[135] Swijaschski faßte Ljewin unter den Arm und ging mit ihm zu der Gruppe seiner Parteigenossen hinüber. Jetzt ließ sich eine Begegnung mit Wronski nicht mehr vermeiden. Er stand mit Stepan Arkadjewitsch und Sergei Iwanowitsch zusammen und blickte dem herankommenden Ljewin gerade entgegen.
»Sehr erfreut. Ich hatte wohl schon das Vergnügen, mit Ihnen zusammenzutreffen ... bei der Fürstin Schtscherbazkaja«, sagte er, indem er Ljewin die Hand reichte.
»Ja, ich erinnere mich unserer Begegnung recht wohl«, versetzte Ljewin, und da er fühlte, daß er dunkelrot wurde, wandte er sich sogleich von ihm weg und knüpfte ein Gespräch mit seinem Bruder an.
Leise lächelnd setzte Wronski seine Unterhaltung mit Swijaschski fort; es lag ihm offenbar nicht das geringste daran, mit Ljewin in ein Gespräch zu kommen; Ljewin dagegen wendete sich, während er mit seinem Bruder sprach, unaufhörlich nach Wronski um und überlegte, worüber er wohl mit ihm zu sprechen anfangen könnte, um seine Unhöflichkeit wiedergutzumachen.[135]
»Worum handelt es sich denn jetzt?« fragte Ljewin, wobei er Swijaschski und Wronski anblickte.
»Um Snetkow. Er muß jetzt entweder ablehnen, sich als Kandidat aufstellen zu lassen, oder sich dazu bereit erklären«, antwortete Swijaschski.
»Was hat er denn bisher getan, hat er sich bereit erklärt oder nicht?«
»Das ist es ja eben, daß er weder das eine noch das andere getan hat«, erwiderte Wronski.
»Aber wenn er nun ablehnt, wer wird denn dann kandidieren?« fragte Ljewin, indem er Wronski anblickte.
»Wer da will«, antwortete Swijaschski.
»Werden Sie es tun?« fragte Ljewin.
»Ich? Beileibe nicht«, versetzte Swijaschski verlegen und mit einem ängstlichen Blick auf den neben Sergei Iwanowitsch stehenden giftigen Herrn.
»Also wer denn dann? Newjedowski?« sagte Ljewin, der wohl merkte, daß er etwas Unpassendes geredet hatte.
Aber diese letzte Frage war noch schlimmer. Newjedowski und Swijaschski kamen beide als Kandidaten in Betracht.
»Ich nun schon in keinem Falle«, antwortete der giftige Herr. Es war Newjedowski selbst. Swijaschski stellte ihn und Ljewin einander vor.
»Nun, hat dich das Fieber auch ergriffen?« sagte Stepan Arkadjewitsch zu Wronski, indem er ihm mit den Augen zuzwinkerte. »Es ist gerade wie bei den Rennen. Man kann wetten.«
»Ja, es ist wirklich eine Art Fieber«, bemerkte Wronski. »Und hat man sich einmal auf die Sache eingelassen, dann will man sie auch durchführen. Ein Kampf!« sagte er, zog die Augenbrauen zusammen und preßte seine starken Kiefer aufeinander.
»Welch feiner Kopf doch unser Swijaschski ist!« bemerkte Stepan Arkadjewitsch. »Für alles hat er ein so klares Verständnis.«
»O ja«, antwortete Wronski zerstreut.
Es trat eine Pause im Gespräche ein, während der Wronski, da man doch irgendwohin sehen muß, Ljewin anblickte, seine Beine, seine Uniform und dann sein Gesicht. Und als er Ljewins Augen finster auf sich gerichtet sah, fragte er, um doch irgend etwas zu sagen:
»Wie kommt es denn, daß Sie, obwohl Sie doch dauernd auf dem Lande leben, nicht Friedensrichter sind? Sie tragen nicht die Uniform eines Friedensrichters.«[136]
»Weil ich der Ansicht bin, daß das Friedensgericht eine törichte Einrichtung ist«, antwortete Ljewin verdrießlich, obwohl er die ganze Zeit über auf eine Gelegenheit gewartet hatte, mit Wronski in ein Gespräch zu kommen, um die Unart, die er bei der ersten Begegnung begangen hatte, wiedergutzumachen.
»Ich meine das nicht, im Gegenteil«, erwiderte Wronski mit ruhigem Lächeln.
»Es ist eine Spielerei«, unterbrach ihn Ljewin. »Wir brauchen keine Friedensrichter. Ich habe in acht Jahren keinen Prozeß gehabt. Und wenn ich einen gehabt habe, so wurde er verkehrt entschieden. Der Friedensrichter wohnt vierzig Werst von mir entfernt. Um eines Prozesses willen, der zwei Rubel wert ist, muß ich einen Bevollmächtigten hinschicken, der mich fünfzehn Rubel kostet.«
Und nun erzählte er, ein Bauer habe einem Müller Mehl gestohlen, und als der Müller ihm das auf den Kopf zusagte, habe der Bauer ihn wegen Verleumdung verklagt. Diese ganze Geschichte war unangebracht und töricht, und Ljewin wurde sich dessen, während er sprach, selbst bewußt.
»Oh, er ist ein Original!« sagte Stepan Arkadjewitsch mit seinem schönsten Mandelöl-Lächeln. »Aber wir wollen gehen; es scheint, die Abstimmung beginnt.«
Sie gingen auseinander.
»Ich begreife nicht«, sagte Sergei Iwanowitsch, der den ungeschickten Ausfall seines Bruders mit angehört hatte, »ich begreife nicht, wie man bis zu einem solchen Grade alles politischen Taktes ermangeln kann. Das ist etwas, was wir Russen nun einmal nicht besitzen. Der Gouvernements-Adelsmarschall ist unser Gegner, aber du bist mit ihm ami cochon1 und bittest ihn zu kandidieren. Dagegen Graf Wronski ... ich strebe ja nicht danach, sein Freund zu werden – er hat mich zum Essen eingeladen, aber ich werde nicht hingehen – indessen er gehört doch zu unserer Partei; warum soll man ihn sich zum Feinde machen? Dann hast du Newjedowski gefragt, ob er kandidieren werde. So etwas tut man nicht.«
»Ach, ich verstehe von diesen Dingen nichts! Und das sind ja doch alles nur Possen«, erwiderte Ljewin verdrießlich.
»Ja, du sagst, das sind Possen; aber sobald du mit deinen Fingern darankommst, bringst du uns alles in Unordnung.«
Ljewin schwieg, und sie gingen zusammen in den großen Saal.
Obgleich der Gouvernements-Adelsmarschall den gegen ihn vorbereiteten Anschlag in der Luft witterte und obgleich er nicht von allen darum gebeten worden war, hatte er sich dennoch entschlossen zu kandidieren. Alles im Saale verstummte;[137] der Sekretär verkündete mit lauter Stimme, daß jetzt über die Wahl des Garde-Rittmeisters Michail Stepanowitsch Snetkow zum Gouvernements-Adelsmarschall ballotiert werden solle.
Die Kreis-Adelsmarschälle traten mit Tellern, auf denen die Stimmkugeln lagen, von ihren Tischen an den Gouvernementstisch, und die Wahl begann.
»Rechts hinlegen!« flüsterte Stepan Arkadjewitsch seinem Schwager Ljewin zu, als sie beide zusammen hinter dem Adelsmarschall zum Tische hingingen. Aber Ljewin hatte jenes listige Verhalten, das ihm vorher auseinandergesetzt worden war, jetzt schon wieder vergessen und fürchtete, Stepan Arkadjewitsch habe sich bei seiner Weisung: »Rechts hinlegen!« geirrt. Snetkow war ja doch ein Gegner. Als er an den Kasten herantrat, hielt er die Kugel in der rechten Hand; aber in der Meinung, daß dies falsch sei, nahm er die Kugel dicht vor dem Kasten in die linke Hand und legte sie dann augenscheinlich nach links hin. Ein neben dem Kasten stehender Edelmann, der auf diesem Gebiete eine besondere Kennerschaft besaß und an der bloßen Bewegung des Ellbogens erkannte, wohin ein jeder seine Kugel legte, runzelte unwillkürlich die Stirn. Er hatte es bei Ljewin nicht nötig gehabt, seinen Scharfblick anzustrengen.
Alles verstummte; man hörte das Geräusch beim Durchzählen der Kugeln. Dann verkündete eine einzelne laute Stimme die Zahl der Ja und Nein.
Der Adelsmarschall war mit beträchtlicher Mehrheit wiedergewählt worden. Alle redeten lärmend durcheinander und drängten ungestüm nach der Tür. Snetkow kam herein, und die Edelleute umringten ihn beglückwünschend.
»Nun, ist es jetzt zu Ende?« fragte Ljewin seinen Bruder.
»Das war nur der Anfang«, erwiderte an Sergei Iwanowitschs Stelle lächelnd Swijaschski. »Ein anderer Kandidat kann noch mehr Stimmen erhalten.«
Das hatte Ljewin wieder ganz vergessen. Er besann sich nur, daß da irgendein besonders feiner Anschlag vorbereitet war; aber worin der eigentlich bestand, darüber sein Gedächtnis anzustrengen, war ihm widerwärtig. Es überkam ihn eine gedrückte Stimmung und der lebhafte Wunsch, aus diesem Menschenschwarm hinauszukommen.
Da ihn niemand beachtete und auch niemand ihn hier nötig zu haben schien, so begab er sich unauffällig nach dem kleinen Saal, wo der Schanktisch aufgestellt war, und empfand, als er die Kellner wieder erblickte, eine große Erleichterung. Der alte Kellner fragte Ljewin, ob er etwas essen wolle, und Ljewin griff diesen Gedanken gern auf. Nachdem er ein Kotelett mit[138] Bohnen verzehrt und sich ein bißchen mit dem Kellner über dessen frühere Herrschaft unterhalten hatte, begab er sich auf die Galerie; in den großen Saal wollte er nicht wieder hineingehen, wo er sich so unbehaglich fühlte.
Die Galerie war voll von geputzten Damen, die sich über die Brüstung beugten und sich bemühten, nur ja kein Wort von dem, was unten gesprochen wurde, zu verlieren. Neben den Damen saßen und standen vornehme Rechtsanwälte, bebrillte Gymnasiallehrer und Offiziere. Überall wurde von den Wahlen gesprochen, und wie sich der Adelsmarschall abgequält habe, und wie hübsch die Verhandlungen gewesen seien; aus einer der Gruppen hörte Ljewin ein Lob seines Bruders. Eine der Damen sagte zu einem Anwalt:
»Wie freue ich mich, daß ich Kosnüschew gehört habe. Dafür kann man schon ein bißchen Hunger aushalten. Wundervoll! Wie klar und deutlich alles bei ihm herauskommt! Bei Ihnen auf dem Gericht ist niemand imstande, so zu reden. Höchstens noch Maidel, und auch der ist bei weitem kein so glänzender Redner.«
Ljewin fand einen freien Platz an der Brüstung und beugte sich darüber, um zu sehen und zu hören.
Alle Edelleute saßen innerhalb der für die einzelnen Kreise eingerichteten kleinen Verschläge. Mitten im Saale stand ein Herr in Uniform und verkündete mit hoher, lauter Stimme:
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Stabsrittmeisters Jewgeni Iwanowitsch Apuchtin für das Amt des Gouvernements-Adelsmarschalls!« Totenstille folgte, und eine schwache Greisenstimme wurde vernehmbar:
»Ich bin zurückgetreten.«
»Es wird ballotiert über die Kandidatur des Hofrats Peter Petrowitsch Bohl«, rief wieder die erste Stimme.
»Ich bin zurückgetreten«, erscholl eine jugendliche, scharfe Stimme.
Es folgte wieder ein solcher Aufruf, und wieder die Antwort: »Ich bin zurückgetreten.« So ging es ungefähr eine Stunde lang. Ljewin, mit dem Ellbogen auf die Brüstung gestützt, sah und hörte. Anfangs war er verwundert und suchte zu begreifen, was das zu bedeuten habe; aber als er dann zu der Überzeugung gelangt war, daß er es doch nicht begreifen könne, wurde ihm die Sache langweilig. Darauf aber wurde ihm von dem Anblick dieser gewaltigen Erregung und Erbitterung auf allen Gesichtern recht traurig zumute: er beschloß abzureisen und ging hinunter. Als er den zur Galerie gehörigen Flur durchschritt, traf er auf einen Gymnasiasten, der mit sehr niedergeschlagener[139] Miene und tränenfeuchten Augen auf und ab ging. Auf der Treppe begegneten ihm zwei Personen: eine Dame, die auf ihren Hackenstiefelchen eilig hinauflief, und ein windig aussehender Staatsanwaltschaftsgehilfe.
»Ich sage Ihnen, Sie kommen noch zur rechten Zeit«, sagte der Staatsanwaltschaftsgehilfe in dem Augenblick, da Ljewin zur Seite trat, um die Dame vorüber zu lassen.
Ljewin war schon bei der nach dem Ausgang führenden Treppe und holte gerade die Kleidernummer für seinen Pelz aus der Westentasche, als der Sekretär seiner noch habhaft wurde. »Bitte kommen Sie, Konstantin Dmitrijewitsch, es wird ballotiert.«
Es wurde über die Kandidatur Newjedowskis abgestimmt, der vorher so entschieden in Abrede gestellt hatte, daß er kandidieren werde.
Ljewin begab sich zu der Tür, die in den Saal führte: sie war verschlossen. Der Sekretär klopfte an; die Tür öffnete sich, und an Ljewin vorüber schlüpften zwei Gutsbesitzer mit dunkelroten Gesichtern hinaus.
»Ich kann das nicht mehr aushalten«, sagte der eine von beiden.
Hinter ihnen wurde an der Tür das Gesicht des Gouvernements-Adelsmarschalls sichtbar. Dieses Gesicht war von Erschöpfung und Angst schrecklich entstellt.
»Ich hatte dir doch verboten, jemand hinaus zu lassen!« schrie er dem Türhüter zu.
»Ich wollte nur jemand hereinlassen, Euer Exzellenz!«
»Mein Gott, mein Gott!« stöhnte der Gouvernements-Adelsmarschall und schlich, schwer seufzend, in seinen weißen Hosen, mit gesenktem Kopfe, mitten durch den Saal zu dem großen Tische hin.
Eine Anzahl von Stimmen, die vorher Snetkow erhalten hatte, war nun dem klugen Anschlage gemäß auf Newjedowski übertragen worden, und dieser war Gouvernements-Adelsmarschall geworden. Viele waren damit zufrieden, viele darüber froh und glücklich, viele geradezu entzückt, viele aber unzufrieden und unglücklich. Der nicht wiedergewählte Gouvernements-Adelsmarschall befand sich in einer Verzweiflung, die er nicht zu verbergen vermochte. Als Newjedowski aus dem Saale ging, umringte ihn ein dichter Schwarm und gab ihm mit derselben Begeisterung das Geleit wie am ersten Tage dem Gouverneur, der die Wahlen eröffnet hatte, und wie ehemals dem bisherigen Gouvernements-Adelsmarschall Snetkow, als dieser gewählt worden war.
1 (frz.) dick befreundet.
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»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.
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