[128] Ljewin empfand an diesem Abend in der Gesellschaft der Damen eine unerträgliche Langeweile. Es regte ihn wie noch nie zuvor der Gedanke auf, daß der jetzige ihn so wenig befriedigende Zustand seiner Wirtschaft nicht etwas nur ihm persönlich Eigenes, sondern ein Teil des allgemeinen Zustandes sei, in dem sich die Sache in ganz Rußland befinde, und daß die Schaffung eines Verhältnisses zu den Arbeitern, bei dem diese so arbeiteten wie bei jenem Bauern auf der Hälfte des Weges, nicht ein Hirngespinst, sondern eine Aufgabe sei, die unbedingt gelöst werden müsse. Und es schien ihm, daß die Lösung dieser Aufgabe möglich und es seine Pflicht sei, einen Versuch dazu zu machen.
Nachdem Ljewin den Damen gute Nacht gesagt und versprochen hatte, noch den ganzen folgenden Tag dazubleiben, um mit ihnen zusammen auszureiten und in dem staatlichen Walde einen interessanten Erdsturz zu besichtigen, begab er sich vor dem Schlafengehen noch in das Arbeitszimmer des Hausherrn, um sich die Bücher über die Arbeiterfrage, die ihm Swijaschski angeboten hatte, zu holen. Swijaschskis Arbeitszimmer war von gewaltiger Ausdehnung und mit mehreren Bücherschränken sowie mit zwei Tischen ausgestattet, einem massiven Schreibtisch, der mitten im Zimmer stand, und einem runden Tische, auf dem sternförmig um die Lampe herum die neuesten Nummern von allerlei Zeitungen und Zeitschriften in verschiedenen Sprachen ausgebreitet lagen. Neben dem Schreibtische stand ein Ständer mit Schubkasten, an denen goldene Aufschriften den sehr verschiedenartigen Inhalt angaben.
Swijaschski holte die Bücher hervor und setzte sich dann in einen Schaukelstuhl.
»Was sehen Sie sich denn da an?« fragte er Ljewin, der bei dem runden Tische stehengeblieben war und in den Zeitschriften blätterte. »Ach ja, da ist ein sehr interessanter Artikel drin«, sagte er mit Bezug auf die Zeitschrift, die Ljewin gerade in der Hand hatte. »Es stellt sich heraus«, fügte er lebhaft und munter hinzu, »daß der Hauptschuldige bei der Teilung Polens gar nicht Friedrich war. Es stellt sich heraus ...«
Und mit der ihm eigenen Klarheit berichtete er in Kürze über diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen. Wiewohl Ljewin jetzt stark mit seinen Gedanken an die Landwirtschaft beschäftigt war, stellte er doch, während er dem Hausherrn zuhörte, die Überlegung an: ›Was hat er eigentlich damit vor? Warum in aller Welt interessiert ihn die Teilung Polens?‹ Als Swijaschski mit seiner Auseinandersetzung zu Ende war,[129] fragte Ljewin unwillkürlich: »Und was soll nun geschehen?« Aber es sollte gar nichts weiter geschehen. Interessant war eben nur, daß sich das »herausgestellt« hatte. Aber warum ihn das interessierte, erklärte Swijaschski nicht und hielt er nicht für nötig zu erklären.
»Ja, aber mich hat dieser verbitterte Gutsbesitzer sehr interessiert«, sagte Ljewin mit einem Seufzer. »Er ist ein kluger Mann, und was er sagte, war zum großen Teil richtig.«
»Ach, gehen Sie doch! Er ist ein eingefleischter, heimlicher Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle sind!« erwiderte Swijaschski.
»Und Sie als Adelsmarschall sind ihr Leiter ...«
»Ja, nur daß ich sie als solcher nach der anderen Seite hin zu leiten suche«, versetzte Swijaschski lachend.
»Da ist ein Punkt, der mich sehr beschäftigt«, sagte Ljewin. »Er hat recht: unsere Tätigkeit, das heißt eine rationelle Landwirtschaft, hat keinen Erfolg; es gedeiht nur eine Wucherwirtschaft wie bei jenem stillen, ruhigen Herrn, oder eine vom allereinfachsten Zuschnitt ... Wer ist daran schuld?«
»Natürlich wir selbst. Aber es ist auch nicht richtig, daß eine rationelle Wirtschaft nicht vorwärtskäme. Bei Wasiltschikow geht es ganz gut.«
»Der hat auch eine Fabrik ...«
»Aber ich weiß überhaupt nicht, worüber Sie sich eigentlich wundern. Unser Landvolk steht in materieller und geistiger Hinsicht auf einer so niedrigen Entwicklungsstufe, daß es naturgemäß allem widerstreben muß, was ihm fremd ist. In Europa geht ein rationeller Wirtschaftsbetrieb gut vonstatten, weil das Volk gebildet ist; folglich müssen auch wir unserem Volke Bildung geben; das ist die ganze Sache.«
»Aber wie sollen wir das anfangen?«
»Um dem Volke Bildung zu geben, dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, Schulen und nochmals Schulen.«
»Aber Sie haben doch selbst gesagt, daß das Volk in materieller Hinsicht auf einer niedrigen Entwicklungsstufe steht; inwiefern können da die Schulen helfen?«
»Wissen Sie, Sie erinnern mich an die Anekdote von den Ratschlägen, die man einem Kranken gab: ›Sie sollten es mit einem Abführmittel versuchen.‹ – ›Ich habe eins genommen; aber es ist davon nur noch schlimmer geworden.‹ – ›Versuchen Sie es doch einmal mit Blutegeln.‹ – ›Das habe ich versucht; es ist noch schlimmer geworden.‹ – ›Nun, dann sollten Sie einfach den lieben Gott bitten, Ihnen zu helfen.‹ – ›Das habe ich auch getan; aber es ist nur noch schlimmer geworden.‹ So machen auch wir[130] beide es jetzt. Ich rede von Nationalökonomie; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Sozialismus; Sie sagen: ›Es wird nur schlimmer.‹ Ich rede von Bildung; wieder: ›Es wird nur schlimmer.‹«
»Ja, inwiefern können denn da die Schulen helfen?«
»Sie erwecken bei dem Volke andere Bedürfnisse.«
»Da haben wir's. Gerade das ist es, was ich nie habe begreifen können!« erwiderte Ljewin hitzig. »Auf welche Weise können die Schulen dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein? Sie sagen: die Schulen und die Bildung erwecken beim Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer; denn das Volk wird nicht imstande sein, diese neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Und auf welche Weise die Kenntnis des Addierens und Subtrahierens und des Katechismus dem Volke zur Verbesserung seiner materiellen Lage behilflich sein soll, das habe ich nie begreifen können. Vorgestern abend traf ich eine Bauersfrau mit einem Säugling und fragte sie, wohin sie ginge. Sie antwortete: ›Ich bin bei der Hebamme gewesen; das Jungchen hatte den Schreikrampf bekommen; da habe ich es hingetragen, damit sie es heilen sollte.‹ Ich fragte: ›Wie heilt denn die Hebamme den Schreikrampf?‹ ›Sie setzt das Kindchen zu den Hühnern auf die Sitzstange und sagt etwas dazu.‹«
»Na, sehen Sie wohl, da sagen Sie es ja selbst! Damit so eine Frau nicht ihr Kind hinträgt, um es auf der Hühnerstange vom Schreikrampfe heilen zu lassen, dazu sind die Schulen nötig ...« sagte Swijaschski mit vergnügtem Lächeln.
»Aber nein doch!« erwiderte Ljewin ärgerlich. »Diese Heilmethode benutzte ich ja nur zum Vergleiche mit der Heilung des Volkes durch Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir ebenso deutlich, wie die Bauersfrau den Schreikrampf daran erkennt, daß das Kind so schreit. Aber auf welche Weise gegen diesen schlimmen Zustand, die Armut und den Mangel an Bildung, dem Volke die Schulen helfen sollen, das ist ebenso unbegreiflich, wie es unbegreiflich ist, auf welche Weise die Hühner auf der Sitzstange gegen den Schreikrampf helfen sollen. Die Hilfe muß sich gegen die Ursache der Armut des Volkes richten.«
»Na, wenigstens in diesem Punkte stimmen Sie mit Spencer überein, den Sie ja so wenig leiden können; der sagt auch, die Bildung könne eine Folge größeren Wohlstandes und Wohlbehagens – wie er sich ausdrückt: häufigen Waschens – sein, nicht aber eine Folge der Kenntnis des Lesens und Schreibens.«
»Nun, sehen Sie, da bin ich ja sehr froh oder vielmehr sehr mißvergnügt, daß ich mit Spencer übereinstimme; aber zu dieser[131] Erkenntnis bin ich schon längst gekommen. Schulen helfen da nicht; helfen kann da nur eine wirtschaftliche Einrichtung, bei der das Volk reicher wird und mehr freie Zeit bekommt – dann werden die Schulen ganz von selbst entstehen.«
»Und doch ist jetzt in ganz Europa der Schulbesuch Pflicht.«
»Aber wie können denn Sie selbst in diesem Punkt mit Spencer einer Meinung sein?« fragte Ljewin.
Aber in Swijaschskis Augen wurde wieder für einen Augenblick jener Ausdruck von Angst sichtbar, und er antwortete lächelnd:
»Nein, diese Geschichte von dem Schreikrampf ist ausgezeichnet! Und das haben Sie wirklich selbst gehört?«
Ljewin sah, daß es ihm auf diese Weise nicht gelingen werde, den inneren Zusammenhang zwischen dem praktischen Leben dieses Mannes und seiner Gedankenwelt zu finden. Es war diesem offenbar ganz gleichgültig, zu welchen Ergebnissen ihn seine Denktätigkeit führte; woran ihm lag, das war eben nur die Tätigkeit des Denkens selbst. Unangenehm war es ihm allerdings, wenn diese Denktätigkeit ihn in eine Sackgasse führte. Nur das mochte er nicht leiden und suchte sich dann dadurch zu helfen, daß er die Rede auf irgend etwas Angenehmes und Vergnügliches brachte.
Alle Erlebnisse dieses Tages hatten auf Ljewin stark gewirkt, darunter als erstes der Eindruck, den ihm der Bauer auf der Mitte seiner Fahrt gemacht hatte, ein Eindruck, der gleichsam die Basis für alle weiteren Eindrücke des Tages abgab. Dieser liebenswürdige Swijaschski, der sich eine bestimmte Gattung von Gedanken nur so für die Bedürfnisse des gesellschaftlichen Verkehrs hielt und offenbar noch andere, vor Ljewins Spürsinn verborgene Grundanschauungen für sein Handeln besaß und zugleich, wie viele andere Leute, deren Name Legion ist, auf die Anschauungen seiner Mitmenschen durch Gedanken, die ihm selbst fremd waren, leitend einwirkte; dann dieser verbitterte Gutsbesitzer, der durchaus recht hatte in den Schlußfolgerungen, die ihm das Leben aufgezwungen hatte, aber unrecht in seiner Verbitterung gegen eine ganze Volksklasse, und zwar gegen die beste in Rußland; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Tätigkeit und die unklare Hoffnung, daß sich ein Mittel werde finden lassen, um dies alles zu bessern: alles das floß bei ihm zusammen zu einem Gefühle innerer Unruhe und gespannten Wartens auf eine nahe Klärung.
Als Ljewin in dem ihm angewiesenen Zimmer allein geblieben war und auf der Sprungfedermatratze lag, die bei jeder Bewegung seine Arme und Beine unerwartet in die Höhe schnellen[132] ließ, da konnte er lange nicht einschlafen. Nichts von dem, was er in den Gesprächen mit Swijaschski zu hören bekommen hatte, interessierte ihn, obgleich gar manche seiner Äußerungen klug und verständig gewesen war; dagegen fühlte er sich durch die Ausführungen des Gutsbesitzers zum Nachdenken aufgefordert. Unwillkürlich rief er sich alle Worte dieses Mannes ins Gedächtnis zurück und verbesserte in Gedanken das, was er ihm darauf geantwortet hatte.
›Ja, ich hätte ihm sagen sollen: »Sie behaupten, Ihre Wirtschaft gehe deswegen nicht nach Wunsch, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse und diese von Staats wegen eingeführt werden müßten. Freilich, wenn eine Wirtschaft ohne diese Vervollkommnungen überhaupt nicht gedeihen könnte, dann würden Sie recht haben; nun geht aber die Wirtschaft nur da ordentlich, wo der Arbeiter in einer seinen Gewohnheiten entsprechenden Weise beschäftigt wird, wie bei dem alten Bauern auf der Hälfte des Weges hierher. Aus Ihrer und unserer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Gange der Wirtschaft muß gefolgert werden, daß wir selbst die Schuld daran tragen, und nicht die Arbeiter. Wir versteifen uns schon lange auf unseren, das heißt den europäischen Standpunkt, ohne nach den Eigenheiten der arbeitenden Klasse zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, in dem Arbeiter nicht lediglich eine beziehungslose arbeitende Kraft zu sehen, sondern den russischen Bauer mit allen seinen Eigenheiten, und richten wir danach unsere Wirtschaft ein. Stellen Sie sich vor«, hätte ich zu ihm sagen sollen, »daß die Wirtschaft bei Ihnen so geführt wird wie bei jenem alten Bauern, daß Sie ein Mittel gefunden haben, die Arbeiter an dem Erfolge der Arbeit zu interessieren, und daß Sie in den Vervollkommnungen das Mittelmaß gefunden haben, das den Arbeitern nicht widersteht: dann werden Sie, ohne den Boden zu erschöpfen, gegen früher den doppelten und dreifachen Ertrag erzielen. Teilen Sie diesen Ertrag in zwei gleiche Teile und geben Sie die eine Hälfte an die Arbeiter; dann wird der Ihnen verbleibende Teil immer noch größer sein als bisher, und auch die Arbeiter werden mehr erhalten. Um das also zu erreichen, muß man den Stand der Landwirtschaft etwas herabsetzen und die Arbeiter an dem Erfolge der Wirtschaft beteiligen. Wie das zu machen ist, das muß noch im einzelnen überlegt und geprüft werden; aber daß es möglich ist, daran kann kein Zweifel sein.«‹
Dieser Gedanke brachte Ljewin in starke Erregung. Er schlief die halbe Nacht nicht und durchdachte alle zur Ausführung dieser Idee erforderlichen Einzelheiten. Er hatte eigentlich nicht[133] vorgehabt, schon am folgenden Tage wieder abzureisen, faßte aber jetzt den Entschluß, gleich am frühen Morgen wieder nach Hause zu fahren. Zudem erweckte diese Schwägerin mit dem Ausschnitt im Kleide bei ihm eine Empfindung, die mit der Scham und Reue über eine begangene schlechte Tat große Ähnlichkeit hatte. Der Hauptgrund aber, der seine unverzügliche Abreise nötig machte, war: er mußte den Bauern den neuen Plan vorlegen, ehe noch die Winterbestellung begann, damit diese schon auf Grund der neuen Abmachungen stattfinden könne. Er hatte den Entschluß gefaßt, seinen ganzen bisherigen Wirtschaftsbetrieb umzugestalten.
Buchempfehlung
Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht
282 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro