[125] Ljewin stand ziemlich entfernt. Ein neben ihm stehender Edelmann, der schwer und mit krächzendem Geräusch atmete, und ein anderer, der mit seinen dicken Stiefelsohlen knarrte, hinderten ihn, deutlich zu hören. Er hörte von weitem nur die weiche Stimme des Adelsmarschalls, dann die kreischende jenes giftigen Edelmanns und darauf Swijaschskis Stimme. Sie stritten, soweit er daraus vernehmen konnte, über den Sinn eines Gesetzesparagraphen und über die Bedeutung der Worte: »gegen den eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet ist.«
Die Menge teilte sich, um Sergei Iwanowitsch, der zu dem Tische hingehen wollte, durchzulassen. Sergei Iwanowitsch wartete ab, bis der bissige Edelmann mit dem, was er sagen wollte, fertig war, und sagte dann, seiner Ansicht nach sei es das Sicherste, den Gesetzesparagraphen einzusehen; er ersuche den Sekretär, den Paragraphen aufzuschlagen. Es ergab sich, daß in dem Paragraphen gesagt war, im Falle einer Meinungsverschiedenheit habe Abstimmung durch Ballotage stattzufinden.
Sergei Iwanowitsch las den Paragraphen vor und begann seinen Sinn zu erläutern; aber da unterbrach ihn ein hochgewachsener, dicker Gutsbesitzer mit etwas gekrümmter Haltung, mit gefärbtem Schnurrbart, in einer engen Uniform, auf deren Kragen hinten der überstehende Hals wie auf einer Stütze ruhte. Er trat an den Tisch heran, klopfte mit seinem Siegelring darauf und rief laut:
»Abstimmen! Die Stimmkugeln her! Da ist nichts weiter zu reden! Die Stimmkugeln her!«
Nun fingen auf einmal mehrere gleichzeitig an zu sprechen, und der hochgewachsene Edelmann mit dem Siegelring erboste sich immer mehr und schrie immer lauter. Aber es war nicht mehr zu verstehen, was er sagte.
Er sagte ganz dasselbe, was Sergei Iwanowitsch beantragt hatte; aber augenscheinlich hatte er auf ihn und seine ganze Partei einen Haß, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun seiner ganzen eigenen Partei mit, und dadurch wurde dann als Gegenwirkung auf der anderen Seite ein gleiches, obwohl in anständigerer Form sich äußerndes Gefühl der Erbitterung hervorgerufen. Es erhob sich ein Geschrei, und eine Minute lang herrschte ein solcher Lärm, daß der Gouvernements-Adelsmarschall um Ruhe bitten mußte.
»Abstimmen, abstimmen! Wer ein Edelmann ist, versteht das auch ohne lange Auseinandersetzungen. – Wir vergießen unser[126] Blut ... – Das Vertrauen des Monarchen ... – Den Adelsmarschall darf man nicht so kontrollieren; er ist doch kein Kommis! – Aber darum handelt es sich gar nicht! – Die Stimmkugeln her! So eine Gemeinheit!« wurde von allen Seiten in Grimm und Wut geschrien. Die Blicke und Gesichter waren noch grimmiger und wütender als die Worte und drückten einen unversöhnlichen Haß aus. Ljewin begriff gar nicht, worum es sich handelte, und war erstaunt über die Leidenschaftlichkeit, mit der die Frage, ob über Flerows Zulassung abgestimmt werden sollte oder nicht, behandelt wurde. Er hatte, wie ihm nachher Sergei Iwanowitsch auseinandersetzte, sich folgenden Gedanken nicht klargemacht: für das Gemeinwohl war es erforderlich, den Gouvernements-Adelsmarschall zu beseitigen; zur Beseitigung des Adelsmarschalls war Stimmenmehrheit erforderlich; um aber die Stimmenmehrheit zu haben, war es erforderlich, daß jenem Flerow das Stimmrecht zuerkannt wurde; und um Flerow für stimmfähig erklären zu können, war es erforderlich, den Gesetzesparagraphen in entsprechender Weise auszulegen.
»Eine einzige Stimme kann die ganze Sache entscheiden, und wenn man dem Wohle der Gesamtheit dienen will, muß man entschlossen und folgerichtig sein«, schloß Sergei Iwanowitsch. Ljewin aber hatte sich das zu der Zeit, als sich der Vorgang abspielte, noch nicht klargemacht, und es war ihm peinlich, diese braven Männer, die er hochachtete, in so häßlicher, grimmiger Aufregung zu sehen. Um dieses peinliche Gefühl loszuwerden, ging er, ohne das Ende der Verhandlungen abzuwarten, hinaus in den kleinen Saal, wo sich niemand befand außer den Kellnern am Schanktisch. Beim Anblick der Kellner, die eifrig damit beschäftigt waren, das Geschirr abzuwaschen und abzutrocknen und Teller und Gläser aufzustellen, und beim Anblick ihrer ruhigen, frischen Gesichter empfand Ljewin ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung, als wenn er aus einem übelriechenden Zimmer in die reine Luft hinausgetreten wäre. Er fing an, auf und ab zu gehen und sah mit Vergnügen den Kellnern zu. Namentlich gefiel ihm einer mit schon ergrautem Backenbart; er unterwies seine jüngeren Kollegen in der Kunst, Mundtücher zu falten, und hatte für die törichten Späße, die sie über ihn machten, nur den Ausdruck stillschweigender Geringschätzung. Ljewin hatte eben vor, mit dem alten Kellner ein Gespräch anzuknüpfen, als der Sekretär des adligen Vormundschaftsamtes, ein altes Männchen, dessen Besonderheit es war, sämtliche Edelleute des Gouvernements bei ihren Vornamen und Vatersnamen zu kennen, ihm dazwischenkam.[127]
»Wollen Sie die Güte haben zu kommen, Konstantin Dmitrijewitsch?« sagte er zu ihm. »Ihr Herr Bruder sucht Sie. Es wird abgestimmt.«
Ljewin begab sich wieder in den großen Saal, nahm ein weißes Kügelchen in Empfang und ging unmittelbar hinter seinem Bruder Sergei Iwanowitsch zu dem Tische hin, neben dem mit bedeutsamer, spöttischer Miene Swijaschski stand, seinen Bart in der Faust zusammenfaßte und daran roch. Sergei Iwanowitsch steckte seine Hand in einen Kasten und legte seine Kugel irgendwohin; dann machte er Ljewin Platz, blieb aber neben ihm stehen. Ljewin trat heran; aber da er vollständig vergessen hatte, worum es sich handelte, so wandte er sich in seiner Verlegenheit an Sergei Iwanowitsch mit der Frage: »Wohin soll ich sie legen?« Er hatte leise gefragt, während in der Nähe gesprochen wurde, so daß er hatte hoffen können, seine Frage würde nicht gehört werden. Aber die Redenden verstummten gerade in dem Augenblicke, und die unpassende Frage wurde gehört. Sergei Iwanowitsch zog ein finsteres Gesicht.
»Das hängt von der Überzeugung eines jeden ab«, antwortete er in strengem Ton.
Einige lächelten. Ljewin wurde rot, steckte hastig die Hand unter das Tuch und legte die Kugel, da er sie in der rechten Hand hatte, nach rechts. Nachdem er das getan hatte, fiel ihm ein, daß er auch die linke Hand hätte unter das Tuch stecken müssen, und so tat er dies denn noch nachträglich, allerdings zu spät; er wurde noch verlegener und ging möglichst schnell in die hintersten Reihen zurück.
»Einhundertsechsundzwanzig Stimmen für die Berechtigung! Achtundneunzig Stimmen dagegen!« rief der Sekretär, der das R nicht aussprechen konnte. Dann hörte man Gelächter: es hatten sich in dem Kasten noch ein Knopf und zwei Nüsse gefunden. Der Edelmann war zugelassen worden; die neue Partei hatte gesiegt.
Aber die alte Partei erachtete sich nicht für besiegt. Ljewin hörte, daß Snetkow gebeten wurde zu kandidieren, und sah, daß ein Schwarm von Edelleuten den Gouvernements-Adelsmarschall umringte, der etwas sagte. Ljewin trat näher heran. Auf die Aufforderung der Edelleute antwortend, sprach Snetkow von dem Vertrauen des Adels, von der Liebe, die man ihm entgegenbringe und die er nicht verdiene, da sein ganzes Verdienst darin bestehe, daß er treu dem Adel ergeben sei, dem er in den zwölf Jahren seiner Diensttätigkeit sein Wirken gewidmet habe. Mehrere Male wiederholte er die Worte: »Ich habe, soviel in meinen Kräften lag, mein Amt treu und redlich geführt;[128] ich weiß Ihre freundliche Gesinnung zu schätzen und danke Ihnen.«
Aber auf einmal hielt er inne, da Tränen seine Stimme hemmten, und verließ den Saal. Mochten nun diese Tränen davon herrühren, daß er das Gefühl hatte, man lasse ihm nicht Gerechtigkeit widerfahren, oder kamen sie von seiner Liebe zum Adel oder von der Gespanntheit der Lage, in der er sich befand, da er merkte, daß er von Feinden umgeben sei: genug, seine Aufregung teilte sich auch anderen mit, die Mehrzahl der Edelleute war gerührt, und Ljewin empfand eine gewisse Zärtlichkeit gegen Snetkow.
In der Tür prallte der Gouvernements-Adelsmarschall mit Ljewin zusammen.
»Pardon, entschuldigen Sie, bitte!« sagte er zu ihm, wie zu einem Unbekannten; als er dann aber Ljewin erkannte, lächelte er schüchtern. Es kam Ljewin vor, als wollte Snetkow etwas sagen, sei aber vor Erregung nicht dazu imstande. Als Ljewin den Ausdruck seines Gesichtes und die Haltung seiner ganzen Figur sah, wie er in seiner Uniform, mit den Ordenssternen und den weißen, tressengeschmückten Hosen, hastig dahineilte, mußte er unwillkürlich an ein gehetztes Wild denken, das merkt, daß es mit ihm zu Ende geht. Dieser Ausdruck im Gesicht des Adelsmarschalls hatte für Ljewin besonders deshalb etwas Rührendes, weil er erst gestern in seiner Vormundschaftssache bei ihm in seinem Hause gewesen war und ihn dort in seinem ganzen Glanze als guten Familienvater gesehen hatte. Das große Haus mit den alten Familienmöbeln; die zwar nicht vornehmen und etwas unsauberen, aber aufmerksamen alten Diener, augenscheinlich frühere Leibeigene, die ihren Herrn nicht gewechselt hatten; die beleibte, gutherzige Hausfrau mit der Spitzenhaube und dem türkischen Schal, die ihre hübsche Enkelin, eine Tochter ihrer Tochter, auf dem Arme hielt und liebkoste; der forsche Sohn, Schüler der sechsten Gymnasialklasse, der eben aus der Schule kam und bei der Begrüßung seinem Vater die große Hand küßte; die herzlichen, freundlichen Worte und Gebärden des Hausherrn: alles das hatte gestern in Ljewins Herzen unwillkürlich ein Gefühl der Hochachtung und der Teilnahme für Snetkow hervorgerufen. Jetzt nun machte ihm der alte Mann einen überaus rührenden, traurigen Eindruck, und er wollte ihm gern etwas Angenehmes sagen.
»Also Sie werden wieder unser Adelsmarschall werden?« sagte er.
»Schwerlich«, erwiderte der Adelsmarschall und blickte dabei ängstlich um sich. »Ich bin müde, ich bin schon zu alt. Es sind[129] Würdigere und Jüngere da als ich; mögen die das Amt übernehmen.«
Und der Adelsmarschall entfernte sich durch eine Seitentür.
Nun war der feierlichste Augenblick da. In wenigen Minuten sollte zur Wahl geschritten werden. Die Wortführer der einen und der anderen Partei rechneten an den Fingern die zu erwartenden Ja und Nein aus.
Die Auseinandersetzung über Flerow hatte der neuen Partei nicht nur die Stimme Flerows eingebracht, sondern auch noch einen Zeitgewinn, so daß sie versuchen konnten, drei Edelleute herbeizuschaffen, die durch die Ränke der alten Partei der Möglichkeit beraubt worden waren, an den Wahlen teilzunehmen. Zwei Edelleute nämlich, die eine Schwäche für alkoholische Getränke besaßen, waren von Snetkows Helfershelfern betrunken gemacht worden; desgleichen ein dritter, dem sogar die Uniform weggenommen worden war.
Als dies die neue Partei erfahren hatte, benutzte sie die Zeit der Verhandlungen über Flerow dazu, in einer Droschke einige der Ihrigen hinzuschicken, und es gelang, dem einen Edelmann zu einer Uniform zu verhelfen und auch von den beiden andern Betrunkenen wenigstens den einen zur Versammlung herbeizuschaffen.
»Einen habe ich herbekommen; ich habe ihm Wasser über den Kopf gegossen«, meldete, zu Swijaschski tretend, der Gutsbesitzer, der die beiden hatte holen lassen. »Es geht mit ihm; er wird seine Sache schon machen.«
»Ist er auch nicht zu sehr betrunken? Wird er uns nicht umfallen?« fragte Swijaschski kopfschüttelnd.
»Nein, er ist ein strammer Bursche. Wenn sie ihn nur nicht hier wieder von neuem betrunken machen ... Ich habe den Bierausschenker streng angewiesen, ihm unter keinen Umständen etwas zu geben.«
Buchempfehlung
Albert Brachvogel zeichnet in seinem Trauerspiel den Weg des schönen Sohnes des Flussgottes nach, der von beiden Geschlechtern umworben und begehrt wird, doch in seiner Selbstliebe allein seinem Spiegelbild verfällt.
68 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro