[305] Ljewin war nun fast drei Monate verheiratet. Er war glücklich, aber in ganz anderer Weise, als er es erwartet hatte. Auf Schritt und Tritt begegnete ihm bald eine Enttäuschung gegenüber seinen früheren Träumereien, bald ein neues, unerwartetes Entzücken. Er war glücklich; aber nachdem er jetzt in das Eheleben eingetreten war, sah er in all und jeder Hinsicht, wie ganz anders es beschaffen war, als er es sich vorgestellt hatte. Er hatte fortwährend die Empfindung wie jemand, der sich von weitem an dem Anblick eines sanft und glücklich dahinfahrenden Kahnes ergötzt hat, nun selbst in diesen Kahn eingestiegen ist. Da sieht er denn, daß es keineswegs genügt, still und ohne zu schaukeln dazusitzen, sondern daß er auch den Umständen gemäß selbst handeln muß, daß er keinen Augenblick des Zieles seiner Fahrt uneingedenk sein darf, und daß sich unter seinen Füßen Wasser befindet, und daß er rudern muß, und daß das ungewohnten Händen weh tut, und daß das zwar sehr leicht[305] anzusehen, aber, wenn es auch sehr viel Freude macht, doch recht schwer zu tun ist.
Oft, wenn er als Junggeselle auf das Eheleben anderer Leute hingeblickt hatte, auf die kleinlichen Sorgen, die Streitigkeiten, die Eifersüchteleien, dann hatte er im stillen nur geringschätzig gelächelt. In seinem eigenen künftigen Eheleben konnte seiner festen Überzeugung nach nichts Derartiges vorkommen; ja er war der Meinung gewesen, auch die gesamten äußeren Formen des Ehelebens würden bei ihm mit Notwendigkeit in allen Stücken ganz anders sein. Und statt dessen gestaltete sich nun sein eigenes Zusammenleben mit seiner Frau zu seiner Überraschung ganz und gar nicht in irgendwelcher besonderen Weise; im Gegenteil, sein ganzes Eheleben setzte sich aus denselben nichtigen Kleinigkeiten zusammen, die er früher so geringgeschätzt hatte, die aber jetzt, ganz gegen seinen Willen, eine außerordentliche, unbestreitbare Bedeutung erlangt hatten. Und Ljewin sah, daß die richtige Erledigung aller dieser Kleinigkeiten durchaus nicht so leicht war, wie er sich das gedacht hatte. Obgleich er gemeint hatte, die zutreffendsten Begriffe vom Eheleben zu haben, hatte er sich, wie alle Männer, die Vorstellung gemacht, dieses bestehe lediglich darin, daß man sich dem Genusse seiner Liebe hingebe, den nichts beeinträchtigen dürfe und von dem man sich durch kleinliche Sorgen nicht dürfe ablenken lassen. Er würde, so hatte er sich das ausgemalt, zuerst seine Arbeit verrichten und sich dann in den Armen der Liebe davon erholen. Seine Gattin aber würde nur die eine Aufgabe haben, sich lieben zu lassen. Aber wie alle Männer hatte er vergessen, daß auch sie werde arbeiten müssen. Und er war ganz erstaunt, daß sie, diese poetische, reizende Kitty, gleich in den ersten Wochen, ja gleich in den ersten Tagen ihres Ehelebens es fertigbrachte, an Tischtücher, an Möbel, an Matratzen für die Fremdenstuben, an ein Präsentierbrett, an den Koch, an das Mittagessen und ähnliche Dinge zu denken und all so etwas zu überlegen und zu besorgen. Schon als er noch Bräutigam war, hatte ihn die Bestimmtheit überrascht, mit der sie eine Reise ins Ausland ablehnte und sich dafür aussprach, gleich nach dem Gute überzusiedeln, als wüßte sie schon Bescheid, was nötig sei; wie hatte sie nur außer an ihre Liebe auch noch an andere Dinge denken können! Das hatte ihn damals gekränkt, und auch jetzt verletzte sie ihn manchmal durch ihre kleinlichen Sorgen und Geschäfte. Aber er sah, daß ihr das ein Herzensbedürfnis war. Und obwohl er nicht recht verstand, wozu diese eifrige Tätigkeit nötig und nütze sei, und sich darüber lustig machte, so konnte er doch, da er seine Frau liebte, nicht umhin, auf ihre Tätigkeit[306] mit Freude und Bewunderung zu blicken. Er machte sich darüber lustig, wie eifrig sie die aus Moskau mitgebrachten Möbel aufstellte, wie sie ihr Zimmer und das seinige neu einrichtete, wie sie die Gardinen aufhängte, wie sie die künftigen Fremdenzimmer und das Zimmer für Dolly zurechtmachte, wie sie für ihre Kammerjungfer eine Stube ausstattete, wie sie dem alten Koch Anweisungen für das Mittagessen gab und wie sie sich in längere Auseinandersetzungen mit Agafja Michailowna einließ, der sie die Verwaltung der Vorratskammer abnehmen wollte. Er sah, daß der alte Koch lächelte und sie mit Wohlgefallen betrachtete, während er ihre ungeschickten, unmöglichen Befehle anhörte; er sah, daß Agafja Michailowna über die neuen Anordnungen der jungen Herrin wegen der Vorratskammer bedenklich und freundlich den Kopf schüttelte; er sah, daß Kitty ganz allerliebst war, wenn sie lachend und weinend zu ihm kam, um sich darüber zu beklagen, daß die Kammerjungfer Mascha immer noch gewohnt sei, sie als das junge Fräulein zu betrachten, und ihr daher niemand recht folgen wolle. All das schien ihm so lieb und nett, aber doch wunderlich, und er meinte, daß es ohne diese materiellen Dinge schöner sein würde.
Er konnte ihr nicht recht nachfühlen, was sie bei dieser Veränderung ihrer Lebensstellung empfand: daß sie früher zu Hause manchmal Appetit auf Kohl mit Kwaß oder auf Konfekt gehabt hatte und sich weder das eine noch das andere hatte beschaffen können, jetzt aber in der Lage war, sich Konfekt haufenweise zu kaufen und Geld auszugeben, soviel sie wollte, und sich Pasteten, und was sie sonst nur von Speisen wünschte, machen zu lassen.
Sie dachte jetzt mit lebhafter Freude an die bevor stehende Ankunft Dollys mit den Kindern, namentlich weil sie jedem der Kinder seine Lieblingssorte Kuchen backen lassen wollte und weil sie hoffte, Dolly würde ihre ganze neue Hauseinrichtung bewundern. Sie wußte selbst nicht, woher es kam und wozu es nötig war, aber die Hauswirtschaft hatte für sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Da sie instinktiv das Herannahen des Frühlings fühlte und wußte, daß auch garstige Regentage nicht ausbleiben würden, so baute sie ihr Nest, so gut sie es verstand, und hatte es eilig, gleichzeitig zu bauen und zu lernen, wie sie es machen müßte.
Kittys Geschäftigkeit um solche kleinlichen Dinge, die zu Ljewins idealer Vorstellung von dem überirdischen Glück der ersten Ehezeit in so starkem Gegensatze stand, war eine der Enttäuschungen, die er erlebte; und zugleich gewährte ihm diese allerliebste Geschäftigkeit, deren Sinn und Zweck er nicht begriff,[307] die er aber nicht umhinkonnte, mit herzlichem Vergnügen zu beobachten, eine neue entzückende Freude.
Eine andere Enttäuschung und Freude waren die Streitigkeiten. Ljewin hatte sich nie vorstellen können, daß zwischen ihm und seiner Frau ein anderer Ton des Verkehrs als ein durchaus zärtlicher, achtungsvoller, liebevoller möglich sei, und nun hatten sie sich gleich in den ersten Tagen so arg gezankt, daß sie ihm gesagt hatte, er liebe sie nicht, er liebe nur sich allein, und unter verzweifeltem Händeringen in Tränen ausgebrochen war.
Dieser erste Streit war daher entstanden, daß Ljewin nach dem neuen Vorwerk geritten und eine halbe Stunde länger vom Hause weggeblieben war; er hatte heimwärts einen näheren Weg reiten wollen und sich dabei verirrt. Auf dem Heimwege dachte er nur an sie, an ihre Liebe, an sein Glück, und je näher er seinem Hause kam, um so heißer wurde seine zärtliche Sehnsucht nach ihr. Er stürmte zu ihr ins Zimmer mit ebenso feuriger, ja mit noch feurigerer Empfindung als damals, da er in das Schtscherbazkische Haus gekommen war, um ihr einen Antrag zu machen. Und ganz unerwartet begegnete er einer finsteren Miene, wie er sie noch nie an ihr gesehen hatte. Er wollte sie küssen; aber sie stieß ihn zurück.
»Was hast du?«
»Du bist ja sehr vergnügt ...«, begann sie, indem sie sich Mühe gab, in ruhigem, bitterem Tone zu sprechen.
Aber kaum hatte sie den Mund geöffnet, als auch die Worte wie ein gehemmter Strom hervorbrachen: Vorwürfe sinnloser Eifersucht und all die törichten Gedanken, von denen sie diese halbe Stunde lang gepeinigt worden war, während sie ohne sich zu rühren am Fenster gesessen hatte. Erst jetzt verstand er zum ersten Male klar, was er damals noch nicht verstanden hatte, als er sie nach der Trauung aus der Kirche führte. Er verstand, daß sie ihm nicht nur nahestand, sondern daß er jetzt nicht mehr wußte, wo sie aufhörte und er anfing. Er erkannte dies an dem schmerzlichen Gefühl, das er in diesem Augenblick empfand, einem Gefühl, als ob er in zwei Teile geteilt würde. Im ersten Augenblick fühlte er sich gekränkt; aber in der gleichen Sekunde fühlte er auch, daß sie ihn gar nicht kränken könne, daß sie und er dieselbe Person seien. Er hatte im ersten Augenblick eine Empfindung, wie wenn jemand plötzlich von hinten einen heftigen Stoß erhält, sich zornig und rachbegierig umdreht, um den Schuldigen zu entdecken, und sich nun überzeugt, daß er sich selbst unversehens gestoßen hat, daß er auf niemand zornig zu sein Anlaß hat und den Schmerz eben ertragen und nach Möglichkeit lindern muß.[308]
In späteren Jahren empfand er all das nie wieder mit solcher Stärke; aber dieses erstemal war der Schmerz so heftig, daß Ljewin lange Zeit seine Fassung nicht wiedergewinnen konnte. Ein natürliches Gefühl verlangte von ihm, daß er sich rechtfertige und ihr ihr Unrecht nachweise; aber er sagte sich, wenn er das täte, so würde er sie dadurch nur noch mehr reizen und den Riß, der die Ursache des ganzen Kummers war, nur noch vergrößern. Ein Gefühl, das ihm durch die Gewohnheit geläufig war, trieb ihn, die Schuld von sich abzuweisen und ihr zuzuschieben; aber ein anderes Gefühl, stärker als jenes, riet ihm, den eingetretenen Riß schnell, so schnell wie nur möglich, wieder auszubessern und ihm keine Zeit zu lassen, sich noch zu erweitern. Eine so ungerechte Beschuldigung auf sich sitzen zu lassen war ja schmerzlich; aber Kitty durch eine Rechtfertigung weh zu tun, das war noch schlimmer. Wie jemand, der im Halbschlaf einen quälenden Schmerz fühlt, so wollte er das, was den Schmerz verursachte, von sich losreißen und wegschleudern und merkte, zur Besinnung kommend, daß das, was den Schmerz verursachte, ein Teil seines eigenen Selbst war. Die Aufgabe konnte nur darin bestehen, dem kranken Teile beim Überstehen des Schmerzes behilflich zu sein, und er bemühte sich, dies zu tun.
Sie versöhnten sich. Kitty, die ihre Schuld eingesehen hatte, wenn sie sie auch nicht zugestand, wurde noch zärtlicher gegen ihn, und beide empfanden ihr Liebesglück doppelt. Aber das verhinderte nicht, daß sich derartige Zusammenstöße wiederholten, und sogar recht oft und bei den unerwartetsten und nichtigsten Anlässen. Diese Zusammenstöße kamen oft daher, daß sie beiderseits noch nicht wußten, was dem andern Herzenssache war, oft aber auch daher, daß sie beide in dieser ersten Zeit häufig schlechter Laune waren. War der eine von ihnen gut gelaunt und der andere schlecht gelaunt, so wurde der Friede nicht gestört; aber wenn zufällig beide mißgestimmt waren, so gingen Zusammenstöße aus so unbegreiflich nichtigen Ursachen hervor, daß sie sich nachher gar nicht mehr erinnern konnten, warum sie eigentlich miteinander gestritten hatten. Freilich war anderseits, wenn sich beide in guter Stimmung befanden, ihre Freude am Leben auch wieder doppelt. Aber doch war diese erste Zeit für sie beide recht schwer.
Während der ganzen ersten Zeit machte sich eine Art von Spannung lebhaft fühlbar, als ob die Kette, durch die sie verknüpft waren, bald nach der einen, bald nach der andern Seite gezogen würde. Überhaupt war dieser Honigmond, das heißt der erste Monat nach der Hochzeit, von dem auf Grund der überlieferten[309] Anschauung Ljewin soviel erwartet hatte, keineswegs honigsüß, sondern er blieb in der Erinnerung der beiden Gatten als die schwerste, beschämendste Zeit ihres Lebens haften. Beide bemühten sich in gleicher Weise im späteren Leben, all die häßlichen, beschämenden Vorfälle dieser krankhaften Zeitspanne, in der sie beide sich selten in normaler Stimmung befunden hatten und selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnisse auszulöschen.
Erst im dritten Monat ihrer Ehe, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, wohin sie zu einmonatigem Aufenthalt gereist waren, gestaltete sich ihr Leben gleichmäßiger.
Buchempfehlung
Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
140 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro