sachen nicht nehmen, das ist ja ein ganz falscher Gesichtspunkt. Der Dichter muß es am besten wissen, warum er den tüchtigen Stelzbein nicht wieder auftreten läßt. Daß wir ihn nicht wiedersehn, daß wir gar nichts weiter von ihm hören, als ganz zuletzt ein einziges Wort, scheint mir eben der größte Fehler des Stücks zu sein. Er konnte, wie bei Weislingens Bund, den Götz vom Bauernkriege abraten; er konnte zum alten Kaiser reiten und dem die ganze Kabale aufdecken; er mußte den versunkenen Karren wieder aus dem Schlamme ziehen und selber dem übermütigen Sickingen helfen. So ist es aber oft die Dichter legen einen Charakter gut und richtig an, sie wissen aber nicht den gehörigen Vorteil aus ihm zu ziehen, und so müssen sie ihn denn am Ende gar nolens volens ganz fallenlassen.«

»Das ist immer ein schlechter Nolenz-Volenz«, bemerkte der Schulz. »Hat Euch aber der Baron als Götz nicht viel besser gefallen, als gestern der Professor?«

»Ohne Frage!« rief der Schulmeister, und alle Genossen am Tische bekräftigten diesen Ausspruch. »Wie dieser fremde Professor kann eigentlich jeder Mensch spielen, denn es war, um es[383] geradeheraus zu sagen, gar nicht gespielt. So schlichtweg alles, so schlank hin, gar nicht einmal wie auswendig gelernt – was ist denn darin für Kunst? Unser Baron nahm den Mund so hübsch voll, ließ sich so recht Zeit zu allem, stampfte so gravitätisch umher, glotzte seine Mitsprechenden so künstlicher Weise an, und plötzlich, ohne daß es ein Mensch vermuten konnte, schrie er so laut und zerarbeitete sich so fürchterlich, daß man wirklich erschrak. Nein, so leicht wird dem Manne das keiner wieder nachmachen. Ich habe in alten Büchern oft von den ungeheuern Effekten gelesen, die die Trauerspiele bei den Griechen auf die Zuschauer machten, so daß schwangere Weiber zu früh in die Wochen kamen, daß andere Krämpfe kriegten, und dergleichen mehr, was ich immer nicht glauben konnte, bis ich nun erlebte, daß durch den Baron Mannlich hier bei uns ganz dasselbe hervorgebracht ist.«

»Effekte!« rief der Schulze, »was sind das für Dinger?«

»Man kann es auch Wirkungen nennen«, belehrte der Schulmeister, »aber Effekt ist der eigentliche Ausdruck, der in der Kunst angewendet werden muß, wenn man sich verständlich machen will. Es ist nämlich der Eindruck, welchen die Zuschauer an sich verspüren, ob sie sich wohl, ob sie sich übel befinden, wie stark sie erschrecken, weinen, oder lachen, gespannt sind und sich verwundern; alles dies, was in der Seele des Zuschauers und Hörers so durcheinander vorgeht, nennen wir Gelehrten die Effekte. Nun also, Freunde, Kinder, Nachbaren, verständige Männer habt ihr es ja alle selbst gesehen und erlebt, wie auf ganz ähnliche Weise, wie im alten Athen, unser Baron Mannlich den ungeheuersten Effekt hervorbrachte. Zwar ist keine von den Damen plötzlich in die Wochen gekommen, denn dazu waren sie zu alt, aber Krämpfe hat es doch gegeben, Krämpfe aller Art, und gefährliche Ohnmacht, so daß das Stück nicht einmal zu Ende gespielt werden konnte. Es war auf jeden Fall ein großer, ein merkwürdiger, ein erhabener Moment.«

»Larifari!« rief der Schulze, welcher verdrüßlich war, daß der Schulmeister so lange das Wort führte, »die Weibsen erschraken über die Grobheit, die dem Baron in der Bosheit aus dem Munde fuhr. Effekte! Wenn ich mit einem Male dem Kaiser und Reich so ganz unscheniert dasselbe sagen wollte; wenn ich so zum Superintendenten spräche, oder dem Landrat das böte: mein Seel, so würde ich auch Effekte machen und hervorbringen, und das kann auch ein jeder, solange er diese seine vaterländische grobe Muttersprache spricht. Ich kriegte auch von dem lieben[384] Effekt etwas ab, denn ich mußte laut lachen, wie sich der Baron so vergessen konnte.«

»Einfältiger Mensch!« rief der Schulmeister, »das anstößige Wort war ja kein Einfall von ihm, es stand ja die Redensart ganz so in seiner Rolle, ich kann es Euch gedruckt im Buche zeigen. Und würde denn nach dem ordinären Wort, das wir ja auch zuweilen in unseren Dörfern hören, diese ungeheuere Wirkung, der erhabene, einzige Effekt sich gezeigt haben, wenn die Gemüter durch das großartige Spiel nicht schon längst darauf wären vorbereitet worden, diese Sentenz, wie sie nun einmal ist, so aufzunehmen, wie wir es alle gesehen haben? – Wie herrlich wäre es, wenn der Baron Elsheim sein Theater bestehen ließe, daß wir zum Unterricht und zur Besserung der Gemeine nur sechs oder siebenmal im Jahre so klassische patriotische Schauspiele aufführten! wir würden bald den Nutzen davon gewahr werden.«

»Es war aber doch gut«, sagte der Schulze, »daß gestern der Professor die anstößige Rede wegließ.«

»Verdorben hat er den Text« sagte der Schulmeister eifernd. »›Er aber, er kann sich hängen lassen!‹ Wie matt, nichtssagend! Es wird immer schwer, wenn nicht unmöglich sein, einem großen Dichter eine seiner Tiraden zu rauben und eine andere an die Stelle zu setzen.«

Spät erhoben sich die Gesellschaften, sowohl diese bäuerliche als jene vornehmere, von der Tafel, denn man hatte sich an beiden so gut unterhalten, daß man den Verlauf der Stunden nicht bemerkte.


Die Gesellschaft war in Bewegung, und hin und wieder sprach man davon, daß vielleicht in kurzem ein zweites Stück würde aufgeführt werden. Da das Theater einmal errichtet war, und man Dekorationen gemalt, sowie mancherlei Kleidung und andere Dinge zu dieser Ergötzlichkeit mit bedeutenden Kosten angeschafft hatte, so war es an sich nicht unwahrscheinlich, daß diejenigen, welche sich Talent zutrauten, auch wohl Lust haben könnten, den Scherz weiter fortzuführen. Man war daher auf etwas; Ähnliches vorbereitet, als der Professor Emmrich schon am folgenden Tage alle Bewohner des Schlosses in den Gesellschaftssaal beschied, um ihnen etwas vorzutragen. Mannlich, der zu Pferde wieder von seinem Gute eingetroffen war, befand sich auch zugegen.

»Meine Damen und Herren«, – fing der Professor Emmrich[385] mit einiger Feierlichkeit an, die seiner Laune sehr gut stand, ohne eigentlich in das Komische zu fallen – »das Leben ist kurz, der Sommer noch kürzer, wir sind beisammen, das Theater ist errichtet, wir sind meist jung, keiner veraltet und morose: was hindert uns, den Spaß weiter fortzutreiben? Baron Mannlich und Elsheim waren gleichsam die Direktoren und Anstifter der vorigen Aufführung; ich wage mit Zuversicht auf Ihrer aller Freundschaft die einfache Frage, ob Sie sich für die zweite Darstellung meiner Leitung, aber freilich unbedingt, anvertrauen wollen?«

Die Redlichen und Frohherzigen gaben sogleich ihre Zustimmung, und, um nicht aufzufallen, mußte Baron Mannlich dasselbe tun, ob er sich gleich durch diese Einleitung, da er sich für den ersten Kenner hielt, verletzt fühlte. »Sind wir darüber einig«, fuhr der Professor fort, »so wollen wir einmal einen andern Versuch machen, der dem vorigen gewissermaßen ganz entgegengesetzt ist. Denn, meine verehrten Freunde, wie groß Goethe auch als Dichter sei (und wie sehr ich ihn verehre, brauche ich nicht zu wiederholen), so ist er doch keinesweges theatralisch. Dieses erste und in einem gewissen Sinne größte und herrlichste Werk des Genius gab der Jüngling damals hin, ganz unbekümmert um seine Wirkung und noch viel weniger darüber, wie es auf unserm deutschen Theater zur wirklichen Erscheinung gebracht werden könnte. Er, der die Bühne liebte, hat sie doch eigentlich niemals geachtet und noch weniger studiert. Sein Götz, welcher im Widerspruch gegen alle Gesinnung seiner Zeit war, ein Krieg gegen moderne Altklugheit und das Verkennen einer großherzigen Vorzeit, hänselte gleichsam das bestehende Theater der Nation, auf welchem man mit puritanischer Ängstlichkeit und zugleich oft roher Ungeschicklichkeit Zeit und Raum nach den überkommenen französischen Regeln beobachten wollte. Der frohe Übermut spielte mit den sogenannten Verwandlungen legte auch in diese Überschriften Poesie und zwang diese Zufälligkeit, in seinem heroischen Werke mitzuspielen und durch das Hin und Her Eile und Verwirrung auszudrücken. Ein solches Werk, welches ganz aus Liebe hervorgegangen ist, ist durch sich selbst vollendet, denn diese echte Begeisterung irrt niemals und erschafft sich selbst ihre Regel. In diesem Gedicht stehen wir also nicht vor dem Theater, wir sehen keine Dekoration; sondern, indem wir lesen, sind wir selber mit im Gedicht, wir fühlen den Duft des Bergwaldes, wir kommen aus der Mühle im Tal, wir hören das Geklirr des wirklichen Fensters, welches Götz in kräftigem Unwillen zuwirft, und so gehört uns und unserm Empfinden eine jede dieser Überschriften[386] von Schenke, Feld und Lager. Sehen wir nun Kulissen und die Veränderungen unserer Bühne, so wird uns statt der Wahrheit eine hergebrachte künstliche und konventionelle Täuschung untergeschoben. Dadurch allein schon erlahmt das Werk; sein Organismus aber wird völlig zerstört, wenn wir Szenen auslassen, zwei oder drei in eine zusammenziehen und jener Bühne, an welche der Dichter bei der Komposition in keinem Augenblicke dachte, zu Gefallen leben, uns vor ihr neigen und demütigen und darüber das Gedicht in Grund und Boden verderben. Denn nicht eine Zeile, nicht ein Wort, auch nicht jene Ungezogenheiten lassen sich diesem wunderbaren Werke abhandeln, ohne seinem innersten Leben zu nahe zu tun. Sie müssen dies bei der Aufführung alle selbst, mehr oder minder, empfunden haben. Theatralisch, nach unsern Begriffen, ist also dieses Kunstwerk gewiß nicht. Soll ich sagen, daß dieser Vorwurf selbst zu groß, daß er ungerecht sei? Ungern! denn weder das echte poetische Theater, noch unser konventionelles hat unser Dichter jemals finden können, auch nachher nicht, als er es suchte und sich darum bemühte. Nehmen wir also diesen Götz, so wie er eben da ist, als ein kanonisches Werk, in dem keine Zeile geändert oder gekürzt werden darf. Eine untergehende edle Zeit malt sich in diesem Gedicht, welche neueren Bestrebungen weichen muß. Der Repräsentant der alten Freiheit ist großherzig, bieder und rüstig, aber wir sehen keine Tat von ihm, die ihn eigentlich zum Helden eines Schauspiels stempelt. Zustände, Situationen, Verhältnisse, Weisheit in Scherz und Ernst vernehmen wir; unser Gemüt ist bewegt, unsere Aufmerksamkeit rege, Bild drängt sich auf Bild; aber kein Drama, keine Handlung eines Schauspiels bereitet sich vor und entwickelt sich. Die große Begebenheit des Bauernkrieges erscheint nur als Episode; die noch größere der Reformation wird kaum angedeutet. Der Kaiser ist eine Nebenfigur des Hintergrundes – und so geschichtlich alles behandelt ist, so wird die Historie der Zeit doch gleichsam verschwiegen. Und dennoch bleibt dieses Werk für uns Deutsche, wie für den Ausländer, ein einziges, mit welchem sich kein anderes messen kann, selbst nicht der Egmont desselben Autors. Sonderbar, daß Goethe selbst sich die überflüssige Mühe gegeben hat, seinen Götz für die Bühne völlig umzuarbeiten; ich war kürzlich in Weimar und sah diese Erscheinung, auf welche man, als auf eine Neuigkeit, gespannt war. Jener zufälligen Bühne, für welche sein Werk nicht paßt, hat er nun die größten Schönheiten aufgeopfert, und doch ist das Gedicht ohne alle dramatische Wirkung, einige Szenen abgerechnet,[387] in welchen er einen beinahe melodramatischen Effekt beabsichtigt hat. Dazu wird der Tod der Adelheid benutzt; eine Mummerei tritt ein, der Hauptmann der Reichstruppen ist Karikatur, Franz spricht epigrammatische Reime, und Carlchen, welches fast an unsern Kotzebue erinnert, will Weislingen, den Gefangenen, recht rührend mit dem Vater versöhnen. Selten habe ich, wie damals, mit so widrigen Empfindungen das Theater verlassen, und ich kann das durchaus Störende nicht beschreiben, wie meine Kritik mit meiner Liebe zu dem Manne, der meine unbegrenzte Verehrung hat, in Hader geriet. Dort in dem Wohnsitz der Kunst durfte ich meine Empfindungen nicht laut werden lassen.«

» Ich habe mir diese Darstellung«, fiel Elsheim ein, »von Freunden des Dichters schildern lassen und muß sie nach diesen Berichten auch für eine merkwürdige Verirrung halten.«

»Unser Theater«, fuhr Emmrich fort, »hat diesem Dichter, und darin hatte er wohl recht, niemals genügt; aber er, der so viel Zeit mit Einstudieren und Einrichten so mancher unbedeutenden Stücke zubringt oder verliert, hat doch niemals die Bühne selbst reformieren oder revolutionieren wollen, sondern er meint, mit Mäßigung, richtiger Deklamation, Deutlichkeit und dergleichen auch löblichen Dingen sei alles getan. Prüfen wir alle dramatischen Werke Goethes, so werden wir finden, daß ihnen jene Wirkung mangelt, die auch der feinsinnigste Kunstkenner, der sich nicht durch den Stoff bestechen läßt, verlangen muß. So stehen in dem herrlichen Egmont alle an sich trefflichen Szenen still; die dramatische Strömung, die alles in Bewegung setzt, fehlt.«

»Früh«, sagte Elsheim, »hatte sich der Dichter daran gewöhnt jede Frage, kritische wie moralische, in Dialog zu denken und zu setzen. Diese scheinbare Verwandlung eines jeden Gegenstandes in einen dramatischen hat wohl sein Auge irregeführt. Denn nicht alles Interessante und Wichtige eignet sich zum Drama, sowenig wie jede Geschichte eine historische Malerei werden kann. Daß man den Roman schon früh in die Bühnendarstellung hat ziehen wollen, scheint mir einer der größten Mißgriffe und hat die schlimmsten Verwirrungen herbeigeführt.«

»Also denn, meine verehrten Freunde, wollen wir auf meinen Rat diese Bahn verlassen und unter meiner Leitung eine neue versuchen und einschlagen. Baron Elsheim und Mannlich haben ihr Gelüst an dem Lieblingswerk ihrer Jugend befriedigt, und ich werde jetzt die Gesellschaft in Anspruch nehmen, meiner Krankheit denselben Dienst zu leisten, um durch diese Bemühung vielleicht[388] geheilt zu werden. Seit lange habe ich nämlich darüber gedacht, wie man das Gedicht von Shakespeare: den ›Drei-Königs-Abend‹ oder ›Was ihr wollt‹ durch eine Aufführung ganz klarmachen und in das gehörige Licht stellen könne. Ich setze voraus, Ihnen allen ist das Gedicht bekannt: sollte ich mich aber irren, so bitte ich diejenigen, welchen es fremd ist, diesen Halbkreis zu verlassen und sich dort in die Gegend des Sofas zu begeben.«

»Wem wird dies Meisterstück fremd sein!« rief Mannlich aus, aber er brach ab, indem er sah, daß sich Graf Bitterfeld still nach jenem Sofa verfügte.

»Und die Rollen?« fragte Elsheim.

»Ich glaube, ja ich bin fast überzeugt, daß wir mit diesen Mitgliedern die poetische Komödie vortrefflich ausführen können. Auch kann sich hier das Talent viel sicherer entfalten, und es wird sich zeigen, ob wir was mehr als Naturalisten sind, da wir den Götz doch mehr oder minder als Dilettanten gespielt haben.«

»Sehr wahr«, sagte Mannlich, und sah jeden im Kreise mit festem Auge an.

»Diese ganz dichterische Komödie«, fuhr Emmrich fort, »zwingt uns, wenn wir sie nicht ganz verderben wollen, aus uns herauszutreten, und doch fordert die Zartheit und der rasche Wechsel, indem der Dichter nirgend schwerfällig verweilt, daß der Darsteller ebenfalls rasch sein muß und gehalten, nirgend Karikatur und stillstehende Grimasse. Die Aufgabe wird nun sein, daß das Wichtige auf die rechte Art hervortritt, und jede Person, wie es die Gelegenheit fordert, auch wieder in den Hintergrund tritt, um nicht den Sinn des Gedichtes zu stören oder selbst zu vernichten. Diese notwendige Kunst, sich zur rechten Zeit zurückzuziehen und unbemerkt zu bleiben, fehlt oft den besten Schauspielern vom Metier, die sich nur zu leicht verwöhnen, das ganze Stück und alle Szenen immerdar beherrschen zu wollen. Alle Töne klingen in diesem einzigen Werke an, Posse und Spaß werden nicht verschmäht, das Niedrige selbst berührt und angedeutet, aber ebenso das Poetische, die Sehnsucht, die Töne der Liebe, und dabei so viel dichterischer Eigensinn, Tollheit, Weisheit, feiner Scherz und tiefsinnige Gedanken in der Gaukelei, daß das Poem wie ein großer vielfarbiger Schmetterling durch reine blaue Luft flattert, der Sonne und den buntfarbigen Blumen seinen goldenen Glanz entgegenspiegelt, und wer ihn haschen will, um ihn näher zu betrachten, hüte sich nur, vom leichten Duft des zartesten Blütenstaubes etwas abzustreifen,[389] weil der kleinste Verlust die wie in Luft hingehauchte Schönheit schon verdirbt.«

»Das ist es«, fiel Elsheim ein, »warum so wenige Leser, die sonst den großen Dichter zu verstehen glauben und ihn wenigstens bewundern, mit diesen seinen Lustspielen etwas anzufangen wissen.«

»Wie glücklich sind wir Deutsche«, begann Emmrich wieder, »daß unser Schlegel uns diese und andere Werke des Briten so durchaus meisterhaft übersetzt hat. Man sagt nicht zuviel, wenn man behauptet, der Umwandler habe sich hierin als wahrer Dichter gezeigt.«

»Nun aber«, fiel Mannlich ein, »zur Hauptsache, und, wie Freund Elsheim schon fragte, wie steht es mit den Rollen?«

»Über einige Nebenrollen bin ich noch ungewiß«, sagte Emmrich, »doch müssen Sie mir alle, wie Sie mir versprachen, in den Hauptsachen Folge leisten. Das Gelingen oder Fehlschlagen habe ich dann auch allein zu verantworten. Um mit den Damen anzufangen, so wird sich Fräulein Charlotte nicht weigern, die reizende kapriziöse Olivia mit allen ihren poetischen Launen darzustellen. In ihrer tiefen Trauer, die sie willkürlich verlängert, und doch mit Teilnahme den Narren anhört, ja sogar mit einiger Schadenfreude, wenn er ihren sehr würdigen Haushofmeister verspottet, so wunderbar im scheinbaren Widerspruch mit sich selbst; sie, die gegen den Fürsten fast unartig ist und sich dann sogleich in einen kleinen naseweisen jungen Menschen verliebt, der sie durchaus nicht mit Hochachtung behandelt. Von ihrem gestorbenen Bruder ist nun nicht mehr die Rede, und sie ergibt sich ganz dieser Leidenschaft.«

Mit einer besorglichen Miene fragte jetzt Albertine: »Und Viola?«

»Freilich müssen Sie, schönes Fräulein, diese geben«, erwiderte mit kaltblütiger Ruhe Emmrich. »Und sein Sie unbekümmert; ihr Anzug soll so dezent und zugleich artig ausfallen, daß auch die Prüderie selbst nicht darüber soll murren können. Und ist Ihnen nicht unser Fräulein Dorothea so lobenswert und ohne alle Ängstlichkeit oder Ziererei mit dem Beispiel als Knabe Georg vorangegangen? Der Übermut, den Viola so willkürlich annimmt und anfangs übertreibt, um nur nicht als Mädchen erkannt zu werden, wird Sie, trotz Ihrem Hange zur Schwermut, allerliebst kleiden. Die herzlichen Töne des Gemütes werden dann süß in den Empfindungen der Liebe anklingen, und mit einem Wort, Sie werden so hübsch und reizend sein, daß sich alle[390] Welt in Sie verliebt. Und welch Glück, daß Ihr Brüderchen zu uns gekommen ist; dieser angenehme junge Cadet, der sich schon im Franz so ausgezeichnet hat. Er ist ohne Frage in Anstand und Gesicht seiner Schwester Albertine ähnlich. Sind beide gleich gekleidet, so müssen sie wirklich zum Verwechseln sein. Dieses Vorzugs kann sich nicht leicht ein Theater rühmen, und wir müssen diesen Glücksfall auch benutzen.«

»Nicht wahr?« rief Dorothea, »mir fällt gewiß das kleine schnippische Kammermädchen zu?«

»So ist es, sind Sie damit einverstanden?«

»Herrlich will ich sie spielen«, rief die Übermütige, »vorzüglich, wenn sie den überklugen Malvolio zum besten hat.«

»Diesen«, sprach Emmrich weiter, »habe ich mir freilich selbst vorbehalten. Den Herzog wird Baron Elsheim darstellen, und den lieben, treuen, edlen Antonio, dessen kleine Rolle so hinreißend und eigen interessant ist, wird Herr Leonhard gewiß schön mit seinem weichen und doch kräftig männlichen Tenor sprechen.«

»Alles gut«, sagte Mannlich, »aber ich begreife nicht, wozu Sie mich noch brauchen könnten, da alle Rollen schon besetzt sind.«

»Unentbehrlich sind Sie uns, teurer, verehrter Baron«, rief Emmrich lebhaft aus; »Ihre unvergleichliche Laune, gepaart mit der edlen Sitte der Erziehung, Ihre tiefe Stimme, die Sie so wunderbar in Ihrer Gewalt haben, Ihr Scherz, der sich alles erlauben darf und doch niemals sich bis zum Unziemlichen oder gar Niedrigen vergißt, alles dies stempelt Sie dazu, uns den Oheim der Olivia, den bei allen Schwächen liebenswürdigen Tobias, darzustellen.«

»Wie? den Schlemmer? den Trunkenbold?« rief Mannlich verwundert aus.

»Denselben aber auch«, sagte Emmrich, »der den hochmütigen Malvolio so geistreich neckt, der fähig ist, sich in das hübsche witzige Kammermädchen zu verlieben und sie sogar zu heiraten; denselben endlich, der mit so vieler Laune den Bleichenwang foppt und, wiewohl er ein Trunkenbold ist, doch immer ein Mann von Stande bleibt.«

»Nun, es sei einmal versucht«, sagte Mannlich, der sich durch die Rede geschmeichelt fühlte, lächelnd: »der Seltenheit wegen, und weil ich auch schon früher mein Wort gab, Ihnen unbedingt zu gehorchen. – Aber wem haben Sie diesen Christoph zugeteilt?«

»Diesen Andreas Fieberwange oder Christoph Bleichenwang,[391] wie ihn Schlegel umtauft, wird unser Graf Bitterfeld gewiß mit aller Grazie und Feinheit geben, welche diese sehr schwere Rolle erfordert.«

»Wie gesagt, ich kenne das Gedicht nicht«, bemerkte der Graf, indem er sich vom Sofa erhob, »ich vertraue Ihrer Einsicht aber unbedingt und werde mich für den Mann stellen. Schaffen Sie mir nur bald die Rolle, weil ich nur langsam lerne.«

»In dem Verwalter«, fing Emmrich wieder an, »welcher sich neulich so schnell als Sickingen versuchen mußte, habe ich ein schönes Talent entdeckt, fast die lieblichste Tenorstimme nämlich, die mein Ohr jemals vernommen hat. Dabei kann er, wie ich öfter bemerkt habe, unter seinesgleichen recht kalt und ruhig scherzen; seine Späße gleiten so rund und mit solcher Glätte von seinen Lippen, daß ich ihm die Rolle bestimmt habe, die ich für die schwerste im Stück halte; er soll nämlich den allerliebsten Narren spielen, und ich bin fast jetzt schon überzeugt, daß es ihm mit einiger Zurechtweisung vollkommen gelingen wird.«

»Ich muß mir auch Ihre gütige Unterweisung ausbitten«, sagte Mannlich, »denn soviel ich auch gespielt oder vorgelesen habe, so habe ich mich doch noch niemals im Komischen versucht.«

»Um so erwünschter muß es Ihnen sein«, sagte Emmrich, »sich selber auch in dieser noch fremden Gegend kennenzulernen und sich zu überzeugen, daß dem Hochbegabten nichts unerreichbar ist, wohin er sich auch versteigen mag.«

Man trennte sich, und Leonhard und Elsheim waren diejenigen, welche am meisten nachdenkend schienen: ob über die neue Aufgabe, die sie zu lösen hatten, war nicht zu entscheiden. In diesem Grübeln war es dem jungen Tischler lieb, daß ihn der Professor schon am Nachmittage auf den Rittersaal bestellte, wo, wie jener ihm vertraut hatte, an der dort aufgeschlagenen Bühne viele und wesentliche Veränderungen vorgenommen werden müßten.


Im Vorsaal begegneten sich nach dem Mittagsessen Leonhard und Elsheim. Schweigend sahen sich die Freunde beide lange an, endlich sagte der Tischler: »Ich weiß nicht, Teuerster, wie es ist, aber du scheinst mir seit einigen Tagen, wenigstens auf Stunden lang, so verstimmt, daß ich dir gegenüber meine Unbefangenheit verliere. Oft überrascht mich das Gefühl, ich möchte dich gekränkt oder verletzt haben, und doch wüßte ich nicht zu sagen,[392] wodurch. Soviel ist aber gewiß, jene heitere Laune, die dich auf unserer Herreise begeisterte, ist verschwunden.«

»Und sagst du das«, antwortete Elsheim, »so möchte ich dasselbe von dir behaupten. Oh, Liebster, man hat sich nicht immer so in der Gewalt, wie man es wohl möchte. Unsere Stimmungen hängen nur zu oft von einem unsichtbaren, einem gar nicht zu bezeichnenden Umstande ab. Aprilwetter ist manchmal in uns, dagegen ist nichts zu tun; und man bleibt ein Kind, werde man auch noch so alt. Du weißt es, daß ich mich seit Jahren darauf freute, hier dies Gut zu übernehmen und mit ihm die Übersicht meines Vermögens zu bekommen, meine gute Mutter ganz zur Ruhe zu setzen und sie aller Sorgen zu entheben, einmal das Lieblingsgedicht meiner Jugend aufzuführen und selbst im Darstellen desselben mitzuhandeln; – so ist nun alles auch geworden, wie ich wollte, und das Ende davon ist, ich habe meine Mutter tief beleidigt und ihre alten Freunde gekränkt; sie hat sich entfernt und verzeiht mir jene Übereilung vielleicht niemals ganz nun geht auch die Komödie fort, der ich mich unmöglich entziehen kann, und ich bin dadurch gezwungen, mit dieser Albertine in ein näheres Verhältnis zu treten, welches mich mehr als alles peinigt – jetzt kann ich meinen frühern Leichtsinn nicht wiederfinden, der ehemals alles dies und noch ernstere Dinge wie Staub würde von sich geschüttelt haben.«

Leonhard entfernte sich und zwar mit dem Gefühl, als ob sein Freund nicht ganz aufrichtig gegen ihn gewesen wäre. Er begab sich nach dem Rittersaal, wo der stets rüstige Emmrich schon seiner wartete.

Er war sehr verwundert, daß Emmrich ihm sogleich mit dem Vorschlag entgegentrat, das Theater umzustellen und es in die volle Länge des Saales zu legen, statt daß es jetzt die Hälfte des oblongen Raumes einnahm. »Wir gewinnen damit«, sagte der Professor, »daß die Zuschauer alle uns viel näher sitzen, und daß wir ein viel breiteres Proszenium bekommen. Die Tiefe der Bühne geht freilich dadurch verloren, aber die Tiefe ist es auch, die mich bei jedem andern Theater ärgert und die dem guten Schauspieler das Spiel unendlich erschwert. Goethe sagt einmal im Meister, es wäre zu wünschen, die Spielenden bewegten sich auf dem schmalen Streifen einer Leine. Gewiß kommen sie dem Ziele bedeutend näher, wenn wir die unnütze Tiefe unserer Bühnen abschaffen. Freilich kann dann nicht mehr von einem unglücklichen Krönungszug die Rede sein, der um das ganze tiefe Viereck der Bühne marschiert, um dann im Hintergrund in das zu niedrige[393] Portal einer mächtigen Kathedrale hineinzukriechen. Dergleichen Züge, wenn sie denn einmal sein sollen, müssen dann vorn aus der ersten oder zweiten Kulisse im Profil nach der gegenüberliegenden Öffnung sich begeben, und nur auf diese Weise kann es mit Verstand und kunstmäßig geschehen, wie wir ja auch, wenn wir die Wahl haben, jene Fenster mieten, denen ein wirklicher Aufzug oder eine Prozession auf diese Weise vorübergeht.«

Mit Hülfe der Arbeiter wurde die Erhöhung der Bühne sogleich nach ihren Teilen so aneinandergeschoben, daß sie den Raum einnahm, welchen Emmrich bestimmt hatte.

»Wir haben hierbei außerdem den Vorteil«, sagte der Professor, »daß wir die Tür in der Mitte, die aus dem Saal in die Cabinete dort führt, benutzen und hinter der Bühne die Ankleidezimmer einrichten können; rechts und links sind ebenfalls Ausgänge, so daß das ganze Theater bequem zum Spiel kann gebraucht werden.« – Hierauf gab er dem aufmerksamen Leonhard eine Zeichnung, nach welcher in der Mitte der Bühne, nur wenige Fuß von der letzten Linie des Proszeniums zwei Säulen aufgerichtet werden sollten, die oben, bei zehn Fuß Höhe, einen ziemlich breiten Altan tragen sollten. Die Säulen standen auf drei breiten Stufen, die die Tiefe des Proszeniums noch mehr verengten. »Sie sehen«, sagte Emmrich, »wie mein Streben dahin geht, die Spielenden ganz in den Vordergrund, in die Nähe der Zuschauer zu drängen. Diese drei Stufen führen zu einer inneren kleinen Bühne hinauf, die zuweilen mit einem Vorhang verdeckt, zuweilen offen ist; sie stellt nach Gelegenheit Feld, Höhle, oder Zimmer vor; in unserm Stück ist sie erst die Stube, wo die Trunkenbolde lärmen, und nachher die Gartenlaube, in welcher die Neckenden den tollen Monolog des Malvolio behorchen. Den obern Altan brauchen wir in unserm Lustspiel nicht, wenn er gleich dem Shakespeare und seinen Zeitgenossen unentbehrlich war; zu ihm führen rechts und links ziemlich breite Stufen hinauf. Auf diesen saßen die Ratsversammlungen und Parlamente, und mit wenigen Figuren erschien die Bühne doch angefüllt, weil der Raum rechts und links beschränkt war, und man sich so die Bänke erweitert denken konnte. Auf den Stufen vorn und an den Seiten fielen die Sterbenden hin und lagen natürlich viel malerischer, als auf unsern Theatern; an die freien Säulen lehnten sich die Melancholischen, oder Nachdenkenden; die Stufen rechts oder links schritt Macbeth hinauf, sowie Falstaff in den lustigen Weibern; auf dem obern Balkon standen die Bürger und parlamentierten mit dem Könige Johann und Philipp August; hier unten, von[394] den Stufen erhöht, saßen König und Königin im Hamlet; hier war Macbeths Tafel, wo Banquo erschien. Ohne weitläuftige Belehrung ergibt sich der Vorteil dieser Bühneneinrichtung. Rechts und links auf dem Proszenium konnten zwei sich deutlich absondernde Gruppen stehen; stand die eine etwas zurück, so war die Fiktion sehr natürlich, daß jene gegenüber sie nicht mehr bemerkte; mit zwei einzelnen Personen war die Sache noch natürlicher. Eine dritte Gruppe stand oder saß hier höher, auf der innern kleinern Bühne, die aber doch durch diese Einrichtung den Zuschauern ganz nahe stand. Keine Person deckte die andere, alle waren frei und gleichsam in Rahmen eingefaßt, wodurch das Bildliche und Malerische noch deutlicher hervortrat. War es nun nötig, wie etwa in historischen Stücken, so zeigten sich oben auf dem Altan handelnde und sprechende Figuren; in Heinrich dem Achten waren die Treppen rechts und links vom Parlament besetzt, auf der Stufe in der Mitte saß Wolsey, und über ihm auf der innern Bühne der König Heinrich. So war in allen Umständen, mochte das Bild aus vielen oder wenigen Figuren bestehen, die Gruppierung immer ungefähr so, wie Raffael und die guten Maler ihre Gemälde ordnen. Auf diese Weise war die Bühne für die wesentlichen Forderungen ungefähr in ähnlicher Art wie die des Sophokles beschaffen; doch behaupte ich, man kann im Shakespeare und seinen Zeitgenossen nicht alles verstehen, manches bleibt unklar, wenn man nicht soviel Kenntnis von der Sache hat, um jene echte europäische oder wenigstens englische Bühne sich zu vergegenwärtigen. Frankreich, Deutschland sogar, ebenso Spanien hatten anfangs auch eine ähnliche Einrichtung; als die Franzosen scheinbar aufgeklärt ihre Dramen nach dem Muster der Alten, wie sie sich einbildeten, formten, errichteten sie die neuere Bühne, welche den Tragödien und Lustspielen, in welchen nur wenige Personen sprechen, in welchen sich niemals Gruppen zu stellen brauchen, wo keine Volksaufläufe, Belagerungen und dergleichen sich gestalten, auch vollkommen angemessen ist. Wir Deutschen haben jetzt dieses konventionelle, eng begrenzte Schauspiel wieder aufgegeben; nun paßt uns die angenommene Bühne nicht, diese alte englische oder europäische Form ist vergessen, und wir quälen uns daher höchst unkünstlerisch mit Dekorationen, bauen in den Zwischenakten Hügel und Festungen auf, Galerieen und Terrassen, und fühlen, wie Text und Theater sich gegenseitig hindern, miteinander streiten, alles schwierig, zeitraubend, ungeschickt herauskommt, und der Regisseur sich erleichtert fühlt, wenn er einmal wieder ein Drama[395] einrichtet, in welchem ohne Holzböcke und aufgelegte Bretter, ohne Balcons und Festungswälle gespielt werden kann. Dieses ältere Theater aber, welches wir hier im kleinen nachahmen, spielt in jeder Szene selber mit, es darf sogar zu den Hauptpersonen gerechnet werden, es erleichtert auch jedem Auftretenden sein Spiel, es hilft ihm, es unterstützt ihn, er steht nicht verlassen in einem wüsten leeren Viereck, sondern kann sich geistig und körperlich allenthalben anlehnen und wie ein Gemälde in seinen Rahmen treten. Wollen wir den Shakespeare nun wirklich aufführen, ohne ihn zu entstellen, so müssen wir damit anfangen, uns ein Theater einzurichten, das dem seinigen ähnlich ist.«

»So sind uns jene Dekorationen, die kürzlich gemalt sind, auch ganz überflüssig«, sagte Leonhard.

Emmrich antwortete: »Wenn wir die Räume anständig bekleiden und verzieren, wenn die Vorhänge, die die innere Bühne verdecken, mit Schicklichkeit sich schließen und öffnen, wenn in diesem kleineren Theater die Hinterwand wieder aus Seide oder Tuch besteht, so sind sie uns freilich überflüssig. Indessen können wir einzelne Stücke von Wald, Feld und Garten drinnen aufstellen, um manche Szenen noch bestimmter anzudeuten.«

»Ein sehr viel breiterer Vorhang, als jener, wird aber notwendig sein«, sagte Leonhard.

»Wir brauchen gar keinen, der vorn die ganze Bühne schlösse«, antwortete Emmrich, »wie Shakespeare auch keinen solchen auf seinem Theater hatte. Sorgen wir nur, daß durch Verzierung die Bühne sich geschmackvoll und nicht allzu störend mit dem übrigen Saal verbindet. Bei den Engländern war das ganze Gebäude eine Rotunde oder ein Viereck, und die Logenreihen standen in Verhältnis mit dem Balcon hier; dieser war fast nur eine Fortsetzung derselben, so daß die Bühne in sich selbst ein schön geordnetes Ganzes war, und die Zuschauenden dadurch gleichsam zu den Mitspielenden gehörten, ganz ähnlich dem griechischen Theater. Bei uns ist der grelle Abschnitt der Bühne vom Schauspielhause völlig unkünstlerisch und barbarisch; schon vorher, besonders aber, wenn der Vorhang aufgezogen ist, sieht das Haus nicht anders aus, als wenn die eine Hälfte weggeworfen wäre. Wir setzen gerade darin den Vorzug, daß Bühne und Zuschauer in gar keiner Verbindung sein sollen.«

Leonhard entfernte sich mit der Zeichnung, um darnach eine genauere auszuarbeiten, damit gleich am folgenden Tage der Anfang gemacht werden könne, die Bühne nach dieser neuen Ansicht einzurichten. Indem er fleißig arbeitete und rechnete, fielen[396] ihm die Szenen in Romeo und Othello ein, in Heinrich dem Sechsten und der Sommernacht, die sich anständig, ja selbst möglich nur in dieser Bühneneinrichtung gestalteten. Als er mit seiner Zeichnung schon ziemlich weit gediehen war, kam Emmrich hinzu, und beide arbeiteten nun gemeinschaftlich. Der Professor sagte: »Es gefällt mir an Ihnen, werter Herr Leonhard, daß Sie so leicht die fast angebornen Vorurteile anderer Architekten haben ablegen können; denn diesen schweben in der Regel, wenn von einem Theater die Rede ist, gleich alle die Kindereien und hergebrachten Torheiten vor, die ich für unnütz oder schädlich halte.«

»Wenn wir etwas Neues lernen«, sagte Leonhard, »müssen wir uns diesem gleich ganz hingeben können, damit nicht eine widernatürliche Vermischung zweier entgegengesetzten Dinge entstehe, die schlimmer als alles ist.«

»Sehr wahr«, sagte Emmrich, »und doch glauben oft kluge Menschen, durch eine solche Vermittelung, wie sie es nennen, allen Forderungen zu genügen.«

»Weil so wenige Menschen bedenken«, sagte Leonhard, »daß das Rechte und Tüchtige in sich vollständig sein und aus einem Stücke bestehen muß. Mäkeln denn nicht so viele, auch geistreiche an Meisterwerken? Ist es denn nicht in der Regel das Einzelne, Unzusammenhängende, was die Menschen entzückt? Die meisten sind viel zu kraftlos, um den Glauben und die Demut zu finden, die unerlaßlich sind, um ein echtes Kunstwerk zu verstehen.«

»Das gefällt mir«, erwiderte Emmrich, »daß Sie behaupten, aus Kraft gehe die echte Demut hervor. Nichts ist so unbändig als die Schwäche und Geistesohnmacht. Sie widerstrebt allem Großen und Vollendeten, besonders in der Kunst, sie will keine Autoritäten anerkennen, um sich sklavisch vor dem ersten besten Scharlatan zu erniedrigen, der die geringe Kunst des Taschenspielers besitzt, diesen hochfahrenden Mittelmäßigen zu imponieren.«

»Auch jene trockene Altklugheit«, fuhr Leonhard fort, »ist Schwäche. Diese echten Philister meinen, in ihrem Innern das höchste Ideal zu besitzen, und nun gehen sie sich gar nicht einmal mehr die Mühe, in ein Kunstwerk einzudringen, sondern sie bleiben recht mit Vorsatz außerhalb vor demselben stehen und schauen nun mit blödem Auge an der Poesie und dem Gemälde umher, um nur schnell die Mängel zu finden, die nach ihrer Aussage zum Ideal noch fehlen.«

»Wie Sie schon früher bemerkten«, sagte Emmrich, »so ist eben jedes echte Werk, das der wahren Kunst angehört, in sich selbst[397] begrenzt und vollendet. Aber von jenem ganz verwerflichen Eklektizismus eines Mengs, der die Vorzüge eines Raffael, Tizian und Correggio vereinigen wollte, können sich selbst in unsern Tagen manche hochbegabte Geister nicht losmachen, die für Stimmführer der bessern Zeit und Einsicht gelten wollen.«

Hier wurden sie unterbrochen, indem Elsheim hereintrat, welchem der Schulmeister folgte.

»Ich bringe hier einen Supplikanten«, sagte Elsheim lachend, »der sich durchaus nicht will abweisen lassen.«

»Ja wohl«, sagte der Schulmeister; »ich habe nämlich gehört, daß wieder eine Komödie im Werk ist, und nun sagt mir der Herr Baron, daß Sie, Herr Professor, das Ding diesmal unumschränkt dirigieren, daß er nichts dabei zu befehlen habe, daß ich aber keine Rolle darin bekommen soll, da ich mich doch bei der vorigen Aufführung gewiß zu meinem Vorteil ausgezeichnet habe.«

»Lieber Mann«, sagte Emmrich, »Sie haben gewiß recht wacker agiert, aber unser Herr Baron wünschte doch deswegen hauptsächlich Ihren Beistand, weil Selbitz mit einem Stelzfuß auftreten muß; dieser qualifizierte Sie gleichsam von Natur zu jener Rolle; in dem Lustspiel aber, welches wir jetzt geben wollen, erscheint kein Mann mit dieser Verstümmelung.«

»Lassen Sie sich dienen«, erwiderte der Schulmeister mit der größten Lebhaftigkeit. »Unser junger Herr Baron hat das Stück vom Götz recht sehr hübsch eingerichtet, abgekürzt und umgearbeitet, damit wir es auf dem Theater spielen konnten. Das muß so höre ich und habe es auch gelesen, immerdar mit so widerhaarigen Dingen geschehen, die in unsern Zeiten, da wir viel feiner sind, erst eine anständige Frisur erhalten müssen. Mit dem britannischen wunderlichen Poeten ist das aber am allernötigsten und geschieht auch immer von einsichtigen Leuten. Ich habe mir nun das Buch geben lassen und das schnurrige Ding gelesen. Es ist freilich nicht viel dran, es ist sehr leichte und lose Ware; indessen da Sie, geehrter Herr Professor, einmal eine Vorliebe für die schnakische Komödie haben, so bin ich gekommen, Ihnen einen recht akzeptablen Vorschlag zu tun, der Ihnen auch Ehre bringen wird. Als der Häscher oder Gerichtsfron nämlich den alten Antonio, den Seecapitain, seinem jungen Herzoge als Gefangenen vorstellt, sagt er unter andern Worten auch ungefähr so: ›Das ist der Antonio, der den Phönix enterte, wo Euer junger Neff ein Bein verlor.‹ – Die Rede ist mir gleich aufgefallen. Setzen wir statt dessen: wo Euer alter Ohm ein Bein[398] verlor, und bringen Sie so, verehrter Herr Professor, mir und der Komödie zuliebe einen alten, tüchtigen, tapferen und welterfahrenen Mann in das Stück, der wieder, wie Selbitz, einen Stelzfuß haben kann und muß. Begreifen Sie nur, Herr Professor, daß es überhaupt in dem Stück an einem verständigen Manne fehlt, denn die meisten sind wirkliche Narren. Dieser Oheim kann also klüger sein, als alle, er kann gewissermaßen die Politik des Herzogs lenken; er ist auch gegen das Heiratsprojekt mit der abenteuerlichen Olivia, er möchte überhaupt gern Ruhe und Ordnung an dem verwirrten Hofe herstellen, und nur die phantastischen Launen des jungen Fürsten arbeiten ihm immer entgegen. Wie er seinen ehemaligen Feind, den biederherzigen Antonio, wiederfindet, ihm Gerechtigkeit widerfahren läßt, den alten Groll aufgibt und sich mit ihm versöhnt; – welche herrliche, rührende Szene könnte das geben! Wie edler fiele das Ganze aus, wenn sich die schwärmerische Viola gleich von Anfang diesem biedern Alten vertraute, und er, da er ein persönlicher Freund ihres Vaters gewesen ist, ihr mit Rat und Tat beistände, so die Entwicklung und den Schluß viel vernünftiger machte und ihm einen Teil des Abenteuerlichen nähme, welches so gehäuft ist, daß es den Gebildeten verletzen muß. Werter Herr Professor, dichten Sie diese Szenen hinzu und schieben Sie sie ein, und Sie werden sehen, was das Ganze dadurch gewinnen wird. Ich aber bleibe Ihnen ewig dankbar, denn Sie haben mir eine herrliche Rolle erschaffen.«

Emmrich konnte es nicht unterlassen, Leonhard schalkhaft lächelnd anzusehen, worauf er sich aber gleich mit der größten Ernsthaftigkeit zum Stelzfuß wandte, indem er sagte: »Lieber Mann, es ist mir nicht möglich, Ihnen in der Kürze deutlich zu machen, wie Ihr abenteuerlicher Vorschlag auf keine Weise anzunehmen ist, weil auf diese Weise das ganze Gedicht zerstört würde. Sie scheinen es ganz vergessen zu haben, daß wir uns auch beim Götz dergleichen gewaltsame Zusätze nicht erlaubten, ja, wenn man so freibeuten wollte, könnte man auch recht bequem den Selbitz und Sickingen zu einer Person vereinigen. Nein, mein Freund, bei diesem Stück können wir durchaus Ihre Unterstützung nicht brauchen.«

»Nun meinethalben!« rief der Schulmeister erbost, »Sie mögen es also haben mit Ihrer Aufführung eines barbarischen Werks! Das ist nun also mein Dank, daß ich mir vorher die Mühe gegeben und zweimal als Selbitz so allgemeinen Beifall eingeerntet habe? Auch die höchsten und allerhöchsten Herrschaften[399] haben mein Spiel gelobt und sehr gelobt, ich habe es wohl wieder erfahren und bin dadurch außerordentlich aufgemuntert worden. Ja, ja! aber Neid, Mißgunst! Wo sich einmal Talent bei einem armen, sonst unbemerkten Manne zeigt, da ist es gleich diesem und jenem nicht recht, da fürchtet gleich der und der, er leide Schaden dabei, er werde verdunkelt, man könne den armen, ungelehrten, bürgerlichen Kauz wohl gar ihm vorziehen; der ist gut genug, das Vieh zu hüten und die ungezogene Dorfjugend zu prügeln. Und daß nun mein Stelzfuß zum Vorwand dienen muß, mein abgenommenes Bein, das ich vor dem Feinde und im Dienst des Vaterlandes verloren habe, das ist allzu hart, das möchte den Stein in der Erde erbarmen, das ist – –«

Er war in ein heftiges Weinen geraten, und schluchzte jetzt so stark, daß er nicht weitersprechen konnte. Emmrich war verstimmt, verdrüßlich und dennoch beinahe über diese Torheit und Leidenschaft des alten Mannes etwas gerührt. »Geben Sie sich zufrieden«, sagte er dann, und legte ihm die Hand auf die Schulter; »wenn Sie mir eins versprechen und Ihr Wort halten können, so will ich Ihnen eine Rolle, wenn auch keine große, anvertrauen.«

Der Schulmeister trocknete schnell seine Augen, und seine trübselige Miene ging in ein heiteres Lachen über. »Sie haben«, fuhr Emmrich fort, »Ihren Selbitz recht brav und mit Einsicht gespielt, nur drängte er sich zuviel vor, und Sie sprachen jedes Wort, auch das unbedeutendste, zu laut und gewichtig. Wollen Sie also meiner Anweisung folgen und sich gehörig mäßigen, ganz natürlich und einfach sprechen, so sollen Sie den Fabio oder Fabian spielen, zwar keine große Rolle, aber einen von den wenigen verständigen Menschen im Stück, den der Dichter sich für die letzte Hälfte aufbewahrt hat. Er kann von mittlerem Alter sein, und der Stelzfuß wird nicht sehr hindern.«

Der Schulmeister küßte im Rausche der Dankbarkeit und Freude die Hand des Professors, und eilte in Begeisterung fort, um sogleich seine Rolle abzuschreiben und sie auswendig zu lernen. »Über die beiden so verschiedenen Narren!« sagte Elsheim; »der eine weinte neulich, weil er mitspielen sollte, und dieser heult, weil man ihm eine Rolle verweigert. Aber schlimm, lieber Professor, haben Sie sich gebettet, denn nach Ihrer Anordnung kommt nun der Graf Bitterfeld in unmittelbare Berührung mit diesem Schulmeister und dem Verwalter.«

»Wie schwer ist es«, sagte Emmrich, »das Regiment zu führen, und wie verwickelt sind alle Regierungsverhältnisse!«[400]

Die neue Einrichtung des Theaters war, da man eilte und die Gehülfen fleißig waren, in wenigen Tagen beendigt. Emmrich sagte zu Elsheim: »Da nun, wie Sie mir mitteilten, Ihre Mutter bald zurück kommt, und gleich nachher ihr Geburtstag einfällt, so denke ich, feiern wir diesen mit der Aufführung unseres Stücks, und Sie erlauben mir wohl, einen kleinen Epilog hinzuzufügen, um der alten Dame einige Artigkeiten zu sagen. Ich hoffe, sie soll sich dadurch mit unserm Theater wieder versöhnen.«

»Mir ist es auch schon eingefallen«, erwiderte Elsheim, »und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.« Jetzt verfügte man sich in den Saal, wo die übrige Gesellschaft schon versammelt war, und der Professor las allen Mitspielenden das Lustspiel vor, weil er ihnen so am besten andeuten konnte, in welchem Sinne jede Rolle gefaßt, und in welcher Spiel- und Tonart sie gesprochen und dargestellt werden müsse. Elsheim, der die Komödie genau kannte und liebte, fühlte sich doch überrascht, weil ihm jetzt zum erstenmal die harmonische Einheit, die hohe Vollendung dieses Kunstwerks deutlich wurde. Als Emmrich geendigt hatte, sagte er: »mitteilen? So schön dieses Gedicht in sanften Reden von Liebe Sehnsucht und poetischen Träumen duftet, so weht doch durch den ganzen Blumenstrauß ein leiser Zephyr ebenso anmutig in feiner Ironie, und er ist es eben, der, die Blütenkränze anregend, ihnen diesen süßen Atem entlockt. Es scheint, in unserer Zeit wenigstens, den meisten Poesiefreunden zu schwer, zum Teil unmöglich, sich diese Lieblichkeit und Fülle im Vortrage dieses leichten und doch bedeutsamen Scherzes anzueignen. Unsere Bildung hat etwas Prunkendes, Schwerfälliges, und die sich für leichtfertig oder für freigeistige Libertins geben, hantieren in ihrem traurigen Gewerbe ebenso steif und altklug, indem sie alles Ernste und Poetische mit grobem Hohn von sich abweisen. Jene Zeiten, die wir in unserm Dünkel gern barbarisch schelten möchten, waren in dieser Hinsicht feiner gestimmt, denn sonst hätte dieses Stück, sowie die ›Sommernacht‹, der ›Liebe Müh‹ und ›Wie es euch gefällt‹, nicht zu Lieblingsstücken werden können. Hat auch kein anderer Zeitgenoß, außer Shakespeare, diese himmelreine ätherische Höhe erstiegen, so grenzt doch manches Werk jener Tage an die seinigen, und wenn auch die Zuschauer diesen Lebenswein nicht mit vollem Bewußtsein einschlürften, um genau zu wissen, was sie tranken, so ist doch der Instinkt, das Gefühl und die reine Luft sehr hochzustellen, mit der sie diese Kunstwerke, vielleicht ohne alle Kritik, genossen«.[401]

»Ein wahres Publikum«, sagte Elsheim, »sollte wohl immer so sein, wie Sie es da eben beschreiben, der echte Dichter könnte sich wenigstens kein besseres wünschen. Sind noch einige wahre Kenner in diesem Parterre, die diese Gefühle erläutern, anstatt sie irrezuführen, so ist eigentlich eine wahre Kunstzeit repräsentiert.«

»Das Stück heißt«, fuhr Emmrich fort »ein Drei-Königs-Abend oder eigentlich bloß Twelf-night. Ein alter Gebrauch hatte an diesem Abend eine Menge Späße, Scherze, Verkleidungen ländlicher, mitunter etwas roher und bäuerlicher Feste erlaubt aber für diese Stunden auch alle Hazard-Spiele, welche sonst streng verboten waren. Selbst am Hofe huldigte man der alten Sitte und Freiheit. An diesem Abend wurde also vielleicht auch dieses sonderbare Lustspiel, welches lauter Glücksfälle enthält, zuerst gespielt, es war also die Lust eines Drei-Königs-Abends, an welchem auch der Bohnenkönig durch Lotterie erwählt oder gefunden ward; eine solche heitere Torheit losgebundener Laune sollte es vorstellen, oder – setzt der Dichter mit heiterm Leichtsinn hinzu – Was ihr sonst wollt – nennt es, wie es euch gut dünkt. – Sogleich im Anbeginn sehen wir einen phantastischen jungen Fürsten, der mit der Leidenschaft der Liebe spielt und gewaltsam das Herz einer jungen Schönheit, die außerdem eine reiche Erbin ist, zu gewinnen trachtet. Sie will nichts von ihm wissen und trauert in der Einsamkeit um ihren Bruder. Sie erheitert aber den Schmerz, mit welchem sie auch poetisch spielt, mit dem Kammermädchen und dem Geschwätz ihres Narren; und in Sehnsucht nach wahrer Liebe, weil sie an die des Herzogs nicht glaubt, überläßt sie sich einem leidenschaftlichen Gefühl für einen schönen vermeinten Jüngling. Diese Person, aus einem guten Hause stammend, aber ohne Vermögen, ist mit dem ebenso schönen Bruder leichthin auf Abenteuer ausgereiset, und beide wollen Glück machen oder es suchen. Es gelingt auch beiden über Erwartung; sie fesselt den jungen Fürsten, in den sie sich verliebt hat, und er trägt, weil er durch die Ähnlichkeit mit seiner Schwester verwechselt wird, die reiche Erbin davon, deren große Güter doch vielleicht in der Liebe des Fürsten am meisten den Ausschlag gaben. Ein reicher Freier, der auch um Olivien wirbt, wird von allen gefoppt, am meisten von einem launigen, tollen und Wein liebenden Oheim, der obenein Geld von ihm zieht, indem er seine Albernheit und komische Feigheit in Tätigkeit setzt. Diesen erobert noch das kleine witzige Kammermädchen und wird durch diese Verbindung mit ihrer Gebieterin verwandt. Die[402] meisten gewinnen, fast ohne Bemühung, durch Leichtsinn und ohne tiefen Plan oder angestrengten Verstand ein großes, bedeutendes Los, und nur der hochmütige, grollende Malvolio, der seiner Überzeugung nach schon die Bohne gefunden hat und also unbedingt der oberste Herrscher und König des Festes ist, geht ganz leer aus und wird zum Gegenstand des allgemeinen Gespöttes. Wie mancher Dichter, und wir haben dergleichen Werke von großen ausgezeichneten Talenten, würde nun mit scharfer Bitterkeit alle diese Absichten dem Zuschauer so recht nahe vors Auge gerückt haben, um in der Anklage menschlicher Schwächen und Torheiten einen herben unerfreulichen Witz zu entwickeln: ein solches Lustspiel aber, wenn man auch den Verstand des Verfassers bewundert, kränkt und demütigt mehr, als daß es erheitern und erheben könnte. Shakespeare läßt in seinem ätherischen Gewebe alles dies mehr ahnden, höchstens erraten. Daher, wie gesagt, geschieht es denn auch, daß ein solches Gewirk, welches von Feenhand gewoben ist, seiner Feinheit wegen für unbedeutend gehalten wird.«

»So mag es wohl sein!« rief jetzt der Schulmeister, der sich nicht länger zurückhalten konnte, »– und ich bitte ab. Wenn man nur öfter dazu Gelegenheit hätte, daß einem solche Lichter aufgesteckt würden!«

Alle sahen den aufgeregten Husaren mit einiger Verwunderung an; er ließ sich aber nicht irremachen, sondern schmunzelte lächelnd wie in sich selbst hinein und rieb fröhlich die Hände.

»Am liebenswürdigsten«, fing Emmrich wieder an, »ist dieser poetische Leichtsinn, der im ganzen Stücke vorherrscht, in der herrlichen Viola gezeichnet. Sie jammert um den Bruder, der nach ihrer Meinung ertrunken ist ›Ach armer Bruder!‹ – und unmittelbar darauf, heiter und lebensmutig ›Vielleicht entkam er doch!‹ – Sie erkennt Oliviens Leidenschaft zu ihr, indem sie beklagt, daß sie selbst den Herzog liebt, für den sie werben muß ›Wie soll das werden?‹ sagt sie – und gleich hernach ›O Zeit, du selbst entwirre dies, nicht ich!‹ – Der redliche, alte, erfahrene Antonio hat eine solche poetische Freundschaft für den jungen Burschen Sebastian gefaßt, daß er ihm in die feindliche Stadt mit Gefahr seines Lebens folgt, und erscheint hierin leichtsinnig, gleich den übrigen. Aber ein praktischer verständiger Mann sieht auf alles dies Getreibe mit Lebensweisheit und echter Ironie hinab, jeden benutzend, um zu erwerben und seinen Besitz zu vermehren, und dieser Gründliche, Erfahrene ist der Narr des Stocks, der freilich auch, weiß der Himmel aus welchem poetischen Gelüste,[403] weggelaufen war und in Gefahr stand, seinen bequemen und einträglichen Dienst zu verlieren.«

Nachdem man sich getrennt hatte, nahm der eifrige Emmrich den Schulmeister mit auf sein Zimmer, um ihm die Rolle des Fabio einzustudieren.

Als ihm Elsheim nachher im Garten begegnete, und ihn, der nicht mehr jung war, mit seiner Unermüdlichkeit scherzend neckte, sagte der Professor: »Lieber Freund, brauche ich es Ihnen denn auseinanderzusetzen, daß man nichts im Leben mit solchem Ernst und Eifer treiben müsse, als die sogenannten Spiele? Bei wahren Geschäften und Amtsverrichtungen, dem Richter und Geistlichen mag hie und da ein Nachlaß erlaubt sein, es kann selbst Wohltat werden, dies und jenes, was notwendig schien, fallenzulassen – aber was bleibt vom Spiel übrig, wenn wir es mit Leichtsinn und obenhin treiben und es dadurch zerstören? Hier muß die Regel beobachtet werden, auch das Kleinste darf man nicht nachlassen, und fragt man erst: Wozu fruchtet's? Welchen Schaden bringt die Vernachlässigung? so ist es viel besser, die ganze Sache gleich aufzugeben. – Jetzt geh ich, dem Grafen und dem Baron Mannlich ihre Rollen beizubringen.«

Elsheim begleitete ihn in den kleinen Saal, wo die beiden Herren schon seiner warteten. Elsheim setzte sich nieder, indem er sagte: »Ich will keine Störung machen, lieben Freunde, sondern auch bei dieser Gelegenheit von unserm Professor etwas lernen.«

Mannlich und der Graf begannen ihre Rollen; beide sprachen und gebärdeten sich, mit einigen Modifikationen, so wie sie es gewöhnlich im Leben taten, und Emmrich sagte: »Sie haben, Baron Mannlich, ganz meine Meinung gefaßt. Dieser Tobias ist ein wackerer Edelmann aus gutem Hause, er ist brav, mutig und kann den Cavalier nicht verleugnen. Nur hat er sich aus Bequemlichkeit gehen und dabei etwas sinken lassen, er ist in schlechte Gesellschaft geraten und war in dieser immer der Klügste und Anständigste. Im Hause seiner reichen Nichte hat er für nichts zu sorgen, und da er ohne Beschäftigung und ein alter Junggesell ist, so hat er sich dem Schlemmen, doch auf eine unschuldige Weise, ergeben. In den Anfällen seiner Trunkenheit ist er, wie die meisten Berauschten, kurz angebunden und grob; aber zur Besinnung gekommen liebt er Witz und Heiterkeit so sehr, daß er aus Dankbarkeit für die Unterhaltung, welche ihm Maria mit Malvolio verschafft hat, dies Kammermädchen heiratet. Es wäre also unrecht und ganz falsch, wollte man aus diesem Mann eine Karikatur machen, oder ihn in das niedrige Element hinabziehen.[404]

Daß Sie, Baron, ihn nicht allzu würdig, oder gar tragisch nehmen werden, dafür bürgt mir Ihr gesunder Sinn.«

Graf Bitterfeld sagte: »Nun, Professor, machen Sie mir das noch etwas deutlicher, was Sie mir neulich schon über meine Rolle auseinandergesetzt haben, die ich wahrlich bloß Ihnen und der Gesellschaft zuliebe übernommen habe.«

Emmrich sagte: »Verehrter Herr Graf, ist es nicht die schönste Humanität und die feinste Urbanität, wenn man nicht nur die Scherze einer liebenswürdigen Gesellschaft ausführen hilft, sondern selbst etwas von seinem eigenen Wesen preisgibt, um über sich selbst auf eine gelinde Art spotten zu lassen? Und so wünsche ich, daß Sie in dieser fein komischen Rolle nicht das Gebildete Ihres Standes, noch die Finesse Ihrer Persönlichkeit und die Gewandtheit Ihres geselligen Umgangs fallenlassen. Denn die sind eben die unerträglichen Malvolios in der Gesellschaft, die immer über sich wachen, sich bei jedem Scherz beleidigt wähnen, die sich immer in Positur setzen, um ihre Würde zu behaupten. Bleichenwang oder Fieberwange ist ein guter Mensch und auch von guter Familie, er kann schon über die dreißig sein; sind die jungen Leute geschminkt und von lebhafter Farbe, ist Tobias vom vielen Trinken übermäßig rot, so deutet sein Name schon an, daß er ziemlich blaß, oder mit einem gelblichen Teint erscheint. Er ist schlank und wohlgebaut, neigt aber etwas zur Magerkeit hin, denn er beneidet den Narren um seine Waden. Dieser reiche, unabhängige Mann ist dadurch so liebenswürdig, daß er so unendlich bescheiden ist, was wohl die wenigsten in seiner Stellung sein würden. Wie der alte Antonio den jungen Sebastian fast vergöttert, so hängt er beinahe mit derselben Leidenschaft an seinem Freund Tobias; dieser ist sein Vorbild, beinahe sein Ideal, wie man sich jetzt ausdrücken würde; er hat kein Arg daraus, daß dieser ihn foppt und plündert, er spricht ihm alles nach, er tut, was dieser wünscht, er will gern ebenso erscheinen, wie jener. Dabei seine wahrhaft edle Liebe zur Musik, sein freier, künstlerischer Sinn, daß er am Narren die schöne Stimme und den Gesang zu schätzen weiß. Es entdeckt sich freilich nachher, daß er kein Freund von Zweikämpfen ist und sich in den Waffen und im Kriege niemals auszeichnen wird, indessen ist er auch in dieser Furchtsamkeit so gutmütig und niemals unedel, so daß ihm der Zuschauer seine Liebe nicht versagen kann. – Sie sehen also, Herr Graf, wie sehr ich recht habe, wenn ich wünsche, daß Sie diese feine Zeichnung nicht als Karikatur behandeln mögen; nein, im Gegenteil, lassen Sie sich ganz ruhig gehen, spielen und sprechen[405] Sie fast so, wie Sie es gewohnt sind und immerdar erscheinen: Ihr feiner Takt, Ihr eigener Witz wird Ihnen die Nuancen zeigen, Ihr Gefühl aber wird jene geistigen Modulationen Sie finden lehren, die sich einem gewöhnlichen Menschen niemals andeuten lassen, und die einem Geiste auseinanderzusetzen, wie der Ihrige, durchaus überflüssig ist.«

Als Elsheim mit dem Professor durch den Garten ging, sagte er: »Verzeihen Sie, wenn ich Ihre Auseinandersetzung dieser Charaktere für Sophisterei halte.«

»So?« sagte Emmrich ruhig; »geben Sie nur acht, der Erfolg wird mich rechtfertigen.«


Leonhard war fast bekümmert, als der neue Theaterbau vollendet war. Er war übermäßig fleißig gewesen, er hatte allenthalben selbst Hand angelegt, er hatte sich meistenteils bis zur Ermüdung angestrengt, und seine Freunde, wie die Handarbeiter, hatten ihm mit Erstaunen zugesehen, weil es ihnen ein ganz neues Schauspiel war, daß ein Professor der Architektur den Hobel, Bohrer und die Säge so wenig scheue. War er dann gegen den Untergang der Sonne so durch und durch ermüdet, daß er den Augenblick des Schlafengehens mit Ungeduld erwartete, so war ihm unaussprechlich wohl, denn er konnte in dieser Ermüdung die Bilder und Gedanken auf Augenblicke vergessen, die ihn immerdar verfolgten.

Mit sich unzufrieden und dennoch von süßen Vorstellungen trunken, war er am Morgen in den Garten gegangen. Die Frühsonne glänzte so lieblich durch die Linden, und sein Schritt trug ihn nach jener geheimnisvollen Laube, in welcher er schon zweimal an Charlottens Seite so selig gewesen war. Er leugnete es sich ab, daß er diese verführerische Schönheit aufsuche, er mußte sich aber sein Gelüst bekennen, als er völlig verstimmt wieder aus der leeren Laube trat. So ist der schwache Mensch, sagte er zu sich selber; was suchst du hier, und was hättest du, wenn du sie fändest? Soll dich diese Torheit denn immerdar quälen und dir jede Stunde verbittern? Nein, ich bin ein Mann und bleibe meinen besseren Gefühlen getreu. – Mit einem Ausruf der Freude betrat er den sonnenbeglänzten Gang, denn Fräulein Charlotte hüpfte ihm dort vom Schlosse her entgegen.

»So irrte ich mich doch nicht, Leonhard«, sagte sie mit ihrer Silberstimme, »wenn ich Sie im Garten wahrzunehmen glaubte. Nicht wahr, dieser Tag ist ein schöner, ein auserlesener? Und diese[406] Frühstunden sind so balsamisch, sie wirken so wohltätig auf alle unsere Gefühle, daß unsere Seele so wohlgemut aufblüht, wie die Rosenknospe.«

»Ich war in dieser Laube«, sagte Leonhard, »und wähnte, Sie hier zu finden; da meine Hoffnung mich trog, wollte ich das Angedenken jener süßen Augenblicke feiern, die ich dort genoß.«

»Kommen Sie mit mir«, rief sie lebhaft aus, »ins Freie; es gibt Zeiten und Stimmungen, in welchen uns auch der schönste Garten ängstigen kann.«

Sie ließen das eiserne Gattertor hinter sich zufallen, und standen jetzt im Felde. »Wie herrlich die Ähren wogen!« sagte sie; »nicht lange mehr, so wird die Sichel in das Korn gehen, und der schönste Teil des Sommers ist dann vorüber. Alles Liebliche ist so flüchtig, alles Schöne hält uns nicht stand, und wir besitzen nichts, als nur wie in einem süßen Traum gefesselt; wenn wir erwachen, hat uns die nüchterne Wirklichkeit um alle unsere Schätze betrogen.«

»Gibt es kein Mittel«, antwortete Leonhard, »auch die Wirklichkeit zum Traum zu erhöhen? Können wir nicht so viele Blumen mit verständiger und sorglicher Hand in unser Leben hineinpflanzen, daß einige immerdar blühen?«

»Nein! nein!« rief sie fast heftig aus, »in der Wahrheit, im eigentlichen wirklichen Leben gibt es kein Glück; nur in der Täuschung glühen die Morgen- und Abendfarben, die die Nacht und der klare Tag vertreiben. Wenn wir entzückt und berauscht taumeln, wie im heftigen Tanz, so halten wir Takt mit der begeisternden Musik und schwingen uns harmonisch in ihrem wilden Rhythmus; wollten wir dasselbe mit nüchternem Bewußtsein tun, es würde uns ewig nicht gelingen.«

Sie bogen in einen Fußsteig, der durch das hohe Korn führte. »Dort am Saum des Buchenwaldes«, sagte sie, »wohnt die Schwiegertochter des alten Försters; ihr Mann ist im vorigen Jahr gestorben, und ich habe mich mit dem artigen jungen Weibchen befreundet. Dort wollen wir ausruhen.«

Die einsame Hütte war reinlich und anmutig, die frische Kühle, die vom Walde hereinwehte, war erquickend. Die junge Frau kam der reizenden Besucherin freundlich entgegen, und sie begrüßten sich als Bekannte. Sie stellte auf den Tisch von Nußbaumholz zwei Gläser Milch zur Erfrischung und entschuldigte sich dann, daß sie nicht unbedeutender Geschäfte halber zu ihrem alten Vater hinüber müsse. So saßen die beiden in der kühlen Dämmerung, und es schien, als könne keines von beiden das erste[407] Wort finden, um ein Gespräch in den Gang zu bringen. Leonhard blickte sinnend umher, und es schien ihm, als wenn das Eintreten in das kleine Haus, sowie die Entfernung der jungen Frau, etwas Abgeredetes sei, welches der Zufall nicht so herbeigeführt haben könne. Warum ihn dieser Argwohn, oder diese Entdeckung, statt ihn fröhlich zu machen, schwermütig stimme, begriff er selber nicht. Charlotte stand auf und sah aus dem Fenster; dann setzte sie sich wieder zu ihm und näher als zuvor, sah ihn mit ihrem süßen, verführerischen Lächeln an, und von den vollen roten Lippen sprang nur die einzige Silbe: »Nun?«

»Wie glücklich bin ich«, sagte er nach einer kleinen Pause »mich so an Ihrer Seite in dieser seligen Einsamkeit zu finden!«

»So?« sagte sie, indem sie ihm mit der flachen Hand vor die Stirn schlug; »warum sind denn diese Augen so leuchtend und schön, warum ist denn diese Stirn so sinnend und gedankenreich, wenn Euer Wohlgeboren nichts Besseres zu sagen wissen – in einer Minute, auf welche ich mich schon seit lange gefreut habe? O du Böser, Abscheulicher! Wie klang neulich das vertrauliche Du so süß von deinen Lippen!«

Sie stand auf, umschlang ihn mit ihren Armen und küßte ihn lebhaft. »Ist es dir so recht, Anmaßender? Dankst du es mir nun, daß ich dich so unendlich liebhabe? daß ich dich anbeten muß? O nein, du bist nicht wie die andern Männer.«

»O Lottchen!« rief Leonhard begeistert aus, »wie habe ich dich hier finden müssen, dich, du einziges Wesen! Die Sinne vergehen mir, und die Welt verschwindet, wenn ich dich so in meinen Armen halte.«

Die zärtlichsten Küsse unterbrachen und hemmten das Gespräch. Sie duldete seine Liebkosungen und freute sich der entzückten Worte, die er im Taumel über ihre Schönheit aussprach. »Ist das nicht ein Leben?« rief sie endlich, »doch wohl besser, als euer einfältiges Komödiespielen! So hin und her schlendern, so stammeln in Empfindungen, die auswendig gelernt sind, Worte die sich selber nicht verstehen! Nicht wahr, ein Händedruck, ein Blick aus dem innersten Auge, und gar ein Kuß, ein herzinniger in welchem die ganze Seele aufblüht, das ist ganz etwas anderes?«

»Geliebteste«, sagte Leonhard, »freilich ist alles vergänglich und muß es sein, aber ein solcher Moment wiegt Jahre auf.«

»O wie kann man, wie kann man ohne Liebe leben?« erwiderte sie »sie ist das Licht und die Sonne unseres Daseins. An jedem Morgen denke ich zuerst an dich, ich warte auf dein Auge; treten[408] wir in den Saal, so suche ich dich unter den anderen; ich hasse den, der zwischen uns tritt und dich meinem Auge verdeckt. Dann hör ich deine Stimme – und was ist mir Musik gegen diese Töne, aus denen deine ganze Seele spricht? Du erzählst, du streitest mit andern, dein Blick trifft den meinigen, der dich schon lange gesucht hat; du redest mich an – mein Herz zittert; du lächelst – das fällt in meine Brust, wie der Frühlingsregen in die Blumen; du gehst – alles ist Schatten. Es wird Nacht. Ich sehe dich vor mir, ich halte dich in meinen Armen, ich träume von dir. Und nun der neue Morgen – und mit jedem Tage, mit jeder Stunde kommt man sich näher, man wird sich unentbehrlicher, Gemüt, Launen, Blicke, Akzente versteht man inniger – o mein Teurer, den Tod nachher, wenn das vorüber ist; denn wozu noch leben? O Himmel, wie dürr, wie elend war mein Gemüt und Herz, ehe ich dich kennenlernte! Mit dir, in dir bin ich erst geworden! Kannst du mich denn lieben, du Treuer, Einziger?«

»In diesem Kusse«, erwiderte er, »in dieser Umarmung mußt du es fühlen. Wer bin ich, daß du dich meiner so angenommen hast – was kann ich dir sein, dir, die du so reich begabt bist?«

»Schlage den hellen Blick nicht so nieder«, lispelte sie. »Du warst mir fremd, und doch liebe ich dich; du wirst uns wieder verlassen müssen, und ich werde nicht aufhören, dich zu lieben. Ich weiß von dir nichts weiter, will nichts wissen, als daß du mein bist. Du bist vielleicht in deiner Heimat versprochen, wohl gar vermählt – kann sein; damals war dir mein Herz noch nicht zugewendet, du kanntest mich noch nicht. Diese Stunden hier gehören uns und sollen uns heilig sein. Du weißt ja auch nicht, ob mein Herz nicht schon früher einmal verloren war; welch Recht hast du, darnach zu forschen? Nur die Gegenwart ist unser.«

Es gibt Momente im Leben, in welchen ein Glück, selbst ein begehrtes, ängstigt und quält. Das Herz ist dann in seinen Gefühlen zerrissen und zerspalten; der Geist und Wille können sich nicht aneignen, was doch schon ihr Eigentum ist. In dieser sonderbaren Stimmung war Leonhard jetzt, so Wunderbares erlebte er in diesen Stunden. An diesem schönen Busen, von diesen reizenden Armen umschlossen, so herzlich geküßt und mit Sehnsucht der Liebe angeblickt, fühlte er sich von einzigem Glücke, von hoher Wonne so mächtig umrauscht, daß seine Geister, auf jeden Atemzug lauschend, gleichsam betäubt wurden. Er wünschte, diese Momente der Seligkeit schon überlebt zu haben, um sich nur wieder besinnen zu können.

Es war, als wenn sie in seiner Seele läse, denn sie schmollte[409] mit ihm und sagte aufgeregt: »Aber nicht eifersüchtig, eifersüchtig laß mich nicht werden; dies Gefühl ist das unerträglichste, welches der Mensch erleben kann. Du blickst Albertinen stets so freundlich, so lächelnd an; du lauschest auf jedes ihrer Worte: oh, Liebster, quäle mich damit nicht; denn dieses Wesen, so nahe sie mir verwandt ist, so verhaßt ist sie mir in allem, was sie tut und treibt. Sie hat es ganz verlernt, natürlich zu sein, sie denkt immer nur an sich und kann niemand lieben. Diese Prüderie und Selbstsucht ist meinem Gefühl unerträglich. Sei du aber auch nicht eifersüchtig, wenn ich einmal diesem oder jenem freundlich bin, wie ich es doch nicht vermeiden kann.«

Die hölzerne Uhr an der Wand hatte schon wiederholentlich geschlagen; jetzt schien Charlotte bedenklich zu werden, sie wand sich aus den Armen Leonhards, stand schnell auf, drückte ihm noch einen eiligen Kuß auf den Mund und ging vor den Spiegel, um Hut und Locken zu ordnen. »Die junge Frau wird mich draußen erwarten«, sagte sie dann, »sie begleitet mich zurück; bleibe du aber noch hier, oder nimm einen andern Weg nach dem Schlosse zurück, damit niemand auf den Argwohn fällt, als ob wir so lange beisammen gewesen wären.«

Sie nahmen Abschied, und Leonhard sah der schönen Gestalt nach, wie sie leichten Schrittes mit der jungen Frau dahinwandelte, beide in lebhaftem Gespräch. Er verließ nun das Haus und eilte sogleich in den nahen Wald, sprang über den Graben, der an der Straße hinlief, und vertiefte sich weit hinein, wo die Bäume am dichtesten standen, wo kein Fußsteig hinführte, und wo er hoffen durfte, von keinem menschlichen Wesen aufgefunden und gestört zu werden. Er warf sich nieder und verbarg sein Haupt in das Gras, ein Tränenstrom floß aus seinen Augen, und sein Herz klopfte so ungestüm, als wenn es ihm die Brust zersprengen wollte. Wer bin ich? dachte er in diesen aufgeregten Schmerzen; was will ich? – Bin ich denn glücklich, oder in ein tiefes, tiefes Elend versunken? – Noch niemals, niemals hat mein gieriges, trunkenes Auge solche Schönheit gesehen. – Seine Einbildung wiederholte ihm in Glut und Leben alles Reizende, alles Verführerische seiner Geliebten. – Schon in meiner Jugend, dachte er dann weiter, dort und hie, in Städten und auf dem Lande, war mir manche Schöne freundlich, manche reiche Witwe kam mir fragend entgegen; – ich entzog mich allen, ich verlor mein Herz nicht, und muß jetzt, nach Jahren, im reifen Alter, so knabenhaft untergehen? Sie ist mir Adelheid, und ich bin fast der betörte Franz. – Lieb ich sie denn? Könnt ich denn wünschen, daß[410] sie meine Gattin sein dürfte? – Nein, beim Himmel nicht! Wenn ich an Friederiken denke – wie bin ich beschäme! – Wie erscheine mir Kunigunde wie ein großes mächtiges Heiligenbild, von einem alten Künstler auf Goldgrund gemalt! – Jetzt versteh ich die alten wunderlichen Märchen, die ich wohl vormals habe erzählen hören, wie ein Mensch in den Venusberg gerät und dort für immer verloren ist, von bösen Geistern festgehalten, die ihn in der Gestalt blendender Reize und verlockender Lüste umgeben. Die alte Fabel von den Sirenen hat einen tiefen Sinn. – Ja, lieben, vergöttern muß man sie, man kann in Leidenschaft ihr Blut und Leben opfern, aber man kann ihr nicht vertrauen. Und ist jene Ehrfurcht, die ich hier nicht fühlen kann, nicht vielleicht das, welches das goldene Gespinst zerreißt, in welchem uns diese echte lüsterne Liebe gefangenhält? – Wozu jene Achtung und Verehrung, die fast an Freundschaft für die Matrone grenzt? – Und wagst du es, Elender, Undankbarer, dies ausgelassene, üppige Mädchen, diese köstlichste Frucht der Natur, die zum Schwelgen einlädt, nicht zu achten, weil sie vielleicht niemals die Talente einer Hausfrau und ehrbaren Gattin entwickeln wird? So schön, so vornehm, so edel erzogen und mir so entgegenkommend! – Das, du Eitler, ist auch ein Teil des Zaubers, der dich bestrickt! – – Wenn ich jetzt an meine Arbeit zu Hause dort denke, an unsere kühle Wohnstube, den alten Nußbaum, die Bretter, meinen Magister und unser alltägliches Treiben – wie unbehaglich, beklemmend, nüchtern und fast niedrig alles. Und doch, selbst in diesem prosaisch niedergedrückten Gefühl – welche paradiesische Heimseligkeit!

So verschwammen Gegenwart und Vergangenheit, Freude, Lust und Schmerz in seinem Gemüt; er suchte in seinem Innern und konnte nirgend die geistige Kraft entdecken, alles dies mit einem kühnen Entschluß zu durchreißen und wieder der alte zu werden.

So war die Zeit vergangen, er wußte nicht wieviel. Er stand auf und war so betäubt, daß er sich nicht erinnern konnte, nach welcher Gegend er gehen sollte, um wieder aus dem Walde zu finden. Indem er sich durch Bäume und Gebüsche drängte, fiel er wieder in den Zulauf und das Getümmel seiner Gedanken und Vorstellungen. Diese feine, geistige Sehnsucht, diese Fülle von Erscheinungen, sagte er wieder zu sich, dies Ahnden und die Entzückungen, alles dies, auf unser Irdisches geimpft und durch dessen Kraft so herrlich blühend – es muß sich also in jene Vernichtung stürzen, wie es die höchste Befriedigung sucht, und der[411] Mensch muß mit dem Tiere am meisten in Verwandtschaft treten, wenn er sich am sichersten zum Engel berufen glaubt? – O vieldeutiges Rätsel unsers Lebens! Wie steht die Sphinx mit lauernden, lüsternen Augen vor uns und droht, uns zu verschlingen, wenn wir uns keck an die Auflösung wagen.

Er konnte wirklich den Weg aus dem Walde nicht wiederfinden, und verstrickte sich immer mehr in den Gebüschen. Ihm schien nach dem Stande der Sonne, als wenn Mittag längst vorüber sein müsse, und nachdem er noch länger, ohne Erfolg, durch die verwachsene Wildnis gestrebt hatte, fühlte er sich matt und erschöpft. Als er sich ermüdet an den dicken Stamm einer alten Eiche lehnte, glaubte er in einiger Entfernung menschliche Stimmen zu vernehmen. Er ging der Richtung nach und schrie laut; man antwortete, und nach einigen Minuten schimmerten sich bewegende Gestalten aus dem Grün der Bäume hervor. Nun drängte er sich durch und gelangte auf einen kleinen freien Waldplatz, wo er den Förster antraf, der seinen Gehülfen einige Bäume zum Fällen anwies. Der Alte war sehr verwundert, den Gast seines Herrn dort und fast mit zerrissenen Kleidern zu finden; denn Leonhard hatte, besonders zuletzt, auf die Hemmungen der Gesträuche und Dornen nicht geachtet, indem er sie durchbrechend seinen Weg verfolgte.

Der alte Förster ging jetzt mit ihm, indem er sagte: »Ei ei! Herr Leonhard, Sie sind hier wenigstens anderthalb Stunden vom Schlosse entfernt. Ich will Sie begleiten, damit Sie sich nicht wieder verirren, auch habe ich dem Herrn Baron einen notwendigen Rapport abzustatten.«

Sie gingen den Waldweg hinunter, und als sie in das Freie kamen, sah Leonhard, daß er im Wald die ganz falsche Richtung eingeschlagen und sich immer weiter vom Schlosse entfernt hatte. »Sie sind«, fing der Alte nach manchem andern Gespräche an, »ein recht tüchtiger Komödienspieler, und ich wundere mich nur darüber, wo Sie das alles, sowie auch unser junger Baron, gelernt haben können, denn auf den Schulen wird einem dergleichen doch wohl nicht beigebracht. Von dem Herrn Professor Emmrich ist es nicht zu verwundern, denn der soll schon einmal Komödiant gewesen sein und ein Direktor dazu; auch von den Weibsleuten nicht, denn denen ist dergleichen angeboren. Ich tauge nicht dazu, weil ich vielleicht zu redlich und aufrichtig bin; denn, um was recht Großes in dem Wesen zu leisten, muß man gewiß schon recht früh ein Tausendsasa gewesen sein.«

Auf dem Felde begegnete ihnen der junge Baron, der, von[412] einem Diener begleitet, spazierengeritten war. Er stieg ab und ließ den Reitknecht die Pferde nach Hause bringen, um mit dem Förster zu sprechen, der ihm Geschäftliches zu melden hatte. Nachdem dies erledigt war, und der Förster sich dann entfernt hatte, nahm der Baron seinen ermüdeten Freund unter dem Arm, um ihn so nach dem Schlosse zu führen. »Ei! ei!« sagte er im Gehen, »welche Abenteuer hast du denn zu bestehen, daß du sogar das Mittagessen versäumst? und wie siehst du aus! Matt, erschöpft, das Halstuch zerrissen, Kleid und Weste voll Moos und Dornen! Wir ängstigten uns schon alle an der Tafel, die Weiber am meisten. Alles forschte nach dir. Bediente wurden ausgeschickt, um dich zu suchen. Hat dich eine Fee entführt? Bist du unter Räubern gewesen? Hast du eine geraubte Prinzessin verteidigt und erlöst? Denn, bei Gott, du siehst so der Alltäglichkeit entrückt, so völlig verabenteuert aus, daß dir durchaus etwas höchst Seltsames muß begegnet sein.«

Leonhard war ziemlich verlegen, und sein Lachen, mit welchem er diese Fragen beantwortete, hatte etwas Erzwungenes. Er war noch immer zerstreut, sammelte sich aber und erzählte dem Freunde, daß er sich auf einem einfachen Spaziergange im Walde verirrt, dort ermüdet einige Zeit geschlafen habe, nachher ganz betäubt in eine falsche Richtung geraten und von Dornen und Gestrüpp so zerkratzt und zerrissen worden sei. Sie standen jetzt vor dem Eingange am Dorf, der Seite gegenüber, wo der Garten lag; man hatte von hier den Blick auf die Hauptfaçade des Schlosses. Der Baron sah seinen Freund mit scharf prüfendem fast mißtrauischem Blicke an, den Leonhard nicht zu ertragen vermochte. »Setze dich hier in den Schatten dieser Linde« sagte Elsheim dann, »wir wollen es noch dämmernder werden lassen damit dich dort oben nicht alle Welt examiniert; dann kleidest du dich um und holst an der Abendtafel wieder ein, was du am Mittag versäumt hast. Auch bin ich selbst müde genug, um gern in diesem duftenden Schatten auszuruhen.«

Sie setzten sich und hatten jetzt, abseits von der Landstraße und ziemlich verborgen, die Aussicht auf diese, sowie auf das Schloß. »Du wirst es mir nicht ausreden«, fing Elsheim wieder an, »daß dir heut nicht etwas Außerordentliches begegnet wäre, denn so ganz träumerisch und verstimmt habe ich dich noch niemals gesehen. Du willst mich aber nicht zu deinem Vertrauten machen. Und vielleicht wäre es doch gut, und möglich, daß es dir manchen Kampf ersparte.«

»Du quälst mich, Freund«, rief Leonhard aus, »und ganz ohne[413] Not, denn mir ist wahrlich nichts widerfahren, das nur des Erwähnens würdig wäre.«

»Verschlossenheit, und gegen den Freund«, sagte Elsheim wieder, »ist himmelweit von Diskretion verschieden. Ich habe viel in dieser Zeit über deine weise Theorie nachdenken müssen, die du mir so schön unterweges entwickeltest, von der geraden und krummen Linie. Die Sache verdient gewiß bedacht zu werden. Suche nur die krumme Linie künstlich wieder zurechtzuführen, wenn auch freilich so mancher Schnörkel und willkürliche Ausbeugung und Schwankung sich nicht in Regel und Zahlenverhältnis auflösen läßt.«

Leonhard wollte verdrüßlich werden, und in seiner sonderbaren Stimmung erschien es ihm fast, als wenn sein Freund Händel an ihm suche. Er wollte antworten, aber seine Aufmerksamkeit, sowie die des Freundes, wurde auf das große und ansehnliche Gasthaus des Dorfes gelenkt, vor welchem jetzt ein eleganter Reisewagen hielt, aus welchem zwei Männer stiegen. Sie sprachen mit dem Kutscher und dem Wirt der Schenke, schüttelten lachend ihre Kleider zurecht, und kamen dann Arm in Arm die breite Landstraße herauf, anscheinend um das Schloß in der Dämmerung, welche bereits einbrach, in Augenschein zu nehmen. Als sie näher kamen, hörten die Freunde, wie einer von beiden mit überaus wohlklingender voller Stimme sagte: »Ja wohl ist es besser, sich nach dem langen Fahren erst die Füße etwas zu vertreten, als gleich dort in der Schenke Platz zu nehmen, die freilich für eine Dorfherberge reputierlich genug aussieht.«

»Aber halt!« rief der andere, indem sie jetzt der Bank unter der Linde ganz nahe gekommen waren, »– sieh, Freund, von hier nimmt sich das Schloß am besten aus. Es kann nicht so ganz neu sein, denn es ist noch in einem guten Stil gebaut.«

»Ja wohl«, sagte der erste, »es ist so vollständig, solide und würdig. Das Verhältnis der Fenster zu den Mauern grenzt noch nicht an unsere Treib- und Sommerhäuser.«

»Und der Giebel«, rief der zweite, »so stark und vorragend, die beiden viereckigen Türme an den beiden Seiten, die gewiß auch zu Treppen dienen, der große breite Eingang, in dem die Tür doch nicht zu hoch ist: alles sieht so sicher aus. Das Tor für die Einfahrt der Equipagen ist gewiß auf der andern Seite, im eigentlichen Hofe.«

›Und mit diesem‹, fuhr der erste fort, »muß dann unmittelbar der Garten verbunden sein, wenn Verstand in der Sache sein soll.«[414]

»Nein«, sagte jener, »sieh, noch verständiger ist der Eingang zum Garten gleich rechts vom Hause, wenn mein scharfes Auge mich nicht trügt. Das Wichtigste aber, Kamerad, ist, daß das ganze Haus mit seinem Apparat so aussieht, als wenn dort hinter den Fenstern und Mauern etwas recht Wunderbares, Apartes und Närrisches vorgehen müßte; nicht wahr, Freund?«

»Du hast recht, Bruder«, sagte der erste lachend; »wie habe ich das nur übersehen können? Es quillt ja aus allen Wänden und duftet in der ganzen Atmosphäre hier so, als wäre der Steinklumpen bloß deswegen so hübsch und reputierlich ausgeführt worden, damit Schnurren, poetische Schwänke, Albertäten, Konfusionen und Liebesgeschichten dort ausgesponnen würden. Ja wohl flüstern die schönen Linden dort am Schloß nicht vergeblich den Fenstern zu. Und wenn die verteufelten Nachtigallen erst so rechts und links schlagen, um alle ihre zackigen und kugligen Passagen abzuorgeln, so muß die Verrücktheit dort hinter den Mauern, wenn nur irgend junges Blut in den Stuben wohnt, nicht zum Aushalten, viel weniger zum Haushalten sein.«

Elsheim hatte die beiden Schwätzer schon erkannt und ging jetzt lachend auf sie zu. »Sein Sie mir gegrüßt, meine Herren Musiker; erinnern Sie sich meiner noch aus jener kleinen Stadt, in welcher Sie sich aus Mutwillen arretieren ließen, statt ein Konzert zu geben?«

»Ei, Baron!« riefen die Fremden, und umarmten lachend den schnell Wiedererkannten. »Dies Haus ist mein«, fuhr Elsheim fort, »und paßt es irgend zu Ihrem Geschäft und Ihrer Reiseabsicht, mir ein paar Tage zu schenken, so werden Sie mich sehr glücklich machen.«

»Wir sind so frei jetzt, wie die Fliege in der Luft«, sagte der Sänger, »wir kriechen also gern bei Ihnen unter.«

»So werde ich Ordre geben«, sagte Elsheim, »daß Ihre Koffer nebst Ihrem Wagen bei mir untergebracht werden; nur ist mein Haus sehr überfüllt und es frägt sich daher, ob es Ihnen nicht zuwider sei, beide ein einziges großes Zimmer mit einem geräumigen Alkoven zu bewohnen?«

»Nicht im mindesten«, antwortete der Klavierspieler, »denn das sind wir gewohnt. Wenn zwei vertraute Freunde im fremden Hause beisammen sind, so ist das der Einsamkeit, die oft lästig werden kann, sehr vorzuziehen.«

Die beiden Fremden begleiteten Elsheim und Leonhard sogleich in das Schloß. Dieser eilte auf sein Zimmer, kleidete sich schnell um, und kam dann zum Abendessen in den Saal zurück.[415]

Hier waren die fremden Musiker schon wie einheimisch; sie sprachen mit jedem, am meisten jedoch mit Emmrich, dem sie schon seit früheren Jahren bekannt waren. Als man sich an der Tafel ordnete, gelang es Leonhard nicht, neben Charlotten seinen Platz zu finden; sie vermied ihn beinahe auffallend, und es schien ihm, als wenn sie überhaupt kalt und fremd gegen ihn sei. Er kam also in die Nähe Elsheims und Albertinens und sah es nicht ohne Eifersucht, wie freundlich Charlotte mit dem neu angekommenen Sänger sprach. Dadurch verstimmt unterhielt er sich um so eifriger mit Albertinen, die ihn gern anzuhören schien.

Elsheim war sehr vergnügt über die eingefangenen Virtuosen und sagte zu Emmrich: »Erst jetzt fällt es mir bei, wie wenig ich bei meinen leidenschaftlichen Theaterversuchen meiner guten Mutter und ihres Enthusiasmus für die Musik gedachte. Wie wird sie sich freuen, wenn sie wiederkommt, und wir ihr Konzerte geben, vielleicht gar Belmont und Constanze teilweise oder ganz aufführen können. Dann erst wird sie mit unserm Theaterbau ganz zufrieden sein.«

Man machte schon allerhand Projekte, und Leonhard stand zwar gesättigt und gestärkt vom Tische auf; dennoch fühlte er, daß er der Ruhe bedürfe, um im Schlaf, wo möglich, alles das zu vergessen, was er an diesem Tage erlebt hatte.[416]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden. Band 4, München 1963, S. 365-417.
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