[119] Im September war Ljewin wegen Kittys bevorstehender Entbindung nach Moskau übergesiedelt. Er hatte schon einen ganzen Monat ohne Beschäftigung in Moskau zugebracht, als Sergei Iwanowitsch, der ein Gut im Gouvernement Kaschin besaß, sich anschickte, zu den Wahlen zu fahren, die ihm sehr am Herzen lagen. Er forderte auch seinen Bruder zum Mitkommen auf, der wegen seines im Kreise Selesnjew gelegenen Besitzes wahlberechtigt war. Außerdem hatte Ljewin in Kaschin für seine im Auslande lebende Schwester zwei höchst wichtige Angelegenheiten zu erledigen, bei denen es sich um eine Vormundschaftssache und um den Empfang von Einstandsgeldern handelte.
Ljewin war immer noch unentschlossen; aber Kitty, der es nicht entgangen war, daß er sich in Moskau langweilte, und die ihm von vornherein zugeredet hatte hinzufahren, hatte ihm ohne sein Wissen eine Adelsuniform machen lassen, die achtzig Rubel kostete. Und diese für die Uniform ausgegebenen achtzig Rubel wurden nun der Hauptgrund, der Ljewin zu der Reise bewog. Er fuhr nach Kaschin.
Er war nun schon seit sechs Tagen in Kaschin, besuchte täglich die Versammlungen und bemühte sich in den Angelegenheiten seiner Schwester, die durchaus nicht in Ordnung kommen wollten. Die Adelsmarschälle waren sämtlich durch die Wahlen in Anspruch genommen, und es war schlechterdings unmöglich, die Erledigung der sehr einfachen Angelegenheit zu erreichen, die vom Vormundschaftsamte abhing. Die andere Angelegenheit, der Empfang einer Geldsumme, stieß gleichfalls auf Hindernisse. Nachdem lange Bemühungen um die Aufhebung der Zwangsverwaltung vorausgegangen waren, sollte nun eigentlich das Geld zur Abholung bereit sein; aber der Rechtsbeistand, ein höchst dienstfertiger Mann, konnte die erforderliche Anweisung nicht ausstellen, weil dazu die Unterschrift des Präsidenten nötig war und der Präsident, ohne jemand mit seiner Vertretung beauftragt zu haben, sich in der Sitzung befand. Alle diese Plackereien, die Lauferei bald hierhin, bald dorthin, die Unterhandlungen mit sehr guten, braven Menschen, die für die unangenehme Lage des Antragstellers volles Verständnis[119] hatten, aber nicht imstande waren, ihm zu helfen, diese ganze Anstrengung, die völlig ergebnislos blieb: alles das brachte bei Ljewin eine qualvolle Empfindung hervor, ähnlich dem beängstigenden Ohnmachtsgefühl im Traume, wenn man vergeblich wünscht, von seiner körperlichen Kraft Gebrauch zu machen. Er hatte diese Empfindung häufig bei den Unterredungen mit seinem Sachwalter, einem überaus gutherzigen Manne. Dieser Sachwalter tat allem Anschein nach, was nur irgend möglich war, und strengte alle seine Geisteskräfte an, um dem armen Ljewin aus der Schwierigkeit herauszuhelfen. »Wissen Sie, was Sie versuchen sollten?« sagte er ihm wiederholt. »Gehen Sie doch einmal da und da hin!« Und nun entwickelte er einen umständlichen Plan, wie Ljewin den verhängnisvollen Umstand, durch den alles gehindert wurde, umgehen könne. »Aber«, fügte er sofort hinzu: »es wird wohl doch hapern; indessen, versuchen Sie es!« Und Ljewin versuchte es und scheute keine Gänge und Fahrten. Alle Leute waren gegen ihn freundlich und liebenswürdig; aber das Ergebnis war jedesmal, daß das, was er umgehen wollte, am Ende doch wieder als Hindernis vor ihm stand und den Weg versperrte. Ganz besonders verdrießlich war Ljewin darüber, daß er schlechterdings nicht herausbekommen konnte, mit wem er eigentlich kämpfte und wer einen Vorteil davon hätte, daß seine Angelegenheit nicht zum Abschluß käme. Und das schien niemand zu wissen; auch der Sachwalter wußte es nicht. Hätte Ljewin dies ebensowohl verstanden, wie er den Grund verstand, weshalb man zum Eisenbahnschalter nur gelangt, indem man Schlange steht, so hätte er sich nicht gekränkt gefühlt und sich nicht geärgert; aber über die Hindernisse, auf die er hier bei seiner Angelegenheit stieß, konnte ihm niemand Aufklärung geben, niemand wußte, wozu die eigentlich auf der Welt waren.
Ljewin hatte sich jedoch seit seiner Verheiratung sehr geändert, er hatte Geduld gelernt; und wenn er nicht begriff, wozu alles dies so eingerichtet war, so sagte er sich, er dürfe, ohne das Ganze zu kennen, sich kein Urteil erlauben, und es werde doch wohl so sein müssen; und so bemühte er sich denn, sich nicht darüber aufzuregen.
Jetzt nun, wo er bei den Wahlen anwesend war und sich an ihnen beteiligte, gab er sich ebenfalls alle Mühe, nicht vorschnell zu tadeln und sich nicht mit andern zu streiten, sondern nach Möglichkeit sich Einsicht in diese Sache zu verschaffen, bei der ehrenwerte, brave Männer, die auch er hochachtete, mit solchem Ernst und Eifer tätig waren. Seit Ljewin sich verheiratet hatte, hatten sich ihm so viele neue, ernste Gebiete des Lebens erschlossen,[120] die ihm vorher infolge seines nur oberflächlichen Verhältnisses zu ihnen unwichtig erschienen waren, daß er auch von den Wahlen annahm, sie würden wohl eine ernste Bedeutung haben, und diese ernste Bedeutung zu erkennen suchte.
Sergei Iwanowitsch klärte ihn über das Wesen und die Bedeutsamkeit des Umschwunges auf, den man bei diesen Wahlen herbeizuführen hoffte. Der Gouvernements-Adelsmarschall, in dessen Händen dem Gesetze gemäß so viele hochwichtige Verwaltungsangelegenheiten lagen: die Vormundschaftssachen (gerade in einer solchen hatte Ljewin jetzt soviel Pein auszustehen) und die gewaltigen Summen der Adelsgelder und das Mädchengymnasium, das Knabengymnasium, die Militärschule sowie der Volksschulunterricht nach der neuen Ordnung und schließlich die Kreistage – der Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow war ein Vertreter der alten Art von Adligen: er hatte ein riesiges Vermögen durchgebracht, war ein gutmütiger, in seiner Art ehrenhafter Mann, besaß aber durchaus kein Verständnis für die Bedürfnisse der Neuzeit. Immer und in allen Dingen stellte er sich auf die Seite des Adels; er widersetzte sich geradezu der Verbreitung der Volksbildung und suchte dem Kreistage, der doch eine so gewaltige Bedeutung haben soll, einen ständischen Charakter zu geben. Man mußte daher an seine Stelle einen frischen, fortschrittlichen, tüchtigen, durchaus neuzeitlich denkenden Mann setzen und darauf hinwirken, daß aus all den Rechten, die dem Adel nicht als solchem, sondern als einem Bestandteile des Kreistages verliehen waren, für die Selbstverwaltung soviel Vorteil wie nur irgend möglich gezogen würde. In dem reichen Gouvernement Kaschin, das immer und in allen Dingen den anderen voraus war, hatten sich jetzt solche geistige Kräfte zusammengefunden, daß dieses Werk, wenn es hier richtig durchgeführt wurde, für die andern Kreise, ja für ganz Rußland als Vorbild dienen konnte. Und darum hatte die ganze Sache eine außerordentliche Bedeutung. Es war vorgeschlagen worden, an Snetkows Stelle als Adelsmarschall Swijaschski zu setzen oder noch lieber den ehemaligen Professor Newjedowski, einen hervorragend klugen Mann, der mit Sergei Iwanowitsch sehr befreundet war.
Eröffnet wurde die Versammlung von dem Gouverneur, der an die Edelleute eine Rede hielt: sie möchten sich bei der Wahl der Beamten nicht durch persönliche Gründe, sondern nur durch die Verdienste der Betreffenden und durch die Rücksicht auf das Wohl des Vaterlandes leiten lassen; er hoffe, daß der hochlöbliche Adel des Gouvernements Kaschin wie bei den früheren[121] Wahlen so auch diesmal seine Pflicht gewissenhaft erfüllen und das hohe Vertrauen des Monarchen rechtfertigen werde.
Nach Beendigung seiner Rede verließ der Gouverneur den Saal; die Edelleute folgten ihm geräuschvoll und in lebhafter Erregung, manche sogar in begeisterter Stimmung, und umringten ihn, während er seinen Pelz anzog und sich mit dem Gouvernements-Adelsmarschall freundschaftlich unterhielt. Ljewin, der in alles Einblick gewinnen und sich nichts entgehen lassen wollte, stand auch dort in dem dichten Schwarm und hörte, wie der Gouverneur sagte: »Bitte, bestellen Sie an Marja Iwanowna, meine Frau bedauere außerordentlich, aber sie müsse dem Armenhause einen Besuch machen.« Gleich darauf suchte sich jeder der Edelleute seinen Pelz heraus, und sie alle fuhren nach dem Dom.
Im Dom leistete Ljewin, indem er mit den anderen die Hand erhob und die Worte des obersten Geistlichen nachsprach, einen höchst feierlichen Eid, alles das zu erfüllen, was der Gouverneur als seine Erwartung ausgesprochen hatte. Gottesdienstliche Handlungen machten auf Ljewin immer einen starken Eindruck, und als er die Worte sprach: »Ich küsse das Kreuz« und rings um sich diese Schar junger und alter Männer sah, die das gleiche wiederholten, fühlte er sich gerührt.
Am zweiten und dritten Tage wurde über die Adelsgelder und über das Mädchengymnasium verhandelt, Dinge, die nach Sergei Iwanowitschs Aussage keinerlei Bedeutung hatten, und da Ljewin mit der Lauferei in seinen eigenen Angelegenheiten zu tun hatte, so wohnte er diesen Verhandlungen nicht bei. Am vierten Tage fand am Gouvernementstische eine Prüfung der Adelskasse statt. Und hierbei kam es zum ersten Male zu einem Zusammenstoße der neuen Partei mit der alten. Der Ausschuß, der mit der Prüfung der Kasse beauftragt war, berichtete der Versammlung, daß der Kassenbestand genau stimme. Der Gou vernements-Adelsmarschall stand auf, bedankte sich bei den Edelleuten für das ihm erwiesene Vertrauen und wurde dabei bis zu Tränen gerührt. Die Edelleute ergingen sich in lauten Zustimmungen und drückten ihm die Hand. In diesem Augenblick aber sagte ein zu Sergei Iwanowitschs Partei gehöriger Edelmann, er habe gehört, daß der Ausschuß die Kasse gar nicht geprüft habe, in der Meinung, eine solche Prüfung habe für den Gouvernements-Adelsmarschall etwas Kränkendes. Eines der Mitglieder des Ausschusses habe dies unvorsichtigerweise geäußert. Darauf sprach ein kleiner, dem Aussehen nach noch sehr junger, aber sehr giftiger Herr sich dahin aus, es würde dem Gouvernements-Adelsmarschall jedenfalls angenehm[122] gewesen sein, über die Gelder Rechenschaft abzulegen, und nun gehe er infolge der übertriebenen Feinfühligkeit der Ausschußmitglieder dieser moralischen Befriedigung verlustig. Darauf bestritten die Ausschußmitglieder, jemals gesagt zu haben, daß die Kasse nicht geprüft sei, und nun begann Sergei Iwanowitsch folgerichtig zu beweisen, daß sie bestimmt erklären müßten, entweder daß sie die Kasse geprüft hätten oder daß sie es nicht getan hätten, und setzte diese Zwangslage eingehend auseinander. Ihm erwiderte dann ausführlich ein Redner der Gegenpartei. Dann sprach Swijaschski und nach ihm wieder der giftige Herr. Die Auseinandersetzung zog sich in die Länge und führte zu keinem Ergebnis. Ljewin wunderte sich, daß über diesen Gegenstand so lange gestritten wurde, namentlich da Sergei Iwanowitsch auf seine Frage, ob er denn glaube, daß Geld veruntreut sei, erwiderte:
»Oh, nicht doch! Er ist ein ehrlicher Mensch. Aber wir mußten dieser altmodischen Gewohnheit einer patriarchalischen Behandlung von Adelssachen einen Stoß versetzen.«
Am fünften Tage wurden die Wahlen der Kreis-Adelsmarschälle abgehalten. Dieser Tag war in mehreren Kreisen recht stürmisch. Im Kreise Selesnjew wurde Swijaschski ohne Ballotage einstimmig wiedergewählt, und es fand bei ihm an diesem Tage ein Festessen statt.
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro