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[219] Stepan Arkadjewitsch verbrachte in Petersburg, wie bei früheren Aufenthalten, so auch diesmal seine Zeit keineswegs müßig. Einerseits nahmen ihn seine geschäftlichen Angelegenheiten in Anspruch, das heißt die Scheidung seiner Schwester und die Bemühung um eine Stelle für sich; außerdem aber fühlte er, wie bei früheren Aufenthalten in Petersburg, das Bedürfnis, sich, wie er sagte, nach dem stockenden Moskauer Leben wieder aufzufrischen.

Moskau war trotz seiner cafés chantants1 und seiner Omnibusse doch eigentlich nur ein stehender Sumpf. Diese Empfindung hatte Stepan Arkadjewitsch stets. Wenn er eine Weile in Moskau und namentlich im Kreise seiner Familie gelebt hatte, so fühlte er, daß sein Lebensmut zu sinken anfing; und wenn er lange, ohne einmal fortzureisen, in dieser Stadt gelebt hatte, dann kam es so weit, daß er sich über die Verstimmungen und Vorwürfe seiner Frau, über die Gesundheit und Erziehung der[219] Kinder und über kleine dienstliche Angelegenheiten zu beunruhigen begann; sogar über seine Schulden machte er sich dann Gedanken. Aber er brauchte nur nach Petersburg zu kommen und dort ein Weilchen in seinem Umgangskreise zu verkehren, wo man lebte, wirklich lebte und nicht nur vegetierte wie in Moskau, so waren alle diese trüben Gedanken verschwunden und wie Wachs am Feuer dahingeschmolzen.

Seine Frau? ... Erst heute hatte er ein Gespräch mit dem Fürsten Tschetschenski gehabt. Dieser Fürst hatte Frau und Kinder, erwachsene Söhne im Pagenkorps; aber daneben hatte er noch eine uneheliche Frau und auch von dieser mehrere Kinder. Und obgleich auch die erste Familie ganz nett und angenehm war, so fühlte sich der Fürst Tschetschenski doch in der zweiten Familie glücklicher. Er hatte sogar seinen ältesten Sohn in die zweite Familie eingeführt und äußerte sich zu Stepan Arkadjewitsch dahin, er fände, daß das seinem Sohne nützlich und für seine Entwicklung zuträglich sei. Was hätte man wohl dazu in Moskau gesagt?

Die Kinder? ... In Petersburg waren die Kinder den Vätern nicht hinderlich, das Leben zu genießen. Die Kinder wurden in Instituten erzogen, und man hatte hier nicht die wunderliche, in Moskau immer mehr um sich greifende Anschauung (Beispiel: Lwow), daß den Kindern alle Annehmlichkeiten des Lebens zukämen und auf das Teil der Eltern nur die Arbeit und die Sorgen fielen. Hier hatte man Verständnis dafür, daß der Mensch verpflichtet sei, für sich selbst zu leben, und zwar so, wie ein gebildeter Mensch eben leben muß.

Der Dienst? ... Der Dienst war hier gleichfalls nicht jene unerbittliche, hoffnungslose Tretmühle, in der man sich in Moskau abarbeitete; hier konnte man an der dienstlichen Tätigkeit Geschmack finden. Eine Begegnung in der Gesellschaft, eine erwiesene Gefälligkeit, ein treffendes Witzwort, die Kunst, allerlei Personen komisch nachzuahmen – das genügte, und man wurde auf einmal befördert, so wie dieser Brjanzew, mit dem Stepan Arkadjewitsch gestern zusammengetroffen war und der jetzt eines der höchsten Ämter bekleidete. Einer derartigen dienstlichen Tätigkeit konnte man Geschmack abgewinnen.

Ganz besonders aber wirkte die Auffassung, die man in Petersburg für Geldsachen hatte, auf Stepan Arkadjewitsch beruhigend. Bartnjanski, der, nach seiner Lebensweise zu urteilen, jährlich mindestens fünfzigtausend Rubel verbrauchte, hatte gestern über diesen Punkt ihm gegenüber eine bemerkenswerte Äußerung getan.[220]

Während sie sich vor dem Mittagessen miteinander unterhielten, hatte Stepan Arkadjewitsch zu Bartnjanski gesagt:

»Du bist ja wohl mit Mordwinski näher bekannt; da könntest du mir einen großen Dienst erweisen, wenn du ihm ein Wörtchen zu meinen Gunsten sagen wolltest. Es ist da eine Stelle, die ich gern haben möchte, eine Stelle als Mitglied der Agentur ...«

»Laß gut sein; das kann ich doch nicht behalten ... Aber wie bist du denn auf den wunderlichen Einfall gekommen, dich an den Eisenbahngeschäften solcher Juden beteiligen zu wollen? ... Man mag sagen, was man will, es bleibt doch immer eine unsaubere Sache.«

Stepan Arkadjewitsch setzte ihm nicht auseinander, daß dies eine hochwichtige Tätigkeit sei; denn dafür hätte Bartnjanski doch kein Verständnis gehabt.

»Ich brauche Geld. Ich weiß nicht, wovon ich leben soll.«

»Aber du lebst ja doch!«

»Das wohl; aber ich habe Schulden.«

»Ach, wirklich? Viel?« fragte Bartnjanski teilnahmsvoll.

»Sehr viel, zwanzigtausend.«

Bartnjanski lachte laut auf.

»O du glücklicher!« sagte er. »Ich habe anderthalb Millionen Schulden und gar kein Vermögen, und wie du siehst, bekomme ich es doch noch fertig, zu leben!«

Und selbst wenn Stepan Arkadjewitsch den Worten Bartnjanskis nicht geglaubt hätte, so bewiesen ihm die Tatsachen, daß dergleichen wirklich möglich war. Schiwachow hatte dreihunderttausend Rubel Schulden und keine Kopeke in seinem Besitze, und doch lebte er, und noch dazu wie! Den Grafen Kriwzow betrachtete alle Welt schon seit langer Zeit als einen toten Mann, und doch hielt er sich zwei Mätressen. Petrowski hatte ein Vermögen von fünf Millionen durchgebracht, und trotzdem lebte er in demselben Stil weiter, bekleidete sogar ein hohes Amt im Finanzministerium und bezog ein Gehalt von zwanzigtausend Rubeln.

Aber außerdem pflegte Petersburg auch in körperlicher Hinsicht wohltätig auf Stepan Arkadjewitsch zu wirken. Es verjüngte ihn geradezu. In Moskau betrachtete er manchmal nachdenklich im Spiegel sein ergrauendes Haar, schlief nach dem Mittagessen, reckte und streckte träge die Glieder, ging langsamen Schrittes und schwer atmend die Treppe hinauf, langweilte sich in Gesellschaft junger Frauen und tanzte nicht auf Bällen. In Petersburg dagegen hatte er immer das Gefühl, als sei er zehn Jahre jünger geworden.[221]

Er erlebte an seiner eigenen Person in Petersburg, was ihm noch gestern der sechzigjährige Fürst Peter Oblonski, der soeben aus dem Auslande zurückgekehrt war, über sich selbst erzählt hatte.

»Wir verstehen hier nicht zu leben«, hatte Peter Oblonski gesagt. »Wirst du es glauben? Ich habe den Sommer in Baden-Baden verlebt und bin mir da wirklich ganz wie ein Jüngling vorgekommen. Sowie ich ein junges Frauenzimmer sah, geriet ich in Aufregung ... Man speist mit Genuß, man trinkt sein Fläschchen Wein, man fühlt sich kräftig und unternehmungslustig. Nun kam ich wieder nach Rußland – ich mußte zu meiner Frau, und noch dazu aufs Land – na, du wirst es gar nicht glauben, nach zwei Wochen zog ich den Schlafrock an und hörte auf, mich zum Essen umzukleiden. Ein Gedanke an junge Weiber kam mir überhaupt nicht mehr in den Kopf. Ich war vollständig ein Greis geworden, und das einzige, was mir übrigblieb, war, für mein Seelenheil zu sorgen. Da reiste ich wieder weg nach Paris – gleich kam ich wieder in Ordnung.«

Stepan Arkadjewitsch empfand genau denselben Unterschied in seinem Befinden wie Peter Oblonski. In Moskau wurde er so matt und mutlos, daß, wenn er lange ununterbrochen dort gelebt hätte, er wirklich am Ende noch dazu gekommen wäre, sich mit der Rettung seiner Seele zu beschäftigen; in Petersburg dagegen fühlte er sich wieder als anständiger Mensch.

Zwischen der Fürstin Betsy Twerskaja und Stepan Arkadjewitsch bestand seit geraumer Zeit ein sehr merkwürdiges Verhältnis. Stepan Arkadjewitsch machte ihr immer in scherzhafter Weise den Hof und sagte ihr, gleichfalls in scherzhafter Weise, die unanständigsten Dinge, woran sie, wie er wußte, ganz besonderen Geschmack fand. Als Stepan Arkadjewitsch am Tage nach seinem Gespräche mit Karenin ihr einen Besuch machte, fühlte er sich in hervorragendem Maße jugendlich und verstieg sich infolgedessen in seinem scherzhaften Courschneiden und in seinem gewagten Geschwätze dermaßen, daß er zuletzt nicht mehr wußte, wie er den Rückzug bewerkstelligen sollte, da sie unglücklicherweise gar nicht sein Geschmack, vielmehr ihm geradezu zuwider war. Daß dieser Ton zwischen ihnen üblich geworden war, kam nur daher, daß sie selbst daran außerordentliches Gefallen fand. So war er denn heilfroh, als die Ankunft der Fürstin Mjachkaja ihrem Zwiegespräch ein Ende machte.

»Ah, sind Sie auch da?« sagte sie, als sie ihn erblickte. »Nun, wie geht es Ihrer armen Schwester? Sie brauchen mich gar nicht so anzusehen«, fügte sie hinzu. »Seitdem alle über sie hergefallen[222] sind, alle die Menschen, die tausendmal schlechter sind als sie, seitdem finde ich, daß sie ganz recht gehandelt hat. Ich kann es Wronski nicht verzeihen, daß er mich nicht benachrichtigte, als sie in Petersburg war. Ich hätte sie besucht und sie überallhin mitgenommen. Bitte, bestellen Sie ihr meine herzlichsten Grüße. Und nun erzählen Sie mir von ihr ein bißchen.«

»Ja, sie befindet sich in einer schwierigen Lage; sie ...«, begann Stepan Arkadjewitsch, der in seiner Harmlosigkeit die Worte der Fürstin Mjachkaja: »Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester«, für bare Münze nahm. Aber nach ihrer Gewohnheit unterbrach ihn die Fürstin Mjachkaja sofort und fing selbst zu reden an.

»Sie hat getan, was außer mir alle tun, aber verheimlichen; sie aber wollte nicht heucheln, und daran hat sie recht gehandelt. Und noch mehr ist es zu billigen, daß sie Ihrem halbverrückten Schwager davongegangen ist. Sie werden mir das nicht übelnehmen. Alle Leute haben immer gesagt, er wäre ein kluger, kluger Mann; nur ich habe stets gesagt: er ist dumm. Jetzt, wo er sich mit Lydia Iwanowna und mit diesem Menschen, dem Landau, eingelassen hat, sagen sie es alle, daß er halb verrückt ist, und so sehr ich mich sonst freue, anderer Meinung zu sein als alle, so ist es mir doch diesmal nicht möglich.«

»Aber erklären Sie mir, bitte, was das zu bedeuten hat«, sagte Stepan Arkadjewitsch. »Gestern war ich in der Angelegenheit meiner Schwester bei ihm und bat ihn um eine entscheidende Antwort. Aber er gab sie mir nicht, sondern sagte, er wolle es sich überlegen, und heute erhielt ich nun statt einer Antwort eine Einladung für den heutigen Abend zu der Gräfin Lydia Iwanowna.«

»Na, da haben wir's, da haben wir's!« rief die Fürstin Mjachkaja frohlockend. »Sie wollen Landau fragen, was der dazu sagt.«

»Was heißt das: Landau fragen? Wozu? Wer ist dieser Landau?«

»Wie? Sie kennen Jules Landau nicht? Le fameux Jules Landau, le clairvoyant?2 Er ist gleichfalls halb verrückt; aber von dem hängt nun das Schicksal Ihrer Schwester ab. Sehen Sie, das kommt davon, wenn man in der Provinz lebt; Sie wissen ja von gar nichts. Also dieser Landau war Verkäufer in einem Ladengeschäft in Paris und wollte einmal einen Arzt befragen. In dem Wartezimmer bei dem Arzte schlief er ein und begann im Schlafe allen Patienten Ratschläge zu erteilen, höchst verwunderliche Ratschläge. Dann hörte Frau Meledinskaja (Sie wissen wohl: die Frau von Jegor Meledinski, dem Kranken), die hörte von diesem Landau und ließ ihn zu ihrem Manne kommen.[223] Er unternahm es nun, ihn zu heilen. Meiner Ansicht nach hat er ihm nicht den geringsten Nutzen gebracht; denn er ist noch gerade ebenso gelähmt wie vorher; aber sie glauben an ihn und schleppen ihn überallhin mit sich. Auch nach Rußland haben sie ihn mitgebracht. Hier hatte er nun gewaltigen Zulauf, und er nahm Unzählige in seine Behandlung. Die Gräfin Bessubowa ist von ihm geheilt worden und hat ihn so in ihr Herz geschlossen, daß sie ihn als Sohn angenommen hat.«

»Wie ist das zu verstehen: als Sohn angenommen?«

»Ganz einfach, sie hat ihn eben adoptiert. Er ist jetzt nicht mehr Herr Landau, sondern Graf Bessubow. Aber darum handelt es sich augenblicklich nicht; ich wollte sagen: Lydia (die ich sehr gern habe; aber sie ist nicht ganz richtig im Kopfe) hat sich selbstverständlich nun auch in den Bann dieses Landau begeben, und ohne seine Mitwirkung trifft weder sie noch Alexei Alexandrowitsch irgendeine Entscheidung, und darum liegt das Schicksal Ihrer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Grafen Bessubow.«

Fußnoten

1 (frz.) Tingeltangels.


2 (frz.) Den berühmten Jules Landau, den Hellseher?


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Anna Karenina. 3 Bde., Berlin 1957, Band 3, S. 219-224.
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