31

[135] Wronski hatte in der Nacht gar nicht versucht zu schlafen. Auf seinem Platze sitzend, starrte er bald geradeaus vor sich hin, bald musterte er die Ein- und Aussteigenden, und wenn er schon in früherer Zeit Leute, die ihn nicht kannten, durch den Ausdruck der unerschütterlichen Ruhe in seinem Gesichte überrascht und befremdet hatte, so erregte er jetzt in noch höherem Grade den Anschein des Stolzes und der Selbstzufriedenheit. Er blickte auf die Menschen hin wie auf leblose Gegenstände. Ein nervöser junger Mann, Beamter bei einem Kreisgericht, der ihm gegenübersaß, warf wegen dieser Miene einen ordentlichen Haß auf ihn. Der junge Mann hatte sich von ihm Feuer für seine Zigarette geben lassen, hatte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen versucht, hatte sogar eine Gelegenheit benutzt, ihn anzustoßen, um ihm zu verstehen zu geben, daß er kein lebloser Gegenstand, sondern ein Mensch sei; aber Wronski blickte mit ebenso gleichgültiger Miene nach ihm hin wie nach der Laterne, und der junge Mann schnitt Grimassen, weil er fühlte, daß er gegenüber dieser beharrlichen Weigerung, ihn als Menschen anzuerkennen, nahe daran war, die Selbstbeherrschung zu verlieren.

Wronski sah nichts und niemanden. Er kam sich wie ein König vor, nicht weil er geglaubt hätte, auf Anna Eindruck gemacht zu haben – das glaubte er noch keineswegs –, sondern weil ihn der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, mit einem Gefühle des Glückes und Stolzes erfüllte.

Was aus alledem werden sollte, das wußte er nicht, und er dachte auch nicht einmal daran. Er fühlte, daß alle seine bisher planlos zersplitterten Kräfte sich jetzt auf einen Punkt hin drängten und sich mit furchtbarer Gewalt auf ein ersehntes Ziel richteten. Und darüber war er glücklich. Er wußte nur, daß er ihr die Wahrheit gesagt hatte: daß er nicht anders konnte,[135] als dahin zu fahren, wo sie war, daß er sein ganzes Lebensglück, den gesamten Wert und Inhalt seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Und als er in Bologoje ausgestiegen war, um ein Glas Selterswasser zu trinken, und Anna erblickt hatte, da hatte er ihr unwillkürlich mit dem ersten Worte seine Empfindung ausgesprochen. Und er war froh darüber, daß er es ihr gesagt hatte und sie es jetzt wußte und daran dachte. Er schlief die ganze Nacht nicht. Als er in seinen Wagen zurückgekehrt war, rief er sich unablässig alle Stellungen, in denen er sie gesehen hatte, und jedes ihrer Worte ins Gedächtnis zurück, und vor seinem geistigen Auge zogen Bilder einer ihm als möglich erscheinenden Zukunft vorüber, Bilder von einem verlockenden Reiz, der ihm das Herz stocken ließ.

Als er in Petersburg ausstieg, fühlte er sich nach der schlaflosen Nacht belebt und frisch wie nach einem kalten Bade. Er blieb neben seinem Wagen stehen und wartete, bis Anna ausstiege. ›Ich will sie noch einmal sehen‹, sagte er zu sich mit einem unwillkürlichen Lächeln, ›ich will ihren Gang sehen, ihr Gesicht sehen, will die Bewegung ihres Mundes sehen, wenn sie etwa mit jemand spricht; und vielleicht wendet sie dann den Kopf und sieht mich und lächelt vielleicht.‹ Aber noch ehe er sie selbst sah, erblickte er ihren Mann, den der Bahnhofsvorsteher achtungsvoll durch den Menschenschwarm hindurch begleitete. ›Ach ja, ihr Mann!‹ Jetzt zum ersten Male gewann Wronski ein klares Verständnis dafür, daß dieser Gatte eine mit ihr in enger Beziehung stehende Persönlichkeit sei. Er hatte gewußt, daß sie einen Mann hatte, aber er hatte eigentlich nicht an dessen Dasein geglaubt und gelangte erst jetzt zur vollen Überzeugung, als er ihn sah, mit seinem Kopfe und mit seinen Schultern und seinen in schwarzen Hosen steckenden Beinen, und namentlich, als er sah, wie dieser Mann mit dem Benehmen des berechtigten Eigentümers ihre Hand ergriff.

Als er diesen Alexei Alexandrowitsch sah, mit seinem petersburgisch frischen Gesichte, in seiner außerordentlich selbstbewußten Haltung, mit dem runden Hute, mit dem ein wenig gewölbten Rücken, da mußte er wohl an sein Dasein glauben und hatte eine unangenehme Empfindung, etwa wie wenn ein Mensch, vom Durste gequält, zu einer Quelle gelangt und an dieser Quelle einen Hund, ein Schaf oder ein Schwein findet, die von dem Wasser getrunken und es aufgerührt haben. Die Art, in der Alexei Alexandrowitsch ging, indem er bei jedem Schritte mit dem Becken und den plumpen Beinen eine drehende Bewegung machte, hatte für Wronski etwas ganz besonders Abstoßendes. Er erkannte nur für sich selbst ein unbestreitbares[136] Recht an, sie zu lieben. Sie aber war unverändert, und ihr Anblick wirkte auf ihn ganz wie sonst: er belebte ihn physisch, regte ihn an und erfüllte seine Seele mit einem Gefühle der Glückseligkeit. Er befahl seinem deutschen Diener, der aus der zweiten Klasse ausgestiegen und zu ihm geeilt war, sich das Gepäck geben zu lassen und damit nach Hause zu fahren; er selbst ging zu Anna hin. Er beobachtete die erste Begegnung von Mann und Frau und bemerkte mit dem Scharfblicke des Liebenden an manchen Anzeichen, daß sie im Gespräch mit ihrem Manne nicht frei von einer leisen Befangenheit war. ›Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn nicht lieben‹, sagte er sich mit großer Bestimmtheit.

Schon während er von hinten her auf Anna Arkadjewna zuging, bemerkte er mit lebhafter Freude, daß sie seine Annäherung fühlte und schon den Kopf drehte, um sich umzuschauen, dann aber, als sie ihn erkannte, sich wieder ihrem Manne zuwendete.

»Haben Sie eine gute Nacht gehabt?« fragte er, indem er sich vor ihr und zugleich auch vor ihrem Mann verbeugte und es auf diese Art diesem anheimstellte, die Verbeugung auch auf sich zu beziehen und ihn zu erkennen oder nicht zu erkennen, wie es ihm belieben möchte.

»Ja, ich danke, ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie. Ihr Gesicht erschien müde, und von dem Mienenspiel, durch das sich sonst bei ihr die innere Lebhaftigkeit bald in einem Lächeln der Lippen, bald im Glanze der Augen verriet, war jetzt nichts vorhanden; aber für einen einzigen Augenblick blitzte bei einem Anblick in ihren Augen etwas auf, und obwohl dieses Leuchten sofort wieder erlosch, machte ihn doch dieser eine Augenblick glücklich. Sie sah ihren Mann an, um sich zu vergewissern, ob er Wronski erkenne. Alexei Alexandrowitsch blickte diesen mißmutig an und suchte halb zerstreut in seinem Gedächtnisse, wer das wohl sein möchte. Wronskis Ruhe und Selbstbewußtsein stießen hier wie die Sense auf den Stein mit dem kalten Wesen und dem Selbstbewußtsein Alexei Alexandrowitschs zusammen.

»Graf Wronski«, sagte Anna.

»Ah! Ich glaube, wir kennen einander«, bemerkte Alexei Alexandrowitsch in gleichgültigem Tone und reichte ihm die Hand. »Hin bist du also mit der Mutter gefahren und zurück mit dem Sohne«, fuhr er, zu Anna gewendet, fort, wobei er sich einer so bedächtigen, sorgsamen Aussprache bediente, als ob jedes Wort ein Rubel wäre, den er wegschenkte. »Sie kommen gewiß von Ihrem Urlaub zurück?« fragte er Wronski und[137] kehrte sich, ohne dessen Antwort abzuwarten, wieder in seinem scherzenden Tone zu seiner Frau hin: »Nun, sind in Moskau beim Abschied viele Tränen geflossen?«

Durch diese Frage an seine Frau wollte er Wronski zu verstehen geben, daß er allein zu bleiben wünsche, und berührte, zu ihm gewandt, seinen Hut. Aber Wronski wendete sich zu Anna Arkadjewna:

»Ich hoffe, daß ich die Ehre haben darf, Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Alexei Alexandrowitsch blickte mit seinen müden Augen Wronski an.

»Sehr angenehm«, versetzte er kühl. »Wir empfangen montags.« Nachdem er so das Gespräch mit Wronski endgültig zum Abschluß gebracht hatte, sagte er zu seiner Frau in jenem selben scherzhaften Tone: »Wie gut, daß ich gerade eine halbe Stunde freie Zeit hatte, um dich abzuholen, und dir dadurch meine Zärtlichkeit beweisen konnte.«

»Du hebst deine Zärtlichkeit denn doch gar zu stark hervor, als daß ich sie so sehr hoch veranschlagen könnte«, versetzte sie in demselben scherzhaften Tone und horchte dabei unwillkürlich auf den Schall der Schritte Wronskis, der hinter ihnen ging. ›Aber was kümmert das mich?‹ dachte sie und fragte ihren Mann, wie es dem kleinen Sergei in ihrer Abwesenheit ergangen sei.

»Oh, vorzüglich! Mariette sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich – ich muß dich da leider betrüben – gar nicht nach dir gegrämt, ganz anders als dein Gatte. Aber noch einmal merci, liebe Frau, daß du mir unerwartet diesen Tag geschenkt hast. Unser lieber Samowar wird ganz entzückt sein.« (Samowar nannte er die überall bekannte Gräfin Lydia Iwanowna, und zwar weil sie immer und über alles mögliche sich erhitzte und aufbrauste.) »Sie hat sich fortwährend nach dir erkundigt. Und weißt du, wenn ich mir erlauben darf, dir einen Rat zu geben, du solltest gleich heute zu ihr hinfahren. Sie nimmt sich ja alles so furchtbar zu Herzen. Zu allem, was sie so schon zu tun hat, interessiert sie sich jetzt auch noch für die Aussöhnung der Oblonskis.«

Die Gräfin Lydia Iwanowna war mit Annas Manne befreundet und bildete den Mittelpunkt des Petersburger Gesellschaftskreises, in dem Anna ihres Mannes wegen am meisten verkehrte.

»Ich habe ihr ja darüber geschrieben.«

»Gewiß, aber sie möchte alles ganz genau wissen. Besuche sie doch, wenn du nicht zu müde bist, liebe Frau. Nun also, dich wird Kondrati nach Hause fahren, und ich meinerseits fahre in[138] die Komiteesitzung. Nun brauche ich doch nicht mehr allein zu Mittag zu speisen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort, und zwar jetzt nicht mehr in dem scherzenden Tone. »Du glaubst gar nicht, wie ich mich an dich gewöhnt habe ...«

Er drückte ihr lange die Hand und war ihr mit einem besonderen Lächeln beim Einsteigen in den Wagen behilflich.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 1, S. 135-139.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon