15. William Lovell an Rosa

[501] Rom.


Wohin soll ich mich mit meinen Gedanken und Empfindungen wenden? Überall bin ich mir fremd, und überall find ich mit meinen Ideen einen wundervollen Zusammenhang. Der höchste Klang des Schmerzes und der Qual fließt wieder in den sanften Wohllaut der Freude ein, das Verächtliche steht erhaben und die Erhabenheit fällt zu Boden, wie im Abgrunde der See Geschmeide und Kostbarkeiten unter Schlamm und neben verweseten Gerippen glänzen.


Es funkelt Gold in wilden Trümmern,

Tief im verborgenen Gestein,[501]

Ich sehe ferne Schätze schimmern,

Mich lockt der rätselhafte Schein.


Und hinter mir fällt es zusammen,

Ha! um mich her ein enges Grab,

Die Welt, der Tag entflieht, die Flammen

Der Kerzen sinken, sterben ab.


Die Hand klopft zitternd an die Wände,

Der unterirdsche Wandrer schaut

Nach Licht und Rettung, ohne Ende

Das Dunkel! – Ihn erquickt kein Laut.


Er hämmert in den Felsgemächern

Mit einer dumpfen Lebensgier,

Gefangen von den dunkeln Rächern,

Zur Strafe seiner Wißbegier.


Da äugelt aus der fernsten Ritze

Ein blaues Lichtchen nach mir hin,

Ich krieche zu der schroffen Spitze,

Und taste mit entzücktem Sinn.


Und ach, es ist das Goldgestein,

Das mich zuerst hieher versucht,

Nun labt mich nicht der Flimmerschein,

Der boshaft mich zuerst versucht.


Es sehnt der Geist sich nach dem Bande,

Das ihn mit zarter Fessel hielt,

Als er sich wie im Vaterlande

In seiner stillen Brust gefühlt.


Fern liegt das heimische Gestade,

Am wilden Taurien verirrt,

Kniet er umsonst und flehet Gnade,

Das blutge Opfermesser klirrt!


Doch Blumen blühn in diesem Schrecken,

Die hell mit rotem Purpur glühn,

Die Todesschatten, die ihn decken,

Sie lassen prächtge Funken sprühn.
[502]

Liegt alles nur im Sinnenglücke?

Vereint sich jeder Ton zum Chor?

Für tausend Ströme eine Brücke?

Gehn alle Pilger durch dies Tor?


So öffnet mir die dunkeln Reiche,

Daß ich ein Wandrer drinnen geh,

Daß ich nur einst das Ziel erreiche

Und jedes Wunder schnell versteh.


Eröffnet mir die finstern Pforten,

An denen schwarze Wächter stehn,

Laßt alle gräßlichen Kohorten,

Mit mir durch jene Pfade gehn!


Je wildre Schrecken mich ergreifen,

Je höher mich der Wahnsinn hebt,

So lauter alle Stürme pfeifen,

Je ängstlicher mein Busen bebt,


So inniger heiß ich willkommen,

Was gräßlich sich mir näher schleift,

Dem irdschen Leben abgenommen,

Zum Geisterumgang nun gereift.


Alles Wilde, was ich je gedacht,

Alle Schrecken, die ich je empfunden,

Rückerinnrung aus der trübsten Nacht,

Grauen meiner schwärzsten Stunden,

O vereinigt euch mit meinen Freuden,

Stürmet alle um mich her,

Schlinget euch an alle meine Leiden,

Flutet um mich gleich dem wilden Meer,

Daß das Morgenrot sich in dem Abgrund spiegle,

Graun und Schrecken meine Heimat sei,

Daß der Wahnsinn immer rascher mich beflügle,

Und zum dunkeln Tor der Hölle zügle,

Nur Erinnyen! gebt mich von den Zweifeln frei!


Lesen Sie doch aufmerksam Balders wunderbaren Brief, der wie der Gesang eines fremden, verirrten Vogels zu uns herübertönt.[503]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 501-504.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht / Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz. Zwei Erzählungen

Zwei satirische Erzählungen über menschliche Schwächen.

76 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon