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[111] »Um so mehr ist es nötig, daß du deine Lage in Ordnung bringst, wenn es möglich ist«, sagte Dolly.

»Ja, wenn es möglich ist«, versetzte Anna auf einmal in ganz anderem, stillem und traurigem Tone.

»Ist denn eine Scheidung nicht möglich? Es ist mir doch gesagt worden, daß dein Mann damit einverstanden ist.«

»Dolly, ich möchte nicht gern davon reden.«

»Nun, dann wollen wir es lassen«, beeilte sich Darja Alexandrowna zu erwidern, da sie einen schmerzlichen Zug in Annas Gesicht bemerkte. »Ich finde nur, daß du alles zu trübe ansiehst.«

»Ich? Ganz und gar nicht. Ich bin sehr heiter und zufrieden. Du hast ja gesehen, je fais des passions1. Weslowski ...«

»Ja, die Wahrheit zu sagen, Weslowskis Ton hat mir nicht gefallen«, sagte Darja Alexandrowna in dem Wunsch, das Gespräch auf einen andern Gegenstand zu bringen.

»Ach, da ist gar nichts dabei! Das dient nur dazu, Alexei ein wenig zu kitzeln; weiter nichts. Dieser Weslowski ist ja noch ein Junge, und ich habe ihn ganz in Händen; du verstehst, ich lenke ihn, wie ich will. Es ist gerade, als wenn ich mit deinem Grigori spiele ... Dolly« (sie ging plötzlich zu etwas anderem über), »du sagst, ich sähe alles zu trübe an. Aber du kannst das nicht verstehen. Es ist zu entsetzlich. Ich bemühe mich, überhaupt nicht zu sehen.«

»Aber das ist doch nötig, möchte ich meinen. Du mußt alles tun, was irgend möglich ist.«

»Aber was ist denn möglich? Nichts ist möglich. Du sagst, ich solle Alexei heiraten, und meinst, daß ich das nicht hinreichend überlege. Ich überlege das nicht hinreichend!« sagte sie bitter, und eine Röte überzog ihr Gesicht. Sie stand auf, drückte die Brust hervor, seufzte schwer und begann mit ihrem leichten Gang im Zimmer auf und ab zu gehen, mitunter stehenbleibend. »Ich überlege das nicht hinreichend? Es vergeht kein Tag, keine Stunde, wo ich das nicht überlege und wo ich mir nicht selbst Vorwürfe deswegen mache, daß ich es überlege, denn dieser Gedanke kann mich wahnsinnig machen. Wahnsinnigmachen«, wiederholte sie. »Wenn ich darüber nachdenke, kann ich nicht mehr ohne Morphium einschlafen. Aber schön; wir wollen einmal in aller Ruhe darüber reden. Ihr sagt zu mir: Scheidung. Erstens wird er sie mir nicht gewähren. Er steht jetzt unter dem Einflusse der Gräfin Lydia Iwanowna.«

Darja Alexandrowna saß, gerade aufgerichtet, auf einem[112] Stuhl und folgte, den Kopf hin und her wendend, mit mitleidigen Blicken der auf und ab gehen den Anna.

»Du solltest es aber doch versuchen«, sagte sie leise.

»Sagen wir also, ich versuche es. Was bedeutet das?« Anna sprach damit offenbar einen Gedanken aus, den sie schon tausendmal durchdacht hatte und auswendig konnte. »Das bedeutet, daß ich, die ich ihn hasse und mich dabei doch vor ihm schuldig bekenne, die Demütigung auf mich nehme, an ihn zu schreiben ... Nun, sagen wir, ich gewinne es über mich und tue es. Entweder erhalte ich dann eine kränkende Antwort oder seine Einwilligung. Gut, ich habe also seine Einwilligung erhalten ...« Anna befand sich in diesem Augenblick am fernsten Ende des Zimmers, war dort stehengeblieben und nahm irgend etwas mit dem Fenstervorhang vor. »Ich erhalte seine Einwilligung; – und mein Sohn? ... Den werden sie mir ja sicherlich nicht überlassen. Der wird bei seinem Vater, den ich verlassen habe, aufwachsen und wird mich verachten lernen. Mach dir das nur klar, daß ich zwei Menschen liebe, ich glaube, beide gleich stark, aber beide mehr als mich selbst: meinen kleinen Sergei und Alexei.«

Sie kam aus der Ecke nach der Mitte des Zimmers und blieb vor Dolly stehen, die Hände gegen die Brust gedrückt. In dem weißen Nachtkleide erschien ihre Gestalt auffallend groß und breit. Sie beugte den Kopf hinab und blickte mit den glänzenden, feuchten Augen unter den Brauen hervor auf die kleine, hagere Dolly, die in ihrer gestopften Nachtjacke und der Nachthaube einen kümmerlichen Anblick bot und vor Aufregung am ganzen Leibe zitterte.

»Nur diese beiden Wesen liebe ich, und das eine von ihnen schließt das andere aus. Ich kann sie beide nicht vereinigen, und gerade das, nur das ist es, was ich brauche. Aber wenn mir das nicht zuteil wird, dann ist mir alles gleich. Alles ganz gleich. Irgendwie wird es ja ein Ende nehmen, und darum kann und mag ich nicht darüber reden. Also tadle und verdamme mich deswegen nicht. Du mit deiner reinen Seele vermagst nicht all das zu verstehen, worunter ich leide.«

Sie trat zu Dolly heran, setzte sich neben sie, ergriff ihre Hand und blickte ihr mit schuldbewußter Miene ins Gesicht.

»Was denkst du? Wie denkst du über mich? Verachte mich nicht. Ich verdiene keine Verachtung. Ich bin eben eine Unglückliche. Wenn jemand unglücklich ist, so bin ich es«, sagte sie, wandte sich von ihr ab und brach in Tränen aus.

Als Dolly allein geblieben war, betete sie und legte sich zu Bett. Sie hatte Anna von ganzem Herzen bemitleidet, während[113] sie miteinander gesprochen hatten; aber jetzt konnte sie sich nicht dazu zwingen, an sie zu denken. Die Erinnerungen an ihr Heim und an ihre Kinder tauchten mit einem ganz besonderen, ihr neuen Reize, mit einer Art von neuem Glanze vor ihrem geistigen Blick auf. Diese ihre Welt erschien ihr jetzt so wertvoll und lockend, daß sie um keinen Preis noch einen weiteren Tag fern von ihr verleben mochte und den Entschluß faßte, morgen unter allen Umständen wieder abzufahren.

Unterdessen nahm Anna, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, ein kleines Glas mit Wasser und träufelte einige Tropfen einer Arznei hinein, dessen Hauptbestandteil Morphium war. Nachdem sie es ausgetrunken und ein Weilchen regungslos dagesessen hatte, ging sie in beruhigter, heiterer Stimmung ins Schlafzimmer.

Als sie dort eintrat, blickte Wronski sie aufmerksam an. Er suchte auf ihrem Gesicht die Spuren der Unterredung, die sie, wie er wußte, mit Dolly gehabt haben mußte, da sie ja so lange in deren Zimmer geblieben war. Aber in ihrem Gesicht, das die innere Erregung zu verhalten und zu verbergen verstand, fand er nichts als die trotz der Gewöhnung ihn immer noch fesselnde Schönheit und das Bewußtsein dieser Schönheit und den Wunsch, daß diese auf ihn wirken möge. Er wollte nicht nach dem Gegenstand des Gesprächs fragen, hoffte aber, daß sie von selbst etwas darüber sagen werde. Aber sie sagte nur:

»Ich freue mich recht, daß Dolly dir gefallen hat. Das hat sie doch, nicht wahr?«

»Ich kenne sie ja schon lange. Sie ist, glaube ich, eine sehr gute, brave Frau, nur außergewöhnlich bieder. Aber ich habe mich doch über ihren Besuch gefreut.«

Er ergriff Annas Hand und blickte ihr fragend in die Augen.

Sie faßte diesen Blick anders auf und lächelte ihm zu.


Am andern Morgen machte sich Darja Alexandrowna trotz der Bitten des Gastgebers und der Gastgeberin zur Abreise fertig. Ljewins Kutscher, in seinem nicht mehr neuen Rock und mit seinem etwas fuhrmannsmäßigen Hut, fuhr mit seinen Pferden, die in der Farbe nicht zueinander paßten, und mit der Kutsche, deren Kotflügel ausgeflickt waren, finster und entschlossen in der überdachten, mit Sand bestreuten Anfahrt vor.

Der Abschied von der Prinzessin Warwara und den Herren hatte für Darja Alexandrowna etwas Peinliches. Bei einem nur eintägigen Zusammensein war es sowohl ihr selbst wie auch ihren Gastgebern klargeworden, daß sie nicht in diesen Kreis paßte und es das beste war, sich zu trennen. Anna war die[114] einzige, die Betrübnis empfand. Sie wußte, daß jetzt, nach Dollys Abreise, niemand mehr in ihrer Seele die Gefühle aufstören werde, die in ihr bei diesem Wiedersehen wie der erregt worden waren. Die Reizung dieser Gefühle hatte ihr Schmerz bereitet; aber dennoch wußte sie, daß dies der beste Teil ihrer Seele war und daß dieser Teil ihrer Seele bei dem Leben, das sie führte, schnell verkümmern werde.

Als Darja Alexandrowna in ihrem Wagen wieder das freie Feld erreicht hatte, empfand sie ein angenehmes Gefühl der Erleichterung, und sie hatte schon Lust, ihre Leute zu fragen, wie es ihnen bei Wronski gefallen habe, als der Kutscher Filipp von selbst zu reden begann:

»Reich sind sie schon; aber Hafer haben sie uns nur drei Maß gegeben. Ehe die Hähne krähten, hatten die Pferde ihn bis auf das letzte Korn aufgefressen. Was sind denn auch drei Maß? Das ist nur so ein kleiner Imbiß. Und jetzt kostet der Hafer doch sogar bei den Herbergswirten nur fünfundvierzig Kopeken. Bei uns, da kann man sicher sein, da bekommen die fremden Pferde so viel, wie sie nur fressen mögen.«

»Ein geiziger Herr«, bestätigte der Gutsschreiber.

»Nun, und ihre Pferde, haben dir die gefallen?« fragte Dolly.

»Die Pferde sind gut, das muß ihnen der Neid lassen. Und auch das Essen war gut. Aber das Ganze kam mir gar nicht so recht frisch und lustig vor, Darja Alexandrowna; ich weiß nicht, ob Sie das auch gefunden haben«, sagte er, indem er sein hübsches, gutmütiges Gesicht zu ihr zurückwandte.

»Ja, ich habe es auch gefunden. Nun, wie ist's, kommen wir zum Abend nach Hause?«

»Wir müssen schon hinkommen.«

Zu Hause angekommen, fand Darja Alexandrowna alle in bestem Wohlsein vor, und sie erschienen ihr ganz besonders nett und liebenswürdig. Mit großer Lebhaftigkeit erzählte sie von ihrer Fahrt und wie freundlich sie aufgenommen sei, und von dem Luxus und guten Geschmack, der bei Wronskis herrsche, und von ihren Vergnügungen, und erlaubte niemandem, ein Wort gegen die beiden zu sagen.

»Man muß Anna und Wronski kennen (ich habe ihn jetzt besser kennengelernt), um beurteilen zu können, wie lieb, wie rührend gut sie sind«, sagte sie, und zwar jetzt vollkommen aufrichtig; jenes unbestimmte Gefühl der Mißbilligung und Unbehaglichkeit, das sie dort empfunden hatte, war ihr ganz aus dem Gedächtnis entschwunden.

Fußnoten

1 (frz.) ich erwecke Leidenschaften.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 111-115.
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