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[288] Der alte, verwahrloste Palazzo mit den hohen, stuckverzierten Zimmerdecken und den Fresken an den Wänden, mit den Mosaikfußböden, mit den schweren, gelben Stoffgardinen an den hohen Fenstern, mit den Vasen auf Konsolen und Kaminen, mit den geschnitzten Türen und den düsteren Sälen, die mit Gemälden vollgehängt waren – dieser Palazzo nährte, nachdem sie nun nach ihm übergesiedelt waren, bei Wronski die angenehme Täuschung, daß er nicht so sehr ein russischer Gutsbesitzer und Hofstallmeister z.D., vielmehr ein hochgebildeter Liebhaber und[288] Beschützer der Künste sei und zugleich selbst ein bescheidener Künstler, der um eines geliebten Weibes willen auf seine Stellung in der Welt, auf alle seine guten Verbindungen und auf allen Ehrgeiz verzichtet habe.

Diese Rolle, die sich Wronski bei der Übersiedlung nach dem Palazzo zurechtgemacht hatte, gelang ihm vollkommen, und nachdem er durch Golenischtschews Vermittlung auch noch einige interessante Persönlichkeiten kennengelernt hatte, war ihm in der ersten Zeit ruhig und wohl zumute. Er malte unter der Anleitung eines italienischen Professors der Malerei Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem italienischen Leben im Mittelalter. Dieses mittelalterliche italienische Leben gewann zuletzt für Wronski einen solchen Reiz, daß er sich sogar einen Hut nach damaliger Art anschaffte und einen Überwurf nach damaliger Sitte über der Schulter trug, was ihm sehr gut stand.

»Da leben wir nun hier und wissen von nichts«, sagte Wronski einmal zu Golenischtschew, der am Vormittag zu ihm kam. »Hast du Michailows Bild gesehen?« fragte er ihn, indem er ihm eine soeben am Morgen eingetroffene russische Zeitung reichte und auf einen Aufsatz über einen russischen Maler zeigte, der in der gleichen Stadt lebte und ein Gemälde fast vollendet hatte, das schon lange allerlei umlaufende Gerüchte veranlaßt und schon im voraus einen Käufer gefunden hatte. Dieser Aufsatz enthielt Vorwürfe gegen die Regierung und gegen die Akademie, weil sie einen so hervorragenden Künstler ohne jede Aufmunterung und Unterstützung gelassen hätten.

»Ja, ich habe es gesehen«, antwortete Golenischtschew. »Versteht sich, es mangelt ihm nicht an Talent; aber seine Richtung ist völlig verkehrt. Immer die Iwanow-Strauß-Renansche Stellungnahme zur Christusgestalt und zur religiösen Malerei.«

»Was stellt denn das Bild dar?« fragte Anna.

»Christus vor Pilatus. Christus ist als Jude dargestellt, mit dem ganzen Realismus der neuen Schule.«

Und nun begann Golenischtschew, der durch die Frage nach dem Gegenstand des Gemäldes auf eines seiner Lieblingsgebiete gebracht war, seine Ansicht darzulegen.

»Ich begreife gar nicht, wie die Leute einen so groben Mißgriff begehen können. Christus hat doch bereits seine ein für allemal feststehende Verkörperung in den Kunstwerken der großen alten Meister gefunden. Folglich, wenn diese Leute nicht einen Gott, sondern einen Revolutionär oder einen Weisen darstellen wollen, so mögen sie sich doch aus der Geschichte Sokrates oder Franklin oder Charlotte Corday auswählen, aber nur nicht Christus. Sie wählen gerade die Persönlichkeit, die sie bei ihrer[289] Richtung im Interesse der Kunst nicht wählen dürften, und dann ...«

»Ist denn das wahr, daß dieser Michailow in solcher Armut lebt?« fragte Wronski, der sich sagte, daß er als russischer Mäzen den Künstler unterstützen müsse, ob nun das Bild gut oder schlecht sei.

»Ich kann es mir kaum denken. Er ist ein vorzüglicher Bildnismaler. Haben Sie sein Bildnis der Frau Wasiltschikowa gesehen? Aber er mag, wie es scheint, keine Bildnisse mehr malen, und daher könnte es schon möglich sein, daß er sich wirklich in Not befindet. Ich wollte also sagen ...«

»Könnte man ihn nicht bitten, Anna Arkadjewnas Bildnis zu malen?« fragte Wronski.

»Warum denn gerade mein Bildnis?« fragte Anna. »Nach dem, das du malst, mag ich kein anderes Bildnis mehr haben. Laß ihn doch lieber Anny malen« (so nannte sie ihr Töchterchen). »Da ist sie gerade«, fügte sie hinzu, als sie bei einem Blick durch das Fenster die schöne italienische Amme gewahr wurde, die das Kind in den Garten trug, und blickte sofort verstohlen auf Wronski. Diese schöne Amme, deren Kopf Wronski für ein Bild benutzte, an dem er malte, war der einzige geheime Kummer in Annas Dasein. Wronski betrachtete, während er sie malte, voll Bewunderung ihre Schönheit und ihre mittelalterliche Erscheinung, und Anna mochte sich nicht eingestehen, daß sie nahe daran war, auf diese Amme eifersüchtig zu werden; sie behandelte sie daher mit besonderer Freundlichkeit und verwöhnte sowohl sie wie deren Söhnchen.

Wronski warf gleichfalls einen Blick durch das Fenster und sah dann Anna in die Augen; sofort aber wandte er sich wieder zu Golenischtschew und sagte:

»Kennst du diesen Michailow?«

»Ich bin einige Male mit ihm zusammengetroffen. Aber er ist ein wunderlicher Kauz und ohne alle Erziehung. Weißt du, einer von diesen kulturlosen modernen Menschen, wie man ihnen jetzt häufig begegnet; weißt du, einer von jenen Freidenkern, die von klein auf in den Begriffen des Unglaubens, der Verneinung und des Materialismus erzogen sind. Die Freidenker der früheren Zeit«, redete Golenischtschew weiter, ohne zu bemerken oder ohne bemerken zu wollen, daß sowohl Anna wie auch Wronski etwas zu sagen wünschten, »das waren Leute, die in den Begriffen der Religion, des Gesetzes der Moral aufgewachsen und erst durch eigenes Ringen und eigene Arbeit zur Freidenkerei gelangt waren; heute aber erscheint ein neuer Typ von Freidenkern, solche, die es gleich von Geburt an sind, die[290] aufwachsen, ohne auch nur jemals etwas davon gehört zu haben, daß es Gesetze der Moral und Religion und so etwas wie Autorität gegeben hat, sondern ohne weiteres in der Idee von der Verneinung aller Ordnung heranwachsen, das heißt wie Wilde. Von der Sorte ist er. Ich glaube er ist der Sohn eines Moskauer Oberkellners und hat gar keine Erziehung genossen. Als er auf die Akademie gekommen war und sich schon einigen Ruf erworben hatte, wollte er, wie er denn kein dummer Mensch ist, sich auch eine gewisse Bildung aneignen. Und so wandte er sich denn zu dem, was er für den Quell der Bildung hielt, zu den Zeitschriften. Bitte zu beachten, in älterer Zeit hätte jemand, der etwas für seine Bildung tun wollte, sagen wir einmal ein Franzose, sich an das Studium der hervorragenden Schriftsteller gemacht: der Theologen, der Tragiker, der Historiker, der Philosophen, und, bitte zu beachten, er hätte dabei ein tüchtiges Maß geistiger Arbeit zu leisten gehabt. Aber jetzt bei uns in Rußland stürzte er sich ohne weiteres in die alles verneinende Literatur hinein, machte sich mit großer Leichtigkeit den Gesamtextrakt der alles verneinenden Wissenschaft zu eigen und war nun fertig. Und damit nicht genug: vor zwanzig Jahren hätte er in dieser Literatur die Anzeichen eines Kampfes mit den Autoritäten, mit den jahrhundertealten Anschauungen gefunden; er hätte aus diesem Kampfe ersehen, daß vorher etwas anderes vorhanden war, jetzt aber geriet er geradeswegs in eine Literatur hinein, in der die alten Anschauungen nicht einmal der Bekämpfung gewürdigt werden, sondern einfach erklärt wird: keine Voraussetzungen gelten; Evolution, Auslese, Kampf ums Dasein, damit fertig! Ich habe in meiner Abhandlung ...«

»Wissen Sie was?« sagte Anna, die schon lange verstohlen mit Wronski Blicke gewechselt hatte und wußte, daß er sich für den Bildungsgang dieses Künstlers gar nicht interessierte, sondern daß ihn nur der Gedanke beschäftigte, ihm zu helfen und ein Bildnis bei ihm zu bestellen. »Wissen Sie was?« unterbrach sie entschlossen den Schriftsteller, der in seinem Eifer kein Ende finden konnte. »Wir wollen ihm einen Besuch machen!«

Golenischtschew merkte, daß er zu eifrig geworden war, brach ab und erklärte sich gern einverstanden. Da der Künstler in einem entfernten Stadtteil wohnte, so entschieden sie sich dafür, einen Wagen zu nehmen.

Eine Stunde darauf fuhren sie, Anna neben Golenischtschew, Wronski auf dem Vordersitze des Wagens, bei einem neuen, unschönen Hause in jenem entlegenen Stadtteil vor. Von der Frau des Hauswartes, die herauskam, erfuhren sie, Michailow pflege den Besuch seines Ateliers zu gestatten, befinde sich aber augenblicklich[291] gerade in seiner nur ein paar Schritte davon gelegenen Wohnung; sie schickten sie daher mit ihren Besuchskarten zu ihm und ließen um die Erlaubnis bitten, seine Bilder betrachten zu dürfen.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 2, S. 288-292.
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