20

[330] Am andern Tage nahm der Kranke das Abendmahl und empfing die Letzte Ölung. Während der heiligen Handlung betete Nikolai Ljewin heiß und inbrünstig. Er richtete seine großen Augen unverwandt auf das Heiligenbild, das auf einem mit einem geblümten Tuch bedeckten Spieltische stand, und es lag in ihnen ein so leidenschaftlicher Ausdruck des Flehens und der Hoffnung, daß es für Konstantin schrecklich war, hinzusehen. Er fühlte, daß dieses leidenschaftliche Flehen und Hoffen seinem Bruder den Abschied von diesem Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machte. Konstantin kannte seinen Bruder und dessen geistigen Entwicklungsgang; er wußte, daß Nikolais Unglaube nicht daher rührte, daß er es leichter gefunden hätte, ohne Glauben zu leben, sondern daher, daß sein Glaube Schritt für Schritt von den Erklärungen, die die moderne Wissenschaft von den irdischen Erscheinungen gibt, zurückgedrängt worden war, und daher wußte er, daß seine jetzige Rückkehr zum Glauben keine normale war, sich nicht auf dem Wege derselben Denkarbeit vollzog, sondern daß sie nur der Not des Augenblicks, dem Selbsterhaltungstrieb und einer sinnlosen Hoffnung auf Genesung entsprang. Auch wußte Konstantin, daß Kitty durch ihre Erzählungen von Fällen überraschender Genesung, von denen sie gehört habe, diese Hoffnung noch gesteigert hatte. Alles das wußte Konstantin, und es war ihm eine entsetzliche Pein, diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick und diese abgemagerte Hand zu sehen, die sich nur mit Anstrengung hob, um auf dieser straff umspannten Stirn, auf diesen vorstehenden Schultern und der hohlen, röchelnden Brust das Zeichen des Kreuzes zu machen, während doch der arme Leib das Leben, um das der Kranke bat, nicht mehr in sich beherbergen konnte. Während der heiligen Handlung tat Konstantin das, was er, der Ungläubige,[330] schon tausendmal getan hatte. Er wandte sich zu Gott und sprach: »Wenn Du lebst und bist, so mache, daß dieser Mensch wieder gesund werde« (diese letzteren Gebetsworte wiederholten sich ja im Laufe der heiligen Handlung oftmals), »und Du wirst ihn und mich retten.«

Nach der Ölung wurde dem Kranken auf einmal viel besser. Er hustete im Laufe einer Stunde kein einziges Mal, lächelte, küßte Kitty die Hand, dankte ihr unter Tränen und sagte, er fühle sich wohl, habe nirgends Schmerzen und verspüre wieder Appetit und neue Kraft. Er richtete sich sogar ohne Beihilfe auf, als ihm seine Suppe gebracht wurde, und bat noch um ein Kotelett. Obgleich sein Zustand völlig hoffnungslos war und man, wenn man den Kranken ansah, nicht zweifeln konnte, daß eine Genesung ausgeschlossen sei, so befanden sich Konstantin und Kitty doch diese Stunde hindurch in einer glücklichen Erregung und zugleich in einer ängstlichen Besorgnis, ob sie sich auch nicht täuschten.

»Geht es ihm besser?« – »Ja, bedeutend besser.« – »Wunderbar!« – »Dabei ist nichts Wunderbares.« – »Nun, jedenfalls geht es ihm besser«, sprachen sie flüsternd untereinander und lächelten einer dem andern zu.

Diese Selbsttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer. Der Kranke war ruhig eingeschlafen; aber nach einer halben Stunde weckte ihn ein Hustenanfall auf. Und auf einmal waren alle Hoffnungen wieder verschwunden, sowohl bei seiner Umgebung wie auch bei ihm selbst. Die Schwere des tatsächlichen Leidens vernichtete bei Konstantin und bei Kitty und bei dem Kranken selbst alle bisherigen Hoffnungen, ohne daß auch nur eine Erinnerung daran oder irgendwelcher Zweifel übriggeblieben wäre.

Ohne von der religiösen Tröstung, an die er noch vor einer halben Stunde geglaubt hatte, ein Wort zu sagen, wie wenn er sich schämte, auch nur daran zu denken, verlangte er, es solle ihm Jod zum Einatmen in einem Fläschchen gegeben werden, das mit einem durchlöcherten Papier bedeckt war. Konstantin reichte ihm das Gefäß, und derselbe Blick leidenschaftlicher Hoffnung, mit dem der Kranke die Letzte Ölung empfangen hatte, richtete sich jetzt auf den Bruder und verlangte von ihm eine Wiederholung der Äußerung des Arztes, daß das Einatmen von Jod manchmal geradezu Wunder wirke.

»Ist Kitty nicht hier?« sagte er heiser, nachdem ihm Konstantin mit Widerstreben die Worte des Arztes wiederholt hatte, und sah sich um. »Nein, nun, dann kann ich es ja sagen ... Ich habe die ganze Komödie nur um ihretwillen durchgeführt. Sie ist so lieb[331] und gut; aber du und ich, wir dürfen einander nichts vormachen. Hier, an das hier glaube ich«, sagte er und begann, seine knochige Hand fest um das Fläschchen pressend, aus ihm zu atmen.

Zwischen sieben und acht Uhr abends tranken Konstantin und seine Frau in ihrem Zimmer Tee, als Marja Nikolajewna atemlos zu ihnen hereingestürzt kam. Sie war blaß, und ihre Lippen zitterten. »Er liegt im Sterben!« flüsterte sie. »Ich fürchte, er wird gleich sterben.«

Beide eilten zu ihm. Er hatte sich im Bette etwas aufgerichtet und saß, auf einen Ellbogen gestützt, da; der lange Rücken war zusammengekrümmt, der Kopf hing tief herab.

»Wie fühlst du dich?« fragte Konstantin flüsternd nach kurzem Schweigen.

»Ich fühle, daß ich davon muß«, sagte Nikolai mit Anstrengung, aber ungewöhnlich deutlich, indem er die Worte langsam herauspreßte. Er hob den Kopf nicht in die Höhe, sondern richtete nur die Augen nach oben, ohne aber mit ihnen das Gesicht des Bruders zu erreichen. »Katja, geh hinaus!« fügte er dann noch hinzu.

Konstantin sprang auf und veranlaßte sie, indem er ihr in gebieterischem Ton etwas zuflüsterte, hinauszugehen.

»Ich muß davon«, wiederholte Nikolai.

»Warum meinst du das?« fragte Konstantin, um überhaupt etwas zu sagen.

»Weil ich davon muß«, sagte er noch einmal, wie wenn ihm dieser Ausdruck besonders gefiele. »Es ist zu Ende.«

Marja Nikolajewna trat zu ihm heran.

»Sie sollten sich hinlegen; es ist Ihnen dann leichter«, sagte sie.

»Bald werde ich liegen«, antwortete er leise; »als Leiche«, fügte er spöttisch und ingrimmig hinzu. »Na, dann legt mich hin, wenn ihr das wollt.«

Konstantin legte den Bruder auf den Rücken, setzte sich neben ihn und blickte ihm, kaum zu atmen wagend, ins Gesicht. Der Sterbende lag mit geschlossenen Augen da; aber auf seiner Stirn bewegten sich ab und zu die Muskeln, wie bei jemand, der tief und angestrengt nachdenkt. Unwillkürlich überlegte Konstantin, was wohl jetzt in der Seele des Sterbenden vorgehen möge; aber wie sehr er auch seine Denkkraft anstrengte, um dem Gedankengang seines Bruders zu folgen, so sah er doch am Ausdruck dieses ruhigen, ernsten Gesichtes und am Spiel der Muskeln oberhalb der Brauen, daß dem Sterbenden immer klarer und klarer wurde, was für ihn, Konstantin, noch immer gleich dunkel blieb.

»Ja, ja, so ist es«, sagte der Sterbende langsam und in Absätzen. »Warte einmal.« Wieder schwieg er eine Weile. »So ist[332] es!« fügte er dann in gedehntem Ton, wie beruhigt, hinzu, als ob er nun über alles ins reine gekommen wäre. »O Gott!« sagte er hierauf und seufzte schwer.

Marja Nikolajewna befühlte seine Füße. »Sie werden kalt«, flüsterte sie.

Lange, sehr lange, wie es Konstantin vorkam, lag der Kranke da, ohne sich zu rühren. Aber er lebte immer noch und seufzte von Zeit zu Zeit. Konstantin war von dem angestrengten Denken schon ganz müde. Er fühlte, daß er trotz aller Anspannung seiner Denkkraft nicht imstande war, zu begreifen, was »so« war. Er fühlte, daß er in dieser Gedankenarbeit schon längst hinter dem Sterbenden zurückgeblieben war. Er war jetzt nicht mehr imstande, an die eigentliche Frage nach dem Wesen des Todes zu denken, sondern unwillkürlich kamen ihm Gedanken darüber, was er jetzt, sofort, werde tun müssen: dem Toten die Augen zudrücken, ihn ankleiden, einen Sarg bestellen. Und seltsam: er fühlte sich vollständig kalt und empfand weder Kummer noch das Gefühl eines Verlustes und noch weniger Mitleid mit dem Bruder. Wenn jetzt in seiner Seele ein Gefühl seinem Bruder gegenüber rege war, so war es eher das Gefühl des Neides wegen der Erkenntnis, zu der der Sterbende jetzt gelangt war, während sie ihm selbst noch unzugänglich blieb.

Noch lange saß er so an seinem Bett und wartete immer auf das Ende. Aber das Ende kam noch nicht. Die Tür öffnete sich, und Kitty erschien. Konstantin stand auf, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Augenblick, als er aufstand, hörte er, daß der Sterbende sich regte.

»Geh nicht fort«, sagte Nikolai und streckte die Hand aus. Konstantin gab ihm die seinige und winkte seiner Frau ärgerlich zu, sie möchte hinausgehen.

Die Hand des Sterbenden in der seinen haltend, saß er eine halbe Stunde da, eine ganze Stunde, und noch eine Stunde. An den Tod dachte er jetzt überhaupt nicht mehr. Er dachte, was wohl jetzt Kitty tue, wer in dem anstoßenden Zimmer wohne, ob der Arzt ein eigenes Haus habe. Er bekam Lust, etwas zu essen, auch regte sich der Wunsch zu schlafen. Vorsichtig machte er seine Hand frei und befühlte die Füße. Sie waren kalt; aber der Kranke atmete immer noch. Konstantin versuchte wieder, auf den Fußspitzen hinauszugehen; aber der Kranke rührte sich wieder und sagte: »Geh nicht fort.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Morgendämmerung kam; der Zustand des Kranken war immer noch der gleiche. Konstantin machte ganz leise, ohne den Sterbenden anzublicken, seine Hand frei, ging nach seinem[333] Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder erwachte, erfuhr er, statt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartet hatte, daß der Kranke wieder in den früheren Zustand zurückgekehrt sei. Er setzte sich wieder ab und zu hin, hustete, aß und redete; und er redete nicht mehr vom Tode, sondern sprach wieder die Hoffnung auf Genesung aus und war noch reizbarer und finsterer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder noch Kitty, vermochte ihn zu beruhigen. Er war auf alle ärgerlich und sagte allen Unangenehmes; allen machte er seine Leiden zum Vorwurf und verlangte, man solle ihm den berühmten Arzt aus Moskau kommen lassen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen, wie er sich fühle, antwortete er gleichmäßig mit einem Ausdrucke des Ingrimms und des Vorwurfs: »Ich leide furchtbar, unerträglich!«

Die Leiden des Kranken wurden immer schlimmer, namentlich auch wegen der durchgelegenen Stellen, die nicht mehr geheilt werden konnten; er ärgerte sich immer mehr über alle, die um ihn waren, machte ihnen alles mögliche zum Vorwurf und schalt sie besonders deswegen, weil sie ihm nicht den Arzt aus Moskau kommen ließen. Kitty bemühte sich auf jede Weise, ihm zu helfen und ihn zu beruhigen; aber es war alles vergeblich, und Konstantin sah, daß sie selbst körperlich und seelisch erschöpft war, obwohl sie es nicht zugeben wollte. Das erste feierliche Gefühl der Nähe des Todes, das in aller Herzen durch Nikolais Abschied vom Leben in jener Nacht hervorgerufen war, wo er den Bruder hatte rufen lassen, dieses Gefühl war zerstört. Alle wußten, daß er mit Notwendigkeit und in Bälde sterben werde, daß er bereits halb eine Leiche sei; alle hatten nur den einen Wunsch, daß er recht bald sterben möge. Aber alle verheimlichten diese Erkenntnis und diesen Wunsch, reichten ihm aus dem Fläschchen seine Arznei, ließen andere Arzneien und andere Ärzte holen und suchten den Kranken zu täuschen und jeder sich selbst und einer den andern. All das war Lüge, häßliche, beleidigende, frevelhafte Lüge. Und diese Lüge empfand Konstantin Ljewin von allen am schmerzlichsten, sowohl infolge seiner Charakterbeschaffenheit, wie auch weil er den Sterbenden am meisten liebte.

Konstantin, den schon lange der Gedanke beschäftigte, die Brüder wenigstens vor dem Tode noch miteinander zu versöhnen, hatte an den Bruder Sergei Iwanowitsch geschrieben, und als er seine Antwort erhalten hatte, las er dem Kranken den Brief vor. Sergei Iwanowitsch schrieb, es sei ihm nicht möglich, selbst zu kommen, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.[334]

Der Kranke äußerte nichts dazu.

»Was soll ich ihm zurückschreiben?« fragte Konstantin. »Ich hoffe, du bist nicht mehr zornig auf ihn?«

»Nein, gar nicht!« antwortete Nikolai ärgerlich auf diese Frage. »Schreib ihm, er soll mir den Arzt herschicken.«

Es vergingen noch drei qualvolle Tage; der Kranke verblieb immer im gleichen Zustand. Den Wunsch, daß er bald sterben möge, teilten jetzt alle, die ihn sahen oder von seinem Zustand wußten: die Dienerschaft des Hotels, und der Wirt, und sämtliche Gäste, und der Arzt, und Marja Nikolajewna, und Konstantin Ljewin, und Kitty. Einzig und allein der Kranke sprach keinen derartigen Wunsch aus, sondern war im Gegenteil darüber aufgebracht, daß man nicht den Moskauer Arzt kommen lasse, und fuhr fort, seine Arzneien zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den seltenen Augenblicken, wo das Opium ihn auf kurze Zeit seine ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er mitunter im Halbschlummer den Gedanken aus, der im Grunde stärker als bei allen anderen in seiner Seele rege war: »Ach, wenn es doch erst zu Ende wäre!« oder: »Wann wird das zu Ende sein?«

Die stetig sich steigernden Schmerzen taten ihr Werk und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab schon keine Körperlage mehr, in der er nicht gelitten hätte, keinen Augenblick, wo er sich seiner Schmerzen nicht bewußt gewesen wäre, an seinem ganzen Leibe keinen Fleck, keinen Teil, der ihm nicht weh getan, ihn nicht gepeinigt hätte. Sogar die Erinnerungen, die seelischen Empfindungen, die Gedanken, die in diesem Körper noch vorhanden waren, riefen bei dem Kranken jetzt schon denselben Widerwillen hervor wie der Körper selbst. Der Anblick anderer Menschen, ihre Reden, seine eigenen Erinnerungen, alles dies bereitete ihm lediglich Schmerz und Pein. Seine Umgebung fühlte das, und unwillkürlich vermied es jeder, im Zimmer des Kranken sich frei zu bewegen, ein Gespräch zu führen oder einen Wunsch auszusprechen. Sein gesamter Rest von Lebenstätigkeit beschränkte sich ausschließlich auf das Empfinden seines Leidens und auf den Wunsch, davon erlöst zu werden.

Es vollzog sich in seinem Innern offenbar jener Umschwung, der ihn dahin bringen mußte, im Tod die Erfüllung seiner Wünsche, sein Glück zu sehen. Früher war jeder besondere, durch das Leiden oder durch irgendeinen Mangel hervorgerufene Wunsch, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, durch eine Tätigkeit des Körpers befriedigt worden, die ihm Genuß gewährte; jetzt aber war bei seinem Leiden und allem, was er entbehrte, eine Befriedigung seiner Wünsche unmöglich geworden, und jeder Versuch[335] einer Befriedigung verursachte nur neues Leiden. Und daher fanden sich alle seine Wünsche in dem einen Wunsche zusammen, von allen seinen Leiden und von deren Quelle, dem Körper, befreit zu werden. Aber er fand keine Worte, um diesen Wunsch nach Befriedigung auszudrücken, und daher sprach er von diesem Wunsche gar nicht, sondern forderte aus alter Gewohnheit die Erfüllung solcher Wünsche, die doch nicht mehr zu seiner Befriedigung erfüllt werden konnten. »Legt mich auf die andere Seite«, sagte er und forderte gleich darauf, man solle ihn wieder wie vorher lagern. – »Gebt mir Fleischbrühe!« – »Nehmt die Fleischbrühe weg.« – »Erzählt doch etwas; warum schweigt ihr denn immer?« Und sobald sie zu reden anfingen, schloß er die Augen und bekundete Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Widerwillen.

Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt wurde Kitty krank. Sie hatte Kopfschmerzen und Erbrechen und mußte den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.

Der Arzt äußerte, die Krankheit komme von Übermüdung und Aufregung, und verordnete ihr seelische Ruhe.

Am Nachmittag stand Kitty aber doch auf und ging wie immer mit ihrer Handarbeit zu dem Kranken. Er sah sie bei ihrem Eintritt mit einem strengen Blick an und lächelte geringschätzig, als sie sagte, sie sei krank gewesen. An diesem Tage mußte er sich beständig die Nase schnauben und stöhnte kläglich.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie ihn.

»Schlechter«, brachte er mühsam heraus. »Ich habe Schmerzen.«

»Wo haben Sie denn Schmerzen?«

»Überall.«

»Heute geht es mit ihm zu Ende; Sie werden sehen«, sagte Marja Nikolajewna, zwar flüsternd, aber doch so laut, daß der Kranke, der, wie Konstantin gemerkt hatte, sehr feinhörig war, es gehört haben mußte. Konstantin bedeutete ihr durch Zischen, sie solle still sein, und sah nach dem Kranken hin. Nikolai hatte es gehört; aber diese Worte hatten auf ihn gar keinen Eindruck gemacht. Sein Blick war immer gleich vorwurfsvoll und gespannt.

»Warum denken Sie das?« fragte Konstantin sie, als sie ihm auf den Flur hinaus gefolgt war.

»Er hat angefangen, sich sauber zu machen«, antwortete Marja Nikolajewna.

»Was heißt das: sich sauber zu machen?«

»Sehen Sie: so!« erwiderte sie, indem sie an den Falten ihres wollenen Kleides herumzupfte. Und in der Tat hatte Konstantin bemerkt, daß der Kranke diesen ganzen Tag über an sich herumgegriffen hatte, wie wenn er etwas abzupfen wollte.[336]

Marja Nikolajewnas Voraussage erwies sich als richtig. Der Kranke war zur Nacht nicht mehr imstande, die Arme zu heben, und sah nur vor sich hin, ohne daß sich jemals der aufmerksam gespannte Ausdruck seines Blickes geändert hätte. Selbst wenn sein Bruder oder Kitty sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, behielt er dieselbe Art zu blicken bei. Kitty ließ einen Geistlichen holen, der das Sterbegebet lesen sollte.

Während der Geistliche das Gebet las, gab der Sterbende keinerlei Lebenszeichen von sich; seine Augen waren geschlossen. Konstantin, Kitty und Marja Nikolajewna standen neben dem Bett. Der Geistliche hatte das Gebet noch nicht bis zu Ende gelesen, als der Sterbende sich ausstreckte, seufzte und die Augen öffnete. Als der Geistliche das Gebet beendet hatte, legte er ihm das Kreuz an die kalte Stirn und wickelte es dann langsam in sein Schultertuch ein; nachdem er noch etwa zwei Minuten schweigend dagestanden hatte, berührte er die erkaltete blutleere große Hand.

»Er ist verschieden«, sagte der Geistliche und wollte zurücktreten; aber plötzlich bewegte sich der zusammengeklebte Schnurrbart des Daliegenden, und in der Stille wurden die aus tiefer Brust scharf und bestimmt herauskommenden Worte deutlich vernehmbar:

»Noch nicht ganz ... aber bald.«

Eine Minute später hellte sich sein Gesicht auf, unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln, und die Leichenfrauen, die sich schon versammelt hatten, gingen geschäftig daran, den Toten zurechtzumachen.

Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes hatten in Konstantin Ljewins Seele jenes Gefühl des Grausens vor der Rätselhaftigkeit des Todes und zugleich vor seiner Nähe und Unvermeidlichkeit wieder von neuem wachgerufen, das an dem Herbstabend, wo sein Bruder zu ihm auf Besuch gekommen war, sich seiner bemächtigt hatte. Dieses Gefühl war jetzt in ihm noch stärker als vorher; er fühlte sich jetzt noch weniger fähig als früher, das eigentliche Wesen des Todes zu verstehen, und seine Unvermeidlichkeit erschien ihm noch furchtbarer. Aber jetzt brachte ihn dieses Gefühl, dank der Gegenwart seiner Frau, nicht zur Verzweiflung; denn trotz der Gegenwart des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und daß diese Liebe infolge der drohenden Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.

Kaum hatte sich vor seinen Augen das ungelöst gebliebene Geheimnis des Todes vollzogen, als ein anderes, ebenso rätselhaftes[337] Geheimnis vor ihm erstand, das zur Liebe und zum Leben aufforderte.

Der Arzt stellte die Richtigkeit der Vermutung fest, die er im stillen über Kitty gehabt hatte: ihr Unwohlsein rührte von Schwangerschaft her.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 330-338.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

Geschichte der Abderiten

Der satirische Roman von Christoph Martin Wieland erscheint 1774 in Fortsetzung in der Zeitschrift »Der Teutsche Merkur«. Wielands Spott zielt auf die kleinbürgerliche Einfalt seiner Zeit. Den Text habe er in einer Stunde des Unmuts geschrieben »wie ich von meinem Mansardenfenster herab die ganze Welt voll Koth und Unrath erblickte und mich an ihr zu rächen entschloß.«

270 Seiten, 9.60 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon