2. Rosa an William Lovell

[478] Ihre Besorgnisse, lieber Freund, sind ungegründet; der Mann, von dem wir gesprochen haben, gehört nicht zu jenen verständigen Leuten, die mit dem Fragmente ihrer Vernunft so ungeschickt umgehn, es so linkisch handhaben und widerwärtig regieren, daß man von ihrer Aufklärung keinen Genuß empfängt, sondern nur Verworrenheit der Begriffe, und Resultate, die fremd und unpassend unter den eigenen Mobilien unsers Gehirnes stehen. Diesem Manne wird es leicht, sich alle Gedanken, selbst die entferntesten, zu vergegenwärtigen, und sie zu seinen eigenen zu machen; für ihn gibt es keine fremde Seele, und darum behandelt er keine mit der Verachtung, die wir so oft an andern sogenannten verständigen Menschen, mit so tiefem innerlichen Widerstreben gewahr werden. Wenn ich Ihnen sage, daß er Sie vielleicht schon besser kennt, als Sie glauben, so ist dadurch wahrscheinlich alle Ihre Furcht gehoben, und damit Ihre Bekanntschaft nicht beim ersten Male jene steife, widerwärtige Art erhalte, mit der man nach hergebrachten Formeln, wie in einem Spiele, sich seltsam genug die gegenseitige Vertraulichkeit[478] abgewinnen will, so sollen Sie ihn auf einem Spaziergange treffen, wenn Sie heut abend nach Sonnenuntergange die Ruinen vor dem Kapenischen Tore besuchen.

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Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 478-479.
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