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[280] Während des Aufenthalts auf dem Bahnhof der Gouvernementsstadt ging Sergei Iwanowitsch nicht in den Wartesaal, sondern spazierte auf dem Bahnsteig auf und ab.

Als er das erstemal an Wronskis Abteil vorüberkam, bemerkte er, daß der Fenstervorhang zugezogen war. Aber beim zweitenmal erblickte er die alte Gräfin am Fenster. Sie rief ihn zu sich heran.

»Ja, sehen Sie wohl, da reise ich nun und begleite ihn bis Kursk«, sagte sie.

»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, indem er an ihrem Fenster stehenblieb und hineinsah. »Welch[280] schöne Handlungsweise von ihm!« fügte er hinzu, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Wronski nicht im Abteil anwesend war.

»Ja, was sollte er nach seinem Unglück anderes tun?«

»Ein schreckliches Ereignis!« sagte Sergei Iwanowitsch.

»Ach, was ich durchgemacht habe! Aber kommen Sie doch herein ... Ach, was ich durchgemacht habe!« sagte sie noch einmal, als Sergei Iwanowitsch hereingekommen war und neben ihr auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Davon kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen! Sechs Wochen lang hat er mit niemand geredet, und wenn er etwas essen sollte, mußte ich ihn immer erst flehentlich bitten. Und nicht einen Augenblick durften wir ihn allein lassen. Wir hatten alles entfernt, womit er sich umbringen konnte; wir wohnten im unteren Stock; aber alles konnte man natürlich doch nicht vorhersehen. Sie wissen ja, er hat schon einmal um ihretwillen auf sich geschossen«, sagte sie, und die Augenbrauen der alten Dame zogen sich bei dieser Erinnerung finster zusammen. »Ja, sie hat geendet, wie eine solche Frau eben enden mußte. Selbst die Todesart, die sie sich ausgesucht hat, hatte so etwas Gemeines, Unwürdiges.«

»Es steht uns nicht zu, hier zu richten, Gräfin«, versetzte Sergei Iwanowitsch seufzend. »Aber ich kann verstehen, wie schrecklich das alles für Sie gewesen sein muß.«

»Ach, das läßt sich gar nicht sagen! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da wurde ihm ein Brief gebracht. Er schrieb eine Antwort und sandte sie ab. Wir wußten nicht, daß diese Frau selbst am Bahnhof war. Am Abend hatte ich mich eben in mein Zimmer zurückgezogen, da erzählte mir meine Mary, beim Bahnhof hätte sich eine Dame unter einen Zug geworfen. Das gab mir ordentlich einen Schlag vor den Kopf. Ich wußte sofort: das ist sie gewesen! Das erste, was ich sagte, war: ›Daß ja keiner es ihm sagt!‹ Aber es war ihm bereits mitgeteilt worden. Sein Kutscher war dabei gewesen und hatte alles mit angesehen. Als ich zu ihm ins Zimmer stürzte, war er wie von Sinnen; er bot einen entsetzlichen Anblick. Kein Wort sprach er; er warf sich auf ein Pferd und jagte dorthin. Was dort vorgegangen ist, weiß ich nicht; aber sie brachten ihn mir nach Hause wie einen Toten. Ich hätte ihn gar nicht erkannt. Prostration complète1, sagte der Arzt. Dann begann er geradezu zu toben. Ach, ich mag gar nicht davon reden!« sagte die Gräfin mit einer müden, traurigen Handbewegung. »Es war eine furchtbare Zeit. Nein, man mag sagen, was man will, aber sie war eine schlechte Frau. Was war das bei ihr für eine maßlose Leidenschaft! Das soll alles etwas Besonderes vorstellen. Und[281] da ist es denn auch etwas Besonderes geworden; sie hat sich selbst und zwei vortreffliche Menschen zugrunde gerichtet: ihren Mann und meinen unglücklichen Sohn.«

»Was macht denn ihr Mann?« fragte Sergei Iwanowitsch.

»Er hat ihre Tochter zu sich genommen. Mein Sohn war in der ersten Zeit mit allem einverstanden. Aber jetzt ist es ihm ein tiefer Schmerz, daß er einem fremden Menschen seine Tochter überlassen hat. Aber sein Wort zurücknehmen, das kann er nicht. Karenin kam zur Beerdigung. Aber wir trafen Vorsorge, daß er mit meinem Sohne nicht zusammentraf. Für ihn, als den Ehegatten, ist das Ganze immer noch leichter zu ertragen; sie hat ihn durch ihren Tod nun wieder frei gemacht. Aber mein armer Sohn hatte sich ihr mit Leib und Seele hingegeben. Alles hatte er ihr zum Opfer gebracht: auf seine Laufbahn verzichtet, sich von seiner Mutter losgesagt; und doch hatte die Frau kein Mitleid mit ihm, sondern richtete ihn mit Vorbedacht völlig zugrunde. Nein, da mag man sagen, was man will, selbst ihr Tod zeigt, daß sie eine schändliche Frau war, eine Frau ohne alle Religion. Gott verzeihe es mir, aber ich kann nur mit Haß an sie denken, wenn ich sehe, was sie aus meinem Sohne gemacht hat.«

»Und wie ist er jetzt?«

»Gott hat uns geholfen, indem er uns diesen serbischen Krieg gesandt hat. Ich bin eine alte Frau und verstehe von Politik nichts; aber für meinen Sohn ist das eine Gnade Gottes. Natürlich, für mich als Mutter ist es furchtbar; und was die Hauptsache ist: es heißt, ce n'est pas très bien vu à Petersbourg2. Aber was ist zu tun! Das war das einzige, was ihn wieder in die Höhe bringen konnte. Sein Freund Jaschwin hatte sein ganzes Geld verspielt und beschloß nun, nach Serbien zu gehen; der suchte meinen Sohn vorher noch auf und überredete ihn, es auch zu tun. Nun hat er daran etwas, was ihn beschäftigt und interessiert. Bitte, reden Sie doch ein bißchen mit ihm; im wünsche so sehr, ihm eine Zerstreuung, eine Ablenkung zu verschaffen. Er ist so gedrückt. Und unglücklicherweise hat er auch noch Zahnschmerzen. Aber Sie wiederzusehen, wird ihm eine große Freude sein. Bitte, reden Sie ein bißchen mit ihm; er geht auf dieser Seite auf und ab.«

Sergei Iwanowitsch erwiderte, es sei ihm eine große Freude, das zu tun, und begab sich nach der anderen Seite des Zuges.

Fußnoten

1 (frz.) völlige Entkräftung.


2 (frz.) das wird in Petersburg nicht sehr gern gesehen.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 280-282.
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