7

[28] Ins Haus kam Ljewin erst zurück, als jemand zu ihm geschickt wurde, ihn zum Abendessen zu rufen. Auf der Treppe standen Kitty und Agafja Michailowna und berieten über die Weine, die beim Abendessen auf den Tisch kommen sollten.

»Wozu macht ihr denn soviel Aufhebens? Setzt ihnen doch unseren gewöhnlichen Tischwein vor.«

»Nein, den mag Stiwa nicht ... Warte doch, Konstantin, was hast du denn eigentlich?« rief ihm Kitty zu, während sie ihm nacheilte; aber er ging erbarmungslos, ohne auf sie zu warten, mit großen Schritten in das Speisezimmer und beteiligte sich dort sofort an der lebhaften allgemeinen Unterhaltung, bei der Wasenka Weslowski und Stepan Arkadjewitsch besonders hervortraten.[28]

»Nun, wie ist's? Wollen wir morgen auf die Jagd fahren?« fragte Stepan Arkadjewitsch.

»Ach ja, tun wir das!« erwiderte Weslowski. Er setzte sich, seinen Platz wechselnd, auf einen andern Stuhl, aber seitwärts und so, daß er das eine seiner fetten Beine unter den Leib schob.

»Es wird mir ein großes Vergnügen sein. Fahren wir also! Haben Sie in diesem Jahre schon gejagt?« sagte Ljewin zu Weslowski, während er dessen Bein aufmerksam betrachtete; er sprach mit jener gemachten Freundlichkeit, die Kitty so genau an ihm kannte und die ihm so schlecht stand. »Ob wir Schnepfen finden werden, weiß ich nicht; aber Bekassinen sind viele da. Nur müssen wir recht früh fahren. Werden Sie auch nicht müde sein? Bist du sehr müde geworden, Stiwa?«

»Ich müde? Ich bin noch niemals müde geworden. Meinetwegen können wir die ganze Nacht aufbleiben! Wollen noch ein bißchen spazierengehen!«

»Im Ernst, bleiben wir die Nacht über auf! Famos!« stimmte ihm Weslowski bei.

»Oh, davon sind wir überzeugt, daß du eine Nacht durchmachen kannst und auch andere Leute dazu verleitest«, sagte Dolly zu ihrem Mann in jenem Tone leisen Spottes, in dem sie jetzt fast immer mit ihm verkehrte. »Aber meiner Ansicht nach ist es jetzt schon Zeit, schlafen zu gehen ... Ich gehe; Abendbrot möchte ich heute nicht essen.«

»Aber nein, bleib doch noch ein Weilchen sitzen, liebste Dolly«, bat Stepan Arkadjewitsch und ging um den großen Tisch, an dem gegessen wurde, herum zu ihr. »Ich möchte dir noch so vieles erzählen.«

»Es wird wohl nichts Besonderes sein.«

»Weißt du denn, daß Weslowski bei Anna gewesen ist? Und er wird bald wieder zu ihnen hinfahren. Sie wohnen ja nur siebzig Werst von euch entfernt. Und ich will unter allen Umständen auch einmal hin. Weslowski, komm doch mal her!«

Wasenka kam zu den Damen heran und setzte sich neben Kitty.

»Ach, bitte, erzählen Sie doch; Sie sind bei ihr gewesen? Wie geht es ihr?« wandte sich Darja Alexandrowna zu ihm.

Ljewin blieb am andern Ende des Tisches und sah, während er sein Gespräch mit der Fürstin und Warjenka ohne Unterbrechung fortsetzte, daß zwischen Stepan Arkadjewitsch, Dolly, Kitty und Weslowski sich ein lebhaftes, geheimnisvolles Gespräch entwickelte. Und nicht genug damit, daß dort ein solches geheimnisvolles Gespräch geführt wurde, er sah auch auf dem Gesicht seiner Frau den Ausdruck einer unverstellten[29] Empfindung, als sie mit unverwandten Augen in das hübsche Gesicht dieses Wasenka blickte, der sehr lebhaft irgend etwas erzählte.

»Es geht sehr nett bei ihnen zu«, berichtete Wasenka über Wronski und Anna. »Ich maße mir selbstverständlich kein Urteil über die beiden an; aber man fühlt sich in ihrem Hause wie in einer Familie.«

»Was beabsichtigen sie denn demnächst zu tun?«

»Es scheint, daß sie für den Winter nach Moskau ziehen wollen.«

»Wie hübsch wäre es, wenn wir alle zusammen zu ihnen führen! Wann willst du denn fahren?« fragte Stepan Arkadjewitsch seinen jungen Freund.

»Ich will den Juli bei ihnen verleben.«

»Nun, und du? Fährst du auch mit?« wandte sich Stepan Arkadjewitsch an seine Frau.

»Ich habe es schon lange tun wollen und werde jedenfalls einmal hinfahren«, antwortete Dolly. »Sie tut mir gar zu leid, und ich kenne sie genau. Sie ist eine ganz prächtige Frau. Ich will allein hinfahren, wenn du wieder weg bist; dann braucht sich niemand um meinetwillen beschämt zu fühlen. Es ist sogar besser, wenn ich ohne dich dort bin.«

»Schön, schön«, versetzte Stepan Arkadjewitsch. »Und du, Kitty?«

»Ich? Weshalb sollte ich hinfahren?« erwiderte Kitty, wurde blutrot und sah sich nach ihrem Mann um.

»Sind Sie auch mit Anna Arkadjewna bekannt?« fragte Weslowski sie. »Sie ist eine höchst anziehende Frau.«

»Ja«, antwortete sie, noch tiefer errötend, stand auf und ging zu ihrem Manne.

»Also du fährst morgen auf die Jagd?« fragte sie ihn.

Seine Eifersucht hatte in diesen wenigen Minuten, namentlich wegen der Röte, die ihre Wangen während ihres Gespräches mit Weslowski überzogen hatte, schon einen hohen Grad erreicht. Als er jetzt ihre Frage hörte, faßte er sie schon auf seine besondere Weise auf. Wie wunderlich es ihm auch später bei der Erinnerung vorkam, aber in diesem Augenblick schien es ihm ganz klar, wenn sie ihn frage, ob er auf die Jagd fahren werde, so beschäftige sie das nur deshalb, weil sie gern wissen möchte, ob er dem netten Wasenka Weslowski, in den sie sich seiner Meinung nach bereits verliebt hatte, dieses Vergnügen bereiten werde.

»Ja, ich fahre auf die Jagd«, antwortete er in einem gezwungenen Ton, der ihm selbst widerwärtig klang.[30]

»Bleibt doch lieber morgen noch hier; sonst hat ja Dolly ihren Mann vorher gar nicht recht zu sehen bekommen. Ihr könnt ja übermorgen fahren«, meinte Kitty.

Ljewin war jetzt schon so weit gekommen, daß er sich Kittys Worte auf folgende Art auslegte: ›Trenne mich nicht von ihm! Ob du fortfährst oder nicht, ist mir gleichgültig; aber gib mir die Möglichkeit, die Gesellschaft dieses reizenden jungen Mannes zu genießen.‹

»Gewiß, gewiß, wenn du es wünschst, bleiben wir morgen hier«, antwortete Ljewin mit besonderer Freundlichkeit.

Unterdessen war Wasenka, ohne das geringste von den Leiden zu ahnen, die seine Anwesenheit verursachte, nach Kitty gleichfalls vom Tische aufgestanden und ging hinter ihr her, wobei er sie mit einem lächelnden, freundlichen Blick betrachtete.

Ljewin sah diesen Blick. Er wurde ganz blaß und konnte eine Weile nicht Atem holen. ›Wie kann dieser Mensch es sich erlauben, meine Frau so anzusehen!‹ dachte er, während es in ihm kochte.

»Also morgen? Ach ja, fahren wir!« sagte Wasenka, setzte sich auf einen Stuhl und schlug nach seiner Gewohnheit wieder das eine Bein unter.

Ljewins Eifersucht wuchs immer mehr. Schon sah er sich als betrogener Ehemann, den die Frau und ihr Liebhaber nur dazu nötig hatten, daß er ihnen die Bequemlichkeiten und Vergnügungen des Lebens beschaffte ... Aber trotzdem befragte er Wasenka in liebenswürdiger, gastfreundlicher Weise nach seinen Jagden, nach seiner Flinte, nach seinen Stiefeln und erklärte sich damit einverstanden, morgen zu fahren.

Zu Ljewins Glück machte die alte Fürstin seinen Leiden dadurch ein Ende, daß sie selbst aufstand und auch ihrer Tochter Kitty riet, nun schlafen zu gehen. Aber auch dabei ging es nicht ohne eine neue Qual für Ljewin ab. Als Wasenka der Hausfrau gute Nacht sagte, wollte er wieder die Hand küssen; aber Kitty zog sie errötend weg und sagte mit naiver Unhöflichkeit, für die sie nachher von der Mutter gescholten wurde:

»Das ist bei uns nicht üblich.«

In Ljewins Augen hatte sie schon einen Fehler begangen, weil sie ein derartiges Benehmen überhaupt hatte aufkommen lassen, und einen noch größeren, weil sie in so ungeschickter Weise zeigte, daß ihr dieses Benehmen nicht gefiel.

»Aber wie kann man überhaupt jetzt schlafen gehen!« meinte Stepan Arkadjewitsch, der beim Abendessen einige Gläser Wein getrunken hatte und dadurch in seine vergnügteste, poetischste Stimmung gelangt war. »Sieh mal, Kitty«, sagte er und wies auf[31] den Mond, der hinter den Linden heraufkam, »wie wunderhübsch! Weslowski, das wäre so die richtige Zeit für eine Serenade. Weißt du, er hat eine prächtige Stimme. Er und ich, wir haben unterwegs in einem fort gesungen. Er hat ein paar sehr schöne, neue Lieder mitgebracht. Die sollte er einmal mit Warwara Andrejewna zusammen singen.«

Nachdem alle sich auf ihr Zimmer zurückgezogen hatten, ging Stepan Arkadjewitsch noch lange mit Weslowski in der Allee auf und ab, und man hörte sie eines der neuen Lieder singen.

Auch Ljewin hörte ihre Stimmen, als er mit gerunzelter Stirn im Schlafzimmer seiner Frau auf einem Sessel saß und auf all ihre Fragen, was denn eigentlich mit ihm sei, hartnäckig schwieg; aber als sie ihn schließlich selbst mit einem zaghaften Lächeln fragte: »Hat dir vielleicht an Weslowski etwas mißfallen?« da brach bei ihm der Damm, und er sagte ihr alles frei heraus; durch die eigenen Ausdrücke, deren er sich bediente, fühlte er sich beleidigt und geriet so in immer größere Wut.

Er stand vor ihr mit finster zusammengezogenen Brauen, unter denen die Augen schrecklich hervorfunkelten, und preßte die starken Hände gegen seine Brust, als müßte er alle seine Kräfte anstrengen, um sich zurückzuhalten. Der Ausdruck seines Gesichtes wäre hart, ja grausam gewesen, wenn er nicht zugleich auch hätte eine innere Qual erkennen lassen, von der sich Kitty gerührt fühlte. Seine Kinnbacken bebten, und die Stimme gehorchte ihm nicht.

»Du kannst dir wohl selbst sagen, daß ich nicht eifersüchtig bin; das ist ein ekelhaftes Wort. Ich kann nicht eifersüchtig sein und glauben, daß ... Ich kann mein Gefühl nicht ausdrücken, aber es ist ein furchtbares Gefühl ... Ich bin nicht eifersüchtig; aber ich fühle mich gekränkt, beleidigt dadurch, daß jemand zu denken wagt ... daß jemand dich mit solchen Blicken anzusehen wagt ...«

»Mit welchen Blicken denn?« fragte Kitty und bemühte sich mit größtmöglicher Gewissenhaftigkeit, sich alle Reden und Gesten des heutigen Abends mit allen ihren Besonderheiten ins Gedächtnis zurückzurufen.

Im Grunde ihres Herzens hatte sie die Empfindung, etwas Auffälliges sei vor allem an der Art zu finden gewesen, wie er ihr nach dem andern Ende des Tisches nachgegangen sei; aber das wagte sie nicht einmal sich selbst einzugestehen, und noch viel weniger hätte sie sich entschließen können, es ihm zu sagen und seine Qualen dadurch zu vergrößern.

»Was kann denn aber an mir Anziehendes sein, so wie ich jetzt aussehe? ...«[32]

»Oh!« rief er und griff sich an den Kopf. »Das hättest du nicht sagen sollen! ... Also wenn du anziehend wärest ...«

»Nein, nein, Konstantin, warte doch, höre doch nur!« sagte sie und sah ihn mit tieftraurigem, mitleidsvollem Ausdruck an. »Wie kannst du denn so etwas denken? Wo doch für mich andere Menschen gar nicht da sind, gar nicht bestehen! ... Willst du, daß ich überhaupt mit keinem Menschen mehr zusammenkommen soll?«

Im ersten Augenblick hatte seine Eifersucht sie gekränkt; sie hatte sich darüber geärgert, daß ihr auch die kleinste, harmloseste Zerstreuung verboten sein sollte. Aber jetzt hätte sie gern nicht nur solche Kleinigkeiten, sondern alles, alles zum Opfer gebracht, um ihn zu beruhigen und von den Qualen, die er litt, zu befreien.

»Stell dir nur einmal vor, wie schrecklich und zugleich wie lächerlich meine Lage ist«, fuhr er verzweifelt mit flüsternder Stimme fort. »Er ist Gast in meinem Hause, und er hat nichts Unanständiges im eigentlichen Sinne des Wortes getan, abgesehen von seinem ganzen freien Benehmen und davon, daß er immer auf dem untergeschlagenen Bein sitzt. Er ist der Ansicht, daß das durchaus guter Ton ist, und darum ist es meine Schuldigkeit, gegen ihn liebenswürdig zu sein.«

»Aber Konstantin, du übertreibst«, erwiderte Kitty, die sich im Grunde ihres Herzens über die Stärke der Liebe freute, die jetzt in seiner Eifersucht zum Ausdruck kam.

»Das Allerschrecklichste ist, daß du die gleiche bist, die du immer warst, und jetzt, wo du für mich ein solches Heiligtum bist, wo wir so glücklich, so ganz besonders glücklich waren, da muß auf einmal dieser elende Patron ... Nein, das will ich nicht sagen; wozu schimpfe ich auf ihn? Ich habe ihm ja eigentlich nichts vorzuwerfen. Aber warum soll mein und dein Glück ...«

»Weißt du, ich glaube zu verstehen, woher das alles gekommen ist«, begann Kitty.

»Nun woher? Woher?«

»Ich sah, wie du auf uns blicktest, als wir beim Abendessen miteinander sprachen.«

»Jawohl, jawohl!« erwiderte Ljewin voller Angst.

Und nun erzählte sie ihm, wovon sie gesprochen hatten. Während sie redete, konnte sie kaum atmen vor Erregung. Ljewin schwieg einen Augenblick; dann blickte er ihr in das blasse, angstvolle Gesicht und griff sich an den Kopf.

»Katja, ich habe dir Qualen bereitet! Liebste, Beste, verzeih mir! Es war Wahnsinn von mir! Katja, ich allein bin der Schuldige. Wie habe ich mich nur um einer solchen Dummheit willen so quälen können!«[33]

»Ach, du tust mir so leid!«

»Ich tue dir leid? Ich? Was habe ich Wahnsinniger getan? ... Wofür bin ich dir böse gewesen? Ein entsetzlicher Gedanke, daß jeder fremde Mensch unser Glück zerstören kann.«

»Gewiß, das ist eben das Schmerzliche ...«

»Aber nun will ich ihn ganz im Gegenteil absichtlich den ganzen Sommer über bei uns behalten und mich ihm gegenüber in Liebenswürdigkeiten überbieten«, sagte Ljewin und küßte Kittys Hände. »Das sollst du sehen. Morgen schon. Ja, richtig, morgen fahren wir ja auf die Jagd.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 28-34.
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