18

[82] Es wurden Schritte und eine Männerstimme hörbar, darauf eine Frauenstimme und Lachen, und gleich darauf traten die erwarteten Gäste ein: Sappho Stoltz und ein von Gesundheit strotzender junger Mann, den man Waska zu nennen pflegte. Man sah, daß ihm die Ernährung mit halbblutigen Beefsteaks, Trüffeln und Burgunder gut bekam. Waska verbeugte sich vor den Damen und blickte sie an, aber nur eine Sekunde. Er war hinter Sappho in den Salon eingetreten und ging nun im Salon hinter ihr her, als ob er an sie angebunden wäre, und wandte seine glänzenden Augen auch nicht einen Augenblick von ihr ab, wie wenn er sie damit verzehren wollte. Sappho Stoltz war eine Blondine mit schwarzen Augen. Sie war mit kleinen, festen Schritten auf den hohen Absätzen ihrer Stiefelchen hereingekommen und drückte nun den Damen kräftig, nach Männerart, die Hand.

Anna war mit dieser neuen Berühmtheit noch nie zusammengetroffen und war nun überrascht sowohl durch ihre Schönheit wie auch durch das Auffällige ihrer Kleidung und die Keckheit ihres Benehmens. Auf ihrem Kopfe war aus eigenem und fremdem Haar von zartgoldiger Farbe eine Frisur von so gewaltiger Höhe aufgebaut, daß ihr Kopf ebenso groß war wie die schön gewölbte, vorn sehr offene Büste. Vorn lag das Kleid so eng an,[82] daß sich bei jeder Bewegung die Formen der Knie und Oberschenkel unter dem Kleide abzeichneten; und was die Rückseite anlangte, fragte man sich unwillkürlich, wo denn dort in diesem kunstvoll aufgebauten, hin und her schaukelnden Berge ihr wirklicher, kleiner, anmutiger Körper endigen mochte, der oben so weit entblößt und am untern Teile der Rückseite so sorgsam versteckt war.

Betsy beeilte sich, Sappho und Anna einander vorzustellen.

»Können Sie sich das vorstellen, wir hätten beinahe zwei Soldaten überfahren!« begann Sappho sogleich lächelnd und mit vergnügtem Augenzwinkern zu erzählen; dabei zog sie auch ihre Schleppe nach hinten zurecht, die sie zuerst zu sehr nach einer Seite geworfen hatte. »Ich fuhr mit Waska ... Ach so, Sie sind nicht miteinander bekannt.« Sie stellte den jungen Mann mit seinem Familiennamen vor und lachte errötend laut über ihren Verstoß, daß sie ihn einer Unbekannten gegenüber Waska genannt hatte. Waska verbeugte sich noch einmal vor Anna, ohne jedoch etwas zu ihr zu sagen. Er wandte sich an Sappho: »Sie haben die Wette verloren. Wir sind früher angekommen. Also bezahlen Sie nur!« sprach er lächelnd.

Sappho lachte noch lustiger.

»Aber doch nicht jetzt«, erwiderte sie.

»Nun, dann bekomme ich meinen Gewinn später.«

»Schön, schön! Ach ja!« wandte sie sich plötzlich an die Wirtin. »Ich bin gut! ... Das hatte ich ja ganz vergessen ... Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht. Da ist er ja auch!«

Der unerwartete jugendliche Gast, den Sappho mitgebracht und vergessen hatte, war jedoch ein so hoher Gast, daß trotz seines jugendlichen Alters sich die beiden Damen zu seiner Begrüßung von ihren Plätzen erhoben.

Dies war ein neuer Verehrer Sapphos. Ebenso wie Waska, folgte er ihr jetzt auf Schritt und Tritt nach.

Bald kamen auch Fürst Kaluschski und Lisa Merkalowa mit Stremow. Lisa Merkalowa war eine hagere Brünette mit trägem, orientalischem Gesichtsausdruck und reizenden Augen, unergründlichen Augen, wie man allgemein sagte. Der Charakter ihrer dunklen Kleidung (Anna bemerkte dies sofort und wußte es zu würdigen) stimmte in denkbar vollkommenster Weise zu der Eigenart ihrer Schönheit. Wie bei Sappho alles fest und straff war, so bei Lisa weich und lose.

Aber nach Annas Geschmack war Lisa weit anziehender. Betsy hatte zu Anna von ihr gesagt, sie habe den Ton eines naiven Kindes angenommen; aber als Anna sie jetzt kennenlernte, fühlte sie, daß das nicht richtig war. Sie war in Wirklichkeit[83] ein naives Wesen, verderbt, aber liebenswürdig, so daß man ihr nicht zürnen konnte. Allerdings, ihr Ton war derselbe wie der Ton Sapphos, und ebenso wie dieser folgten ihr wie angeseilt zwei Anbeter und verschlangen sie mit den Augen (bei ihr war der eine jung, der andere alt); aber in ihr lag etwas, was sie über ihre Umgebung hinaushob: das war der Glanz des echten Diamanten unter Nachbildungen von Glas. Dieser Glanz leuchtete aus ihren reizenden, in der Tat unergründlichen Augen hervor. Der müde und zugleich leidenschaftliche Blick dieser von dunklen Ringen umgebenen Augen überraschte durch seine vollkommene Aufrichtigkeit. Jeder, der in diese Augen hineinblickte, war überzeugt, daß er diese Frau vollständig kennengelernt habe, und mußte sie dann notwendig liebgewinnen. Bei Annas Anblick leuchtete ihr ganzes Gesicht auf einmal von einem freudigen Lächeln auf.

»Ach, wie freue ich mich, Sie zu sehen!« sagte sie und trat auf sie zu. »Ich wollte gestern beim Rennen gerade zu Ihnen kommen, da waren Sie weggefahren. Gerade gestern hatte ich den lebhaften Wunsch, mit Ihnen zu sprechen. Nicht wahr, es war entsetzlich?« sagte sie, und in dem Blicke, mit dem sie sie ansah, schien ihre ganze Seele offen dazuliegen.

»Ja, ich hätte nie geglaubt, daß das so aufregend ist«, erwiderte Anna errötend.

Unterdessen hatte sich die Gesellschaft erhoben, um in den Garten zu gehen.

»Ich gehe nicht mit«, sagte Lisa lächelnd und setzte sich neben Anna. »Sie wollen auch nicht hingehen? Wie kann einem das Krocketspielen nur Vergnügen machen!«

»Oh, ich spiele ganz gern«, erwiderte Anna.

»Wissen Sie, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen? Man braucht Sie nur anzusehen, dann wird man fröhlich. So wie Sie leben, das ist das wahre Leben; ich aber langweile mich.«

»Wie meinen Sie denn das? Sie sind ja doch eins der vergnügtesten Mitglieder der Petersburger Gesellschaft«, versetzte Anna.

»Mag sein, daß die, die nicht zu unserer Gesellschaft gehören, sich noch mehr langweilen; aber bei uns, jedenfalls bei mir, ist von Vergnügtsein nicht die Rede, nur von furchtbarer, ganz furchtbarer Langeweile.«

Sappho hatte sich eine Zigarette angezündet und ging nun mit den beiden jungen Männern in den Garten. Betsy und Stremow blieben am Teetisch sitzen.

»Aber wie können Sie so etwas behaupten!« sagte Betsy zu[84] Lisa. »Sappho sagt, daß sie sich gestern bei Ihnen vorzüglich unterhalten haben.«

»Ach, es war so furchtbar öde!« versetzte Lisa Merkalowa. »Wir fuhren nach dem Rennen alle zu mir nach Hause. Und immer dieselben Menschen, immer dieselben Menschen! Und immer ein und das selbe! Den ganzen Abend über haben wir uns auf den Sofas herumgerekelt. Was ist denn daran Vergnügliches? Nein, wie fangen Sie es nur an, daß Sie sich nicht langweilen?« wandte sie sich wieder zu Anna. »Man braucht Sie nur anzublicken, so sieht man: das ist eine Frau, die glücklich oder auch unglücklich sein kann, aber sich nie langweilt. Lehren Sie mich, wie Sie das zustande bringen!«

»Ich tue gar nichts dazu«, antwortete Anna, die bei diesen zudringlichen Fragen errötete.

»Gerade das ist das beste Verfahren«, mischte sich hier Stremow in das Gespräch.

Stremow war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, schon halb ergraut, aber noch frisch, sehr unschön, aber mit einem Gesichte, das auf einen festen Charakter und Klugheit schließen ließ. Lisa Merkalowa war eine Nichte seiner Frau, und er verbrachte alle seine freien Stunden in ihrer Gesellschaft. Da er jetzt mit Anna Karenina zusammengetroffen war, so war er, obgleich in der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs, als kluger Weltmann bemüht, gegen sie, die Gattin seines Gegners, besonders liebenswürdig zu sein.

»Gar nichts dazu tun«, bemerkte er, Annas Worte aufnehmend, mit feinem Lächeln, »das ist das beste Mittel. Ich habe Ihnen schon früher wiederholt gesagt«, wandte er sich an Lisa Merkalowa, »um sich nicht zu langweilen, muß man nicht daran denken, daß man sich langweilen könnte. Ganz ebenso, wie man, wenn Besorgnis wegen Schlaflosigkeit besteht, sich nicht davor fürchten darf, daß man vielleicht nicht einschlafen werde. Ganz dasselbe hat Ihnen auch Anna Arkadjewna gesagt.«

»Ich würde sehr froh sein, wenn ich es gesagt hätte; denn es ist nicht nur klug gesagt, sondern auch wahr«, erwiderte Anna lächelnd.

»Aber sagen Sie mir doch, woher kommt es, daß man nicht einschlafen kann und daß man sich vor der Langenweile nicht retten kann?«

»Um einzuschlafen, muß man vorher arbeiten, und um vergnügt zu sein, muß man gleichfalls vorher arbeiten.«

»Wozu soll ich denn arbeiten, wenn meine Arbeit niemandem nötig oder nützlich ist? Und mich absichtlich nur so zu stellen, das verstehe ich nicht, und das will ich auch nicht.«[85]

»Sie sind unverbesserlich«, versetzte Stremow, ohne sie anzusehen, und wandte sich wieder zu Anna.

Da er nur selten mit Anna zusammentraf, so konnte er zu ihr nur Oberflächliches reden; aber diese Oberflächlichkeiten, zum Beispiel wann sie wieder nach Petersburg übersiedeln werde, wie sehr die Gräfin Lydia Iwanowna sie in ihr Herz geschlossen habe, brachte er mit einem Ausdruck vor, der deutlich er kennen ließ, daß er von ganzem Herzen wünschte, ihr angenehm zu sein und ihr seine Achtung und sogar noch mehr zu bezeigen.

Tuschkewitsch kam herein und meldete, die ganze Gesellschaft warte auf die Krocketspieler.

»Nein, bitte, brechen Sie nicht auf!« bat Lisa Merkalowa, als sie hörte, daß Anna wegfahren wollte. Stremow vereinigte seine Bitten mit den ihrigen.

»Es würde ein gar zu starker Gegensatz sein«, bemerkte er, »wenn Sie nach dieser Gesellschaft das alte Fräulein Wrede besuchen wollten. Und dann: die alte Dame würde sich über Ihren Besuch nur deshalb freuen, weil sie an Ihnen eine erwünschte Zuhörerin haben würde, um ihrer Lästersucht freien Lauf zu lassen; hier aber erwecken Sie ganz andere Empfindungen, die allerbesten Empfindungen, das gerade Gegenteil von Lästersucht«, sagte er zu ihr.

Anna war einen Augenblick unschlüssig und überlegte. Die schmeichelhaften Reden dieses klugen Mannes, die kindliche Zuneigung, die Lisa Merkalowa ihr entgegenbrachte, und dieses ganze ihr so vertraute vornehme Getriebe, alles dies war eine Luft, in der sich leicht atmen ließ; dort aber stand ihr so Schweres bevor, daß sie einen Augenblick unschlüssig war, ob sie nicht bleiben und den schrecklichen Augenblick der Aussprache noch verschieben sollte. Aber als sie daran dachte, was ihrer zu Hause wartete, wenn sie, ohne einen Entschluß gefaßt zu haben, dort wieder allein wäre, als sie an die ihr noch in der Erinnerung furchtbare Gebärde dachte, wie sie sich mit beiden Händen in die Haare gefaßt hatte, da verabschiedete sie sich und fuhr weg.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 82-86.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon