[213] »Und nun habe ich da noch eine Angelegenheit; du weißt schon, worum es sich handelt ... um Anna«, sagte Stepan Arkadjewitsch, nachdem er ein Weilchen geschwiegen und diese unangenehme Erinnerung von sich abgeschüttelt hatte.
Kaum hatte Oblonski Annas Namen ausgesprochen, als Alexei Alexandrowitschs Gesicht sich vollständig veränderte: an die Stelle der bisherigen Lebhaftigkeit trat ein Ausdruck der Ermüdung und eine leichenartige Starrheit.
»Was wünschen Sie eigentlich von mir?« fragte er, indem er sich auf dem Sessel hin und her drehte und seinen Klemmer zusammenlegte.
»Eine Entscheidung, irgendeine Entscheidung, Alexei Alexandrowitsch. Ich wende mich jetzt an dich« (Stepan Arkadjewitsch hatte eigentlich fortfahren wollen: »nicht als den beleidigten Gatten«, aber da er befürchtete, dadurch die ganze Sache zu verderben, so ersetzte er dies durch eine andere Wendung), »nicht in deiner Eigenschaft als Staatsmann« (was gar nicht hinpaßte), »sondern einfach in deiner Eigenschaft als Mensch und als guter Mensch und als Christ. Du mußt Mitleid mit ihr haben.«
»Was soll das heißen? Inwiefern denn eigentlich?« fragte Karenin leise.
»Ja, du mußt Mitleid mit ihr haben. Wenn du sie gesehen hättest, wie ich sie gesehen habe (ich habe den ganzen Winter mit ihr zusammen verlebt), so würdest du dich ihrer erbarmen. Ihre Lage ist furchtbar, geradezu furchtbar.«
»Ich habe gemeint«, antwortete Alexei Alexandrowitsch mit noch höherer, beinah kreischender Stimme, »Anna Arkadjewna hätte jetzt alles, was sie sich selbst wünschte.«
»Ach, Alexei Alexandrowitsch, wir wollen doch jetzt keine Anklagen erheben, um Gottes willen nicht! Was geschehen ist,[213] ist geschehen, und du weißt ja selbst, was sie wünscht und worauf sie wartet: auf die Scheidung.«
»Ich habe angenommen, Anna Arkadjewna verzichte auf die Scheidung in dem Falle, daß ich von ihr verlange, mir den Sohn zu lassen. In diesem Sinne habe ich seinerzeit geantwortet und meinte, die Sache sei nun abgetan. Ich halte sie für abgetan«, kreischte Alexei Alexandrowitsch.
»Aber um Gottes willen, rege dich doch nicht auf!« sagte Stepan Arkadjewitsch und berührte leise das Knie des Schwagers. »Die Sache ist nicht abgetan. Wenn du mir erlaubst, die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenzustellen, so war der Hergang dieser: als ihr euch trenntet, zeigtest du dich so großmütig, wie es nur menschenmöglich war; du bewilligtest ihr alles: die Freiheit, sogar die Scheidung. Sie hat das dankbar gewürdigt. Nein, nein, bezweifle das nicht, es ist so. Sie hat es wirklich dankbar gewürdigt. In dem Grade, daß sie in jenen ersten Augenblicken, erfüllt von dem Bewußtsein ihrer Schuld dir gegenüber, nicht alles überlegte und nicht alles überlegen konnte. Aber das nüchterne Leben und die Zeit haben ihr bewiesen, daß ihre Lage qualvoll und unerträglich ist.«
»Anna Arkadjewnas Leben kann für mich kein Interesse haben«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog.
»Gestatte mir, das zu bezweifeln«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch mit sanfter Stimme. »Ihre Lage ist für sie qualvoll und bringt dabei keinem anderen den geringsten Vorteil. Du wirst sagen: sie hat das verdient. Sie weiß es, und darum wendet sie sich nicht selbst als Bittende an dich; sie spricht es geradezu aus, daß sie nicht wagt, dich um etwas zu bitten. Aber ich und wir alle, die wir mit ihr verwandt sind und sie lieben, wir bitten dich, wir flehen dich an. Wozu soll sie so schwer leiden? Wer hat davon einen Vorteil?«
»Erlauben Sie, es scheint, daß Sie mich in die Rolle des Angeklagten drängen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
»Aber nein, nein doch, durchaus nicht, verstehe mich nur recht«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und berührte wieder die Hand seines Schwagers, als ob er überzeugt wäre, daß diese Berührung ihn besänftigen müsse. »Ich sage nur das eine: ihre Lage ist qualvoll, und du kannst sie ihr erleichtern, und du verlierst nichts dabei. Ich werde dir alles so einrichten, daß du gar nichts davon merkst. Du hast es ja doch auch versprochen.«
»Dieses Versprechen hatte ich vorher gegeben. Und ich nahm nun an, daß durch den Punkt wegen des Sohnes die Sache entschieden sei. Und außerdem hoffte ich, Anna Arkadjewna würde[214] soviel Großmut besitzen ...« Alexei Alexandrowitsch, der ganz blaß geworden war, brachte das nur unter großer Anstrengung mit bebenden Lippen hervor.
»Sie stellt alles deiner Großmut anheim. Nur um das eine bittet sie dich flehentlich, sie aus der unerträglichen Lage, in der sie sich jetzt befindet, zu erlösen. Um den Sohn bittet sie nicht mehr. Alexei Alexandrowitsch, du bist ja doch ein guter Mensch. Versetze dich einen Augenblick in ihre Lage. Die Frage der Scheidung ist für sie bei ihrer jetzigen Lage eine Frage, die über Leben und Tod entscheidet. Hättest du früher nicht versprochen, ihr die Scheidung zu gewähren, so hätte sie sich in ihre Lage gefunden und wäre auf dem Lande wohnen geblieben. Aber du hattest dieses Versprechen gegeben, und nun schrieb sie an dich und siedelte nach Moskau über. Und da lebt sie nun in Moskau, wo jedes Zusammentreffen mit früheren Bekannten ihr einen Messerstich ins Herz versetzt, schon sechs Monate und wartet von einem Tage zum anderen auf die Entscheidung. Das ist ja ganz dasselbe, wie wenn man einen zum Tode Verurteilten monatelang mit der Schlinge um den Hals in Gewahrsam hielte und ihn bald den Tod, bald die Begnadigung erwarten ließe. Habe Mitleid mit ihr, und dann will ich es übernehmen, alles so einzurichten ... Vos scrupules1 ...«
»Davon spreche ich nicht«, unterbrach ihn Alexei Alexandrowitsch voll Widerwillen. »Aber vielleicht habe ich etwas versprochen, was ich nicht berechtigt war zu versprechen.«
»Also willst du dein Versprechen zurücknehmen?«
»Ich habe mich nie geweigert, ein Versprechen zu erfüllen, sofern es möglich war; aber ich möchte Zeit haben, um zu überlegen, wieweit die Erfüllung dieses Versprechens möglich ist.«
»Nein, Alexei Alexandrowitsch«, rief Oblonski aufspringend, »das will ich nicht glauben! Sie ist so tief unglücklich, wie es eine Frau überhaupt sein kann, und du kannst ihr eine solche Bitte nicht abschlagen.«
»Soweit die Erfüllung meines Versprechens möglich ist. Vous professez d'être un libre penseur.2 Aber ich als gläubiger Mensch kann in einer so wichtigen Sache nicht gegen das christliche Gebot handeln.«
»Aber in der Christenheit und auch bei uns, soviel ich weiß, ist doch die Scheidung gestattet«, antwortete Stepan Arkadjewitsch. »Auch unsere Kirche gestattet die Scheidung. Und wir sehen ...«
»Gestattet ist sie; aber nicht in diesem Sinne.«
»Alexei Alexandrowitsch, ich erkenne dich gar nicht wieder«, begann Oblonski nach einer kurzen Pause von neuem. »Hast[215] du denn nicht (wir haben dich ja doch deswegen dankbar bewundert) alles verziehen, und warst du nicht, gerade von deinem christlichen Gefühle getrieben, bereit, jedes Opfer zu bringen? Du hast ja selbst gesagt, du wolltest auch den Rock hingeben, wenn man dir den Mantel nehme, und nun ...«
»Ich bitte Sie«, sagte Alexei Alexandrowitsch, plötzlich aufstehend, mit zitternder Kinnlade und dünner, pfeifender Stimme, »ich bitte Sie, dieses Gespräch ... dieses Gespräch abzubrechen.«
»Oh, oh! Nun, verzeih mir, verzeih mir, wenn ich dir weh getan habe«, antwortete Stepan Arkadjewitsch mit einem verlegenen Lächeln und streckte ihm die Hand hin. »Aber ich habe doch nur als Abgesandter meinen Auftrag ausgerichtet.«
Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, dachte ein Weilchen nach und sagte dann:
»Ich muß es überlegen und nach einem Zeichen suchen. Übermorgen werde ich Ihnen meine endgültige Antwort geben«, fügte er hinzu; es schien ihm ein Gedanke gekommen zu sein.
1 (frz.) Ihre Bedenken.
2 (frz.) Sie bekennen offen, ein Freidenker zu sein.
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro