[32] Während Stepan Arkadjewitsch nach Petersburg gereist war, um eine ganz selbstverständliche, allen Beamten bekannte, wiewohl den Nichtbeamten unverständliche, unerläßliche Pflicht zu erfüllen, ohne deren Erfüllung man überhaupt nicht Beamter[32] sein kann – nämlich sich im Ministerium in Erinnerung zu bringen –, und während er zur Erfüllung dieser Pflicht fast alles im Hause vorhandene Geld mitgenommen hatte und die Zeit lustig und vergnügt bei Pferderennen und mit Besuchen in den Landhäusern verbrachte: unterdessen war Dolly mit den Kindern aufs Land übergesiedelt, um die Ausgaben nach Möglichkeit zu verringern. Sie war nach dem Gute Jerguschowo gezogen, das sie bei ihrer Verheiratung als Mitgift bekommen hatte, nach ebendem Gute, wo im Frühjahr der Wald verkauft worden war; es lag von Ljewins Gut Pokrowskoje ungefähr fünfzig Werst entfernt.
In Jerguschowo war das große alte Herrenhaus schon seit langer Zeit völlig verfallen, und schon Dollys Vater hatte zum Ersatz ein Nebengebäude vergrößern und einrichten lassen. Dieses Nebengebäude war vor zwanzig Jahren, als Dolly noch ein Kind war, für die Familie geräumig genug und ganz behaglich gewesen, wenn es auch wie alle Nebengebäude der Anfahrtsallee und dem Süden seine Flanke zukehrte. Aber jetzt war dieses Nebengebäude alt und muffig. Schon als Stepan Arkadjewitsch im Frühjahr wegen des Waldverkaufs nach dem Gute gefahren war, hatte ihn Dolly gebeten, das Haus nachzusehen und die erforderlichen Ausbesserungen anzuordnen. Stepan Arkadjewitsch, der, wie alle schuldbewußten Ehemänner, sehr um die Bequemlichkeit seiner Frau besorgt war, hatte das Haus selbst besichtigt und alles, was nach seiner Ansicht nötig war, angeordnet. Nach seiner Auffassung mußten die sämtlichen Möbel mit Kretonne überzogen, Gardinen aufgehängt, der Garten gesäubert, Blumen darin gepflanzt und über den Teich eine kleine Brücke gebaut werden; aber er vergaß viele andere notwendige Dinge, deren Mangel Darja Alexandrowna nachher sehr schmerzlich empfand.
Obgleich sich Stepan Arkadjewitsch die größte Mühe gab, ein sorglicher Vater und Gatte zu sein, so vermochte er doch schlechterdings nicht den Gedanken festzuhalten, daß er eine Frau und Kinder habe. Er hatte die Neigungen eines Junggesellen und richtete sich in seinem ganzen Tun nur nach diesen. Nach Moskau zurückgekehrt, erklärte er seiner Frau voll Stolz, alle Vorbereitungen seien getroffen, das Haus werde wie ein Putzkästchen aussehen, und er rate ihr dringend, dorthin überzusiedeln. Daß seine Frau aufs Land zog, war für Stepan Arkadjewitsch in vieler Hinsicht sehr angenehm und erwünscht: für die Kinder war es gesund, die Ausgaben wurden dadurch geringer, und er selbst fühlte sich dann freier. Darja Alexandrowna ihrerseits war der Ansicht, daß ein Sommeraufenthalt[33] auf dem Lande für die Kinder geradezu notwendig sei, namentlich für das kleine Mädchen, das nach dem Scharlachfieber noch gar nicht wieder zurechtkommen wollte; auch freute sie sich darauf, von all den kleinen Demütigungen erlöst zu werden, den kleinen Schulden beim Holzhändler, beim Fischhändler, beim Schuhmacher; denn diese Schulden waren ihr eine Pein. Außerdem war ihr die Reise aufs Land noch deshalb erwünscht, weil sie ihre Schwester Kitty zu bewegen hoffte, zu ihr aufs Land zu kommen; diese sollte um die Mitte des Sommers aus dem Auslande zurückkehren, und es waren ihr kalte Bäder verordnet worden. Kitty schrieb aus dem Badeorte, nichts könne ihr reizvoller erscheinen, als den Sommer mit Dolly zusammen in Jerguschowo zu verleben, wo alles für sie beide voll von Kindheitserinnerungen sei.
Zuerst hatte Dolly auf dem Lande eine recht schwere Zeit durchzumachen. Sie hatte als Kind auf dem Lande gelebt und sich aus jener Zeit die Vorstellung bewahrt, daß das Leben auf dem Lande eine Erlösung von allen städtischen Unannehmlichkeiten bedeute, daß das Leben dort, wenn auch nicht unterhaltsam (darüber tröstete sich Dolly leicht), so doch dafür billig und bequem sei: man habe da alles, es sei alles billig, alles könne man sich verschaffen, und es tue den Kindern gut. Aber jetzt, wo sie als Hausfrau auf das Land kam, sah sie, daß die Dinge ganz anders lagen, als sie gedacht hatte.
Am Tage nach ihrer Ankunft kam ein gehöriger Platzregen, und in der Nacht kam das Wasser auf dem Vorflur und im Kinderzimmer durch die Decke, so daß die Bettchen in die Wohnstube hinübergetragen werden mußten. Eine Gesindeköchin war nicht vorhanden; von den neun Kühen waren nach Aussage der Viehmagd einige noch Färsen, andere waren mit dem ersten Kalbe trächtig, wieder andere waren schon zu alt oder auch harteutrig. Weder Butter noch Milch war in genügender Menge vorhanden, nicht einmal für die Kinder. Eier gab es nicht. Eine Henne war nirgends zu bekommen; zum Braten und Kochen wurden alte, zähe Hähne mit violettem Fleisch verwendet. Weiber zum Scheuern waren nicht zu haben; sie hatten alle auf den Kartoffelfeldern zu tun. Spazierenzufahren war unmöglich, weil das Deichselpferd stätisch war und in der Gabeldeichsel ausschlug. Auch zum Baden war nirgends eine Möglichkeit; das ganze Ufer des Flusses war vom Vieh zerstampft und lag nach der Landstraße hin frei da. Man konnte nicht einmal im Garten spazierengehen, weil das Vieh durch den zerbrochenen Zaun in den Garten hineinkam, darunter auch ein furchtbarer Stier, der entsetzlich brüllte und von dem man sich daher wohl auch versehen[34] konnte, daß er stieß. Ordentliche Kleiderschränke gab es nicht; die, die da waren, ließen sich nicht zumachen und öffneten sich von selbst, wenn jemand an ihnen vorbeiging. Es mangelte an eisernen und irdenen Kochtöpfen; desgleichen fehlte ein Waschkessel; und in der Mädchenstube fand sich nicht einmal ein Plättbrett.
Als Darja Alexandrowna in dieses von ihrem Standpunkte aus furchtbare Elend hineingeraten war, befand sie sich in der ersten Zeit, statt Ruhe und Erholung zu finden, geradezu in Verzweiflung: sie quälte und plackte sich, soweit ihre Kraft nur irgend reichte; sie fühlte, daß es aus dieser Lage keine Rettung gab, und mußte fortwährend die Tränen zurückdrängen, die ihr in die Augen traten. Der Verwalter, ein ehemaliger Wachtmeister, an dem Stepan Arkadjewitsch wegen seines hübschen Äußeren und seines achtungsvollen Benehmens Gefallen gefunden und den er deshalb vom Pförtner zum Verwalter befördert hatte, zeigte für Darja Alexandrownas Nöte keinerlei Teilnahme; er sagte nur achtungsvoll: »Es ist nichts zu machen; die Leute sind gar zu unbrauchbar«, und leistete ihr nicht die geringste Hilfe.
Die Lage schien hoffnungslos. Aber es gab im Oblonskischen Hause wie in vielen Familien eine wenig hervortretende und doch sehr wichtige und nützliche Persönlichkeit; und das war hier Matrona Filimonowna. Sie beruhigte ihre Herrin, versicherte ihr, es werde sich alles schon wieder »einrenken« (das war ein Lieblingsausdruck bei ihr, und von ihr hatte ihn Matwei erst übernommen), und griff selbst ohne Hast und Aufregung wacker mit zu.
Sie hatte sich sofort an die Frau des Verwalters herangemacht und gleich am ersten Tage mit ihr und dem Verwalter unter den Akazien Tee getrunken und alle möglichen Wirtschaftsangelegenheiten durchgesprochen. Bald bildete sich unter den Akazien ein von Matrona Filimonowna geleiteter Klub, und durch diesen Klub, dessen Mitglieder die Frau des Verwalters, der Dorfschulze und der Gutsschreiber waren, wurden allmählich die Schwierigkeiten des Daseins behoben, und nach einer Woche hatte sich tatsächlich alles »eingerenkt«. Das Dach war ausgebessert, eine Gevatterin des Dorfschulzen als Köchin angenommen; Hühner waren gekauft; die Kühe hatten angefangen Milch zu geben; die Lücken des Gartenzaunes waren durch Stangen geschlossen; der Zimmermann hatte eine Wäschemangel angefertigt; an den Schränken waren Vorlegehaken angebracht, so daß sie sich nicht mehr von selbst öffneten, und ein Plättbrett, mit Zeug von einem Soldatenmantel bezogen, ruhte nun mit[35] dem einen Ende auf einer Stuhllehne, mit dem andern auf einer Kommode, und in der Mädchenstube hatte es angefangen, nach heißen Plätteisen zu riechen.
»Na, sehen Sie wohl? Und Sie waren schon ganz in Verzweiflung«, sagte Matrona Filimonowna, stolz auf das Plättbrett weisend.
Sogar ein Badehäuschen wurde aus Rahmen mit Strohmatten erbaut. Lilly begann zu baden, und Darja Alexandrownas Hoffnung auf ein wenn auch nicht ruhiges, so doch bequemes Leben auf dem Lande ging nun wenigstens teilweise in Erfüllung. Ruhig, wirklich ruhig konnte Darja Alexandrowna mit ihren sechs Kindern überhaupt nicht sein. Das eine wurde krank; ein anderes konnte krank werden; einem dritten fehlte irgend etwas an der Kleidung; ein viertes zeigte Anzeichen eines schlechten Charakters, und so weiter. Zeiten der Ruhe kamen nur äußerst selten vor und waren immer nur von ganz kurzer Dauer. Aber diese Geschäftigkeit und Unruhe bildete für Darja Alexandrowna das einzige mögliche Glück. Wäre ihr Geist nicht in dieser Weise beschäftigt gewesen, so hätte sie nichts weiter gehabt als ihre Gedanken an den Gatten, der sie nicht liebte. Und dazu kam noch dies: wie schwer auch die Befürchtung möglicher Krankheiten, die Krankheiten selbst und der Kummer bei der Wahrnehmung von Anzeichen übler Neigungen der Kinder auf der Mutter lasteten, so vergalten ihr doch schon jetzt die Kinder selbst alle ihre Bekümmernisse durch kleine Freuden. Diese Freuden waren so klein, daß sie leicht unbeachtet blieben wie Goldkörner im Sande, und in schlimmen Augenblicken sah die Mutter nur die Bekümmernisse, den Sand; aber es gab auch gute Augenblicke, in denen sie nur die Freuden sah, nur das Gold.
Jetzt, in der Einsamkeit des Lebens auf dem Lande wurde sie sich dieser Freuden immer öfter und öfter bewußt. Oft, wenn sie ihre Kinder ansah, machte sie alle möglichen Anstrengungen, um sich selbst zu der Überzeugung zu bringen, daß sie sich irre und nach Mutterart von ihren Kindern zu sehr eingenommen sei; aber trotzdem konnte sie nicht umhin, sich zu sagen, daß ihre Kinder doch ganz prächtige Kinder seien, alle sechs, jedes auf andere Art, aber sämtlich Kinder, wie man sie selten findet – und sie war glücklich über sie und stolz auf sie.
Buchempfehlung
Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.
358 Seiten, 14.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro