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[346] Die Gräfin Lydia Iwanowna war als sehr junges, schwärmerisches Mädchen an einen reichen, vornehmen, gutmütigen, liederlichen Lebemann verheiratet worden. Schon im zweiten Monat der Ehe vernachlässigte er sie und beantwortete ihre begeisterten Liebesbeteuerungen nur mit Spott und sogar mit einer Feindseligkeit, die die Leute, die einerseits das gute Herz des Grafen kannten und anderseits an der schwärmerischen Lydia keine Mängel sahen, sich schlechterdings nicht erklären konnten. Seitdem lebten sie, wenn sie sich auch nicht hatten scheiden lassen, doch getrennt voneinander, und wenn der Mann mit seiner Frau zusammentraf, so behandelte er sie stets und unveränderlich mit jenem giftigen Spott, dessen Ursache allen unverständlich war.

Die Gräfin Lydia Iwanowna war in ihren Mann schon längst nicht mehr verliebt; aber es hatte seit jener Zeit keinen Augenblick gegeben, wo sie nicht in irgend jemand verliebt gewesen wäre. Manchmal war sie in mehrere Menschen zugleich verliebt, sowohl in Männer wie in Frauen; sie verliebte sich fast in alle Menschen, die sich durch irgend etwas auszeichneten. Sie verliebte sich in alle neuen Prinzen und Prinzessinnen, die mit der kaiserlichen Familie durch Heirat in Verwandtschaft traten; sie verliebte sich in einen Metropoliten, in einen Vikar und in einen[346] Pfarrer; sie verliebte sich in einen Journalisten, in drei Panslawisten, in Komisarow; in einen Minister, in einen Arzt, in einen englischen Missionar und in Karenin. Alle diese zärtlichen Gefühle, die bald schwächer, bald stärker auftraten, hinderten sie nicht, die ausgedehntesten und verwickeltsten Beziehungen mit dem Hofe und der vornehmen Gesellschaft zu unterhalten. Aber seit sie nach dem Unglück, von dem Karenin betroffen worden war, diesen unter ihren ganz besonderen Schutz genommen hatte, sich in Karenins Haushalt abarbeitete und für sein persönliches Wohlbefinden sorgte, seitdem fühlte sie, daß alle ihre früheren Liebesgefühle nicht wahr und echt gewesen seien, daß sie aber jetzt in Karenin allein wirklich verliebt sei. Das Gefühl, das sie jetzt für ihn empfand, erschien ihr stärker als alle früheren. Wenn sie dieses Gefühl prüfte und mit ihren früheren verglich, so erkannte sie deutlich, daß sie sich in Komisarow nicht verliebt hätte, wenn er nicht dem Kaiser das Leben gerettet, sich nicht in Ristitsch-Kudschizki verliebt hätte, wenn er nicht so eifrig für den Panslawismus gewirkt hätte, daß sie aber Karenin um seiner selbst willen liebte, wegen seiner hohen, unverstandenen Seele, und wegen des ihr so angenehmen hohen Klanges seiner Stimme mit ihrem langgezogenen Tonfall, und wegen seines müden Blickes, und wegen seines Charakters und seiner weichen, weißen Hände mit den hervortretenden Adern. Sie freute sich nicht nur über jede Begegnung mit ihm, sondern sie suchte auch auf seinem Gesicht nach Merkmalen des Eindrucks, den sie auf ihn gemacht habe. Sie wünschte ihm nicht nur durch ihre Reden, sondern auch durch ihre gesamte Persönlichkeit zu gefallen. Sie beschäftigte sich um seinetwillen mit ihrem Äußeren jetzt mehr als je vorher. Sie ertappte sich bei Träumereien, was wohl geschehen könnte, wenn sie nicht verheiratet und auch er frei wäre. Sie errötete vor Erregung, sobald er ins Zimmer trat; sie konnte ein Lächeln des Entzückens nicht zurückhalten, wenn er ihr etwas Angenehmes sagte.

Schon seit mehreren Tagen befand sich die Gräfin Lydia Iwanowna in der heftigsten Aufregung; sie hatte erfahren, daß Anna und Wronski sich in Petersburg befänden. Sie mußte Alexei Alexandrowitsch vor einer Begegnung mit Anna bewahren; sie mußte ihn sogar vor der schmerzlichen Kenntnis der Tatsache bewahren, daß dieses entsetzliche Weib sich mit ihm in ein und derselben Stadt aufhielt und er jeden Augenblick mit ihr zusammentreffen konnte.

Lydia Iwanowna zog durch ihre Bekannten Erkundigungen darüber ein, was diese »schrecklichen Menschen«, wie sie Anna und Wronski nannte, vorhätten, und bemühte sich, in diesen[347] Tagen alle Schritte ihres Freundes so zu leiten, daß er ihnen nicht begegnen konnte. Ein junger, mit Wronski befreundeter Adjutant, durch den sie Nachrichten erhielt und der durch Vermittlung der Gräfin Lydia Iwanowna eine Vergünstigung zu erlangen hoffte, teilte ihr mit, daß die beiden ihre geschäftlichen Angelegenheiten erledigt hätten und am folgenden Tage abreisen würden. Lydia Iwanowna fing schon an, sich zu beruhigen, da wurde ihr am nächsten Vormittag ein Brief überbracht, dessen Handschrift sie mit Schrecken erkannte. Es war Anna Kareninas Handschrift. Der längliche gelbe Umschlag bestand aus einem Papier, so dick wie Bast, und trug ein sehr großes Monogramm; der Brief duftete sehr angenehm.

»Wer hat das gebracht?«

»Ein Hoteldiener.«

Die Gräfin Lydia Iwanowna konnte sich lange nicht hinsetzen, um den Brief zu lesen. Vor Aufregung bekam sie einen Anfall von Atemnot, an der sie mitunter litt. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, las sie die folgenden in französischer Sprache geschriebenen Zeilen:


»Madame la Comtesse, die christlichen Gefühle, von denen Ihr Herz erfüllt ist, geben mir die, wie ich selbst fühle, unverzeihliche Kühnheit ein, an Sie zu schreiben. Die Trennung von meinem Sohne macht mich unglücklich. Ich flehe sie inständigst um die Erlaubnis an, ihn vor meiner Abreise nur ein einziges Mal sehen zu dürfen. Verzeihen Sie mir, daß ich mich Ihnen in Erinnerung bringe. Ich wende mich nur deshalb an Sie und nicht an Alexei Alexandrowitsch, weil ich diesem großmütigen Manne nicht durch die Erinnerung an mich Schmerz bereiten möchte. Da ich weiß, welche freundschaftliche Gesinnung Sie gegen ihn hegen, so darf ich hoffen, daß Sie mir dies nachfühlen. Wollen Sie Sergei zu mir schicken? Oder darf ich zu einer von Ihnen zu bestimmenden Zeit ins Haus kommen? Oder wollen Sie mich wissen lassen, wann und wo ich ihn außerhalb des Hauses sehen kann? Ich befürchte keine Ablehnung meiner Bitte, da ich die Großmut dessen kenne, von dem dies abhängt. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich mich danach sehne, ihn wiederzusehen, und daher können Sie sich auch nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen für Ihre Beihilfe sein werde.

Anna.«


Alles an diesem Briefe brachte die Gräfin Lydia Iwanowna auf: sein Inhalt und der Hinweis auf Karenins Großmut und namentlich der, wie es ihr vorkam, zu ungezwungene Ton.

»Sage dem Boten, daß keine Antwort erfolgt«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna. Dann öffnete sie sofort ihre Schreibmappe und schrieb an Alexei Alexandrowitsch, sie hoffe, ihn[348] zwischen zwölf und ein Uhr bei der Gratulationscour im Palais zu sehen.

»Ich muß notwendig mit Ihnen über eine ebenso wichtige wie traurige Angelegenheit reden. Dort wollen wir einen Ort für die Besprechung verabreden. Am besten wäre es bei mir zu Hause, wo ich Ihren Tee zubereiten lassen werde. Die Sache ist unumgänglich notwendig. Aber Er, der uns das Kreuz auflegt, Er verleiht uns auch die Kraft, es zu tragen«, fügte sie hinzu, um ihn wenigstens einigermaßen vorzubereiten.

Die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb gewöhnlich im Laufe jedes Tages zwei bis drei Briefchen an Alexei Alexandrowitsch. Sie liebte diese Art des Verkehrs mit ihm, weil sie etwas Elegantes und Geheimnisvolles an sich hatte, zwei Dinge, die bei dem persönlichen Verkehr der Gräfin mit Alexei Alexandrowitsch mangelten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 346-349.
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