31

[377] Wie lebhaft auch Anna das Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht, wie lange sie auch daran gedacht und sich darauf vorbereitet hatte, so hätte sie doch nicht erwartet, daß dieses Wiedersehen einen so heftigen Eindruck auf sie machen werde. Als sie in ihr einsames Zimmer im Gasthofe zurückgekehrt war, konnte sie lange nicht begreifen, warum sie eigentlich dort sei. ›Ja, nun ist alles aus, und ich bin wieder allein‹, sagte sie zu sich und setzte sich, ohne den Hut abzunehmen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Regungslos nach der Bronze-Uhr hinstarrend, die auf einem Tische zwischen den Fenstern stand, überließ sie sich ihren Gedanken.

Die französische Kammerjungfer, die sie aus dem Auslande mitgebracht hatte, kam herein und bot ihre Hilfe beim Umkleiden an. Anna blickte sie erstaunt an und erwiderte: »Später.« Der Kellner fragte an, ob sie jetzt den Kaffee befehle. »Später«, antwortete sie.

Die italienische Amme, die gerade die Kleine angekleidet hatte, kam mit ihr herein und brachte sie der Mutter. Das dicke, wohlgenährte kleine Mädchen drehte, wie immer beim Anblick[377] der Mutter, die nackten, in den Gelenken wie von umgewickelten Fäden tief eingekerbten Ärmchen mit den Handflächen nach unten und begann, mit dem zahnlosen Mündchen lächelnd, mit den Händen zu rudern wie ein Fisch mit den Flossen und mit ihnen auf den gestärkten Falten seines gestickten Kleidchens herumzurascheln. Es war unmöglich, nicht zu lächeln, die Kleine nicht zu küssen; es war unmöglich, ihr nicht einen Finger hinzuhalten, den sie dann, vor Freude aufkreischend und mit dem ganzen Körper aufhüpfend, erfaßte; es war unmöglich, ihr nicht die Lippen hinzuhalten, die sie statt eines Kusses mit ihrem Mündchen umfaßte. Und alles dies tat Anna auch: sie nahm sie auf den Arm und ließ sie springen und küßte sie auf das frische Bäckchen und die nackten Ellbogen; aber beim Anblick dieses Kindes wurde es ihr noch klarer, daß das Gefühl, das sie für die Kleine empfand, im Vergleich mit demjenigen, das sie für Sergei hegte, eigentlich gar nicht Liebe zu nennen war. Alles an diesem kleinen Mädchen war entzückend; aber eigentümlicherweise wirkte alles dies nicht auf ihr Herz. Auf das erste Kind, wenn es auch von einem ungeliebten Vater stammte, hatte sie alle Kraft ihrer anderweitig unbefriedigt gebliebenen Liebe verwandt; das kleine Mädchen aber war unter den schrecklichsten Umständen geboren, und es war ihm nicht der hundertste Teil der Sorgfalt zuteil geworden, die dem ersten Kinde gewidmet worden war. Außerdem war bei dem kleinen Mädchen alles erst noch von der Zukunft zu er warten; Sergei dagegen war schon beinahe ein richtiger Mensch, und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften schon Gedanken und Empfindungen; er verstand seine Mutter, er liebte sie, er hatte ein Urteil über sie; davon war sie, wenn sie sich seine Worte und Blicke vergegenwärtigte, überzeugt. Und nun war sie von ihm für immer nicht nur körperlich, sondern auch geistig getrennt, und es gab kein Mittel, dies zu ändern.

Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ sie und öffnete eine Bildkapsel, in dem sich ein Bild Sergeis aus der Zeit befand, wo er ungefähr ebenso alt gewesen war wie jetzt die Kleine. Sie stand auf, legte den Hut ab und nahm von einem Tischchen ein Album, das Aufnahmen ihres Sohnes aus verschiedenen Lebensaltern enthielt. Sie wollte die Bilder miteinander vergleichen und machte sich deshalb daran, sie aus dem Album herauszunehmen. Sie hatte schon fast alle herausgenommen, und nur eines, das letzte und beste Bild, steckte noch darin. Er saß darauf in einer weißen Hemdbluse rittlings auf einem Stuhle, kniff die Augen finster zusammen und lächelte mit dem Munde. Das war eine ihm ganz besonders eigene Miene, bei der[378] er am allerbesten aussah. Mit ihren kleinen, geschickten Händen, deren weiße, schlanke Finger sich jetzt besonders eifrig bewegten, erfaßte sie mehrmals ein Eckchen des Bildes; aber das Bild entschlüpfte ihr immer wieder, und sie konnte es nicht herausbekommen. Ein Papiermesser lag nicht auf dem Tische, und so zog sie denn das danebensteckende Bild aus der Einfassung (es war ein in Rom aufgenommenes Bild von Wronski, mit rundem Hut und mit langem Haar) und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus. ›Das ist ja sein Bild!‹ dachte sie, indem sie einen Blick auf das Bild Wronskis warf, und auf einmal erinnerte sie sich, wer die eigentliche Ursache ihres jetzigen Kummers war. Sie hatte diesen ganzen Morgen über auch nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber jetzt, da sie sein männliches, edles, ihr so wohlvertrautes und liebes Gesicht betrachtete, fühlte sie ein unerwartetes Aufwallen der Liebe in ihrem Herzen.

›Aber wo ist er denn? Wie kann er mich nur in meinem Leide allein lassen?‹ dachte sie plötzlich mit einem Gefühl des Vorwurfs und vergaß dabei, daß sie selbst ihm alles, was ihren Sohn betraf, verheimlicht hatte. Sie schickte zu ihm hinunter und ließ ihn bitten, sogleich zu ihr zu kommen; mit heftig klopfendem Herzen wartete sie auf ihn und sann im voraus darüber nach, mit welchen Worten sie ihm alles erzählen und mit welchen Versicherungen seiner Liebe er sie dann trösten werde. Der Bote kehrte mit der Antwort zurück, er habe Besuch von einem Herrn, werde aber gleich heraufkommen und lasse fragen, ob sie ihn mit seinem Gaste, dem Fürsten Jaschwin, der soeben in Petersburg angekommen sei, empfangen könne. ›Er legt keinen Wert darauf, allein zu kommen, und hat mich doch seit gestern mittag nicht gesehen‹, dachte sie. ›Nun kommt er nicht so, daß ich ihm alles offen mitteilen könnte, sondern bringt diesen Jaschwin mit.‹ Und plötzlich fuhr ihr der seltsame Gedanke durch den Kopf: ›Wie, wenn er mich nicht mehr liebt?‹

Und indem sie die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, glaubte sie in allem eine Bestätigung dieser schrecklichen Vermutung zu sehen: darin, daß er gestern auswärts zu Mittag gespeist hatte, und darin, daß er darauf bestanden hatte, daß sie in Petersburg getrennt wohnen sollten, und darin, daß er auch jetzt nicht allein zu ihr kam, gerade als wenn er ein Zusammentreffen unter vier Augen vermeiden wollte.

›Aber er muß mir darüber die Wahrheit sagen. Ich muß das wissen. Und wenn ich es wissen werde, dann werde ich auch wissen, was ich zu tun habe‹, sagte sie zu sich selbst, obgleich sie[379] nicht imstande war, sich eine Vorstellung von der Lage zu machen, in die sie kommen würde, wenn sie die Überzeugung von seiner Gleichgültigkeit gegen sie würde erlangt haben. Sie glaubte, daß er sie nicht mehr liebe, und war im höchsten Grade erregt, ja sie fühlte sich der Verzweiflung nahe. Sie klingelte der Kammerjungfer und ging in ihr Ankleidezimmer. Sie widmete heute ihrem Äußeren mehr Sorgfalt als all diese Tage über, als könnte er, wenn er sie nicht mehr liebte, sie um deswillen wieder von neuem liebgewinnen, weil sie das Kleid und die Frisur trug, die ihr am besten standen.

Noch ehe sie fertig war, hörte sie die Türklingel.

Als sie in das Besuchszimmer trat, war nicht Wronski, sondern Jaschwin der erste, der seinen Blick auf sie richtete. Wronski besah die Photographien ihres Sohnes, die sie aus Versehen auf dem Tisch hatte liegenlassen, und beeilte sich nicht, zu ihr aufzublicken.

»Wir kennen uns«, sagte sie, indem sie ihre kleine Hand in die gewaltige Tatze Jaschwins legte, der offenbar sehr verlegen war, was sich bei seiner hünenhaften Gestalt und seinen derben Gesichtszügen wunderlich genug ausnahm. »Wir haben uns im vorigen Jahre bei den Rennen kennengelernt. Bitte, geben Sie her«, sagte sie, indem sie Wronski mit einer raschen Bewegung die Photographien ihres Sohnes, die er besah, wegnahm und ihn mit ihren glänzenden Augen bedeutsam anblickte. »Waren die Rennen in diesem Jahre gut? Ich habe statt der Petersburger Rennen die Rennen auf dem Korso in Rom gesehen. Übrigens weiß ich, daß Sie das Leben im Auslande nicht lieben«, fuhr sie mit freundlichem Lächeln fort. »Ich kenne Sie und Ihren ganzen Geschmack, obgleich ich erst wenig mit Ihnen zusammengekommen bin.«

»Das tut mir sehr leid; denn ich besitze auf den allermeisten Gebieten einen recht schlechten Geschmack«, erwiderte Jaschwin und biß sich auf die linke Schnurrbartspitze.

Als die Unterhaltung noch ein Weilchen gedauert hatte und Jaschwin bemerkte, daß Wronski nach der Uhr sah, fragte er Anna, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werde, und griff dabei, seine mächtige Gestalt geradebiegend, nach seinem Käppi.

»Ich glaube, nicht mehr lange«, antwortete sie verlegen und blickte nach Wronski hin.

»Dann sehen wir uns also wohl nicht mehr?« fragte Jaschwin, sich an Wronski wendend, und stand auf. »Wo speisest du heute zu Mittag?«

»Speisen Sie doch bei uns«, sagte Anna in entschlossenem Tone, als ob sie auf sich selbst wegen ihrer Verlegenheit ärgerlich[380] sei; aber sie errötete, wie stets, wenn sie vor einem Fernerstehenden ihre Lage durchblicken ließ. »Das Essen ist hier zwar nicht besonders; aber wenigstens bleiben Sie auf diese Art mit Alexei zusammen. Alexei hat von allen seinen Regimentskameraden zu keinem eine solche Zuneigung wie zu Ihnen.«

»Mit großem Vergnügen«, erwiderte Jaschwin mit einem freundlichen Lächeln, aus dem Wronski erkannte, daß ihm Anna sehr gefiel.

Jaschwin empfahl sich und ging zur Tür; Wronski blieb noch zurück.

»Fährst du auch weg?« fragte sie ihn.

»Ja, ich muß mich beeilen; es ist mir schon etwas spät geworden«, antwortete er. »Geh nur! Ich komme dir sofort nach!« rief er Jaschwin zu.

Sie ergriff ihn bei der Hand, blickte ihn mit unverwandten Augen an und suchte in ihren Gedanken etwas, was sie ihm sagen könnte, um ihn zurückzuhalten.

»Warte einen Augenblick; ich möchte dir noch etwas sagen.« Sie nahm seine breite, kurze Hand und drückte sie gegen ihren Hals. »Ist es dir auch nicht unangenehm, daß ich ihn zum Mittagessen eingeladen habe?«

»Das hast du sehr gut gemacht«, antwortete er mit einem ruhigen Lächeln, das seine vollzähligen Zähne sichtbar werden ließ, und küßte ihr die Hand.

»Alexei, du hast dich doch mir gegenüber nicht verändert?« fragte sie und drückte seine Hand mit ihren beiden Händen. »Alexei, ich habe hier zu viel Qual ausstehen müssen. Wann reisen wir?«

»Bald, bald. Du glaubst nicht, wie schwer es auch mir wird, hier zu leben«, versetzte er und zog seine Hand aus ihren Händen.

»Nun, dann geh nur, geh nur!« sagte sie gekränkt und trat schnell von ihm zurück.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 377-381.
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